Ein fliehendes Pferd
Von Maximilian Schäffer
In den USA der 1950er Jahre herrschen Aufstiegsträume und puritanische Sexualmoral. Beten und arbeiten und am besten noch Uncle Sam in Korea dienen. Dann ein Eigenheim mit Elektroherd, ein Auto und zwei Kinder. Ehemann und Ehefrau als strikt getrennter Verband von Lohn- und Herdarbeit. Sie ordnet sich ihm unter, er sich dem Kapital. Geschlafen wird in einem Bett und beschlafen, wenn es der Hausherr so wünscht. Muriel und Julius haben mit diesem Lebensentwurf so ihre Probleme.
Bei Julius ist das ein klassischer Fall: Er sieht super gut aus, wird gespielt von Jacob Elordi, der die exakt gleichen Jungmannposen wie Timothée Chalamet einnehmen darf. Physiognomisch sind beide Schauspieler vom selben Typ Spitzmaus, Elordi allerdings die maskulinere Version, mit fast zwanzig Zentimetern Größenvorteil. So räkelt er sich also in wattierten Bildern auf chromverzierten Karren mit Strohhalm im Mund. James Dean – man kennt das alles – , spätestens Kenneth Anger hat ihn eindeutig schwul gemacht. Nun findet die Muriel (Daisy Edgar-Jones) den Julius ziemlich sexy, aber der hat außer Koketterie und einem leichten Kriegstrauma nicht viel zu geben. Anders sein Bruder. Der stabile Lee (Will Poulter) bietet Muriel ein solides Einkommen und auch keinen schlechten Brustkorb in der Horizontalen.
Sie also, deren Lebensweg millionenfach vorgegeben scheint, will es zumindest versuchen mit dem Mann, der Eigenheim und Kinderwunsch erstrebt. Schnell trifft Muriel in der Neubausiedlung auf die Nachbarin, eine attraktive Frau namens Sandra (Sasha Calle), die in halbgeheimen Buchklubtreffen die Bohème in die Halbwüste entführt. Ein altes Laster holt Muriel ein, das Verlangen nach dem weiblichen Körper. Muriel ist ziemlich lesbisch, muss sie sich selbst schnell eingestehen. In ihr wächst die Erkenntnis, dass mit diesem Leidensdruck kein entspanntes Familienleben zu führen ist.
Einstweilen verirrt sich Julius in den entspannten Irrwegen der irdischen Genüsse. Besonders das Glücksspiel hat es ihm angetan, aber auch die anderen strammen Knaben. In Las Vegas verliebt er sich zum ersten Mal in seinen Arbeitskollegen von der Casinoaufsicht. In schwülen Nachmittagen auf dem Dachboden über den Pokertischen wird es heiß. Selbstverständlich auch fürs Kinopublikum, das bei einer derart attraktiven Besetzung auch ein bisschen Softcore sehen will. Schwule, lesbische und heterosexuelle Bettszenen – da ist wirklich für jeden was dabei.
Auch Muriel spielt auf Gewinn, seit kurzem setzt sie ihr Trinkgeld auf Rennpferde. Die nötigen Insidertips bekommt sie diskret und kostenlos am Tresen des Diners, in dem sie schuftet. Jockeys und Profiwetter plaudern bei Kaffee und Pfannkuchen die heißen Quoten aus. Insgeheim arbeitet Muriel so an einem Exit-Plan. Finanzielle Unabhängigkeit ist schließlich besonders für Frauen in dieser Zeit eine Ausnahme. Als Muriels Bündel von Dollar-Scheinen wächst, nimmt ihr Selbstvertrauen exponentiell zu. Jetzt oder nie: angebumst werden und in Suburbia vergammelt oder eine freie Lesbe sein!
Nun, wozu ein solcher Film im Jahr 2025 seinen Hauptfiguren rät, ist wohl klar. Sexuelle Verwirklichung als Nonplusultra, universale Queerness, polygame Lebensentwürfe und die völlige ideologische Abkehr von der Kernfamilie sind Mainstreamthemen dieser unserer Zeit. Bei all seiner offensichtlich liberalen Agenda, bleibt »On Swift Horses« angenehm unideologisch. Das zeigt sich in den Szenen von Muriel mit Ehemann Lee, der glücklicherweise weder als Reaktionär noch als Unmensch dargestellt wird. Beide sind eben Kinder ihrer Zeit und eigentlich ein gutes Team. Doch es sind die unvereinbaren Träume, die sie spalten, nicht unbedingt eine feindselige Gesellschaft. Szenen von Gewalt und Homophobie gibt es natürlich, aber sie kommen nicht nur von außen. Julius’ Abstieg in Kriminalität und Einsamkeit ist nicht nur Konsequenz einer schwulenfeindlichen Gesellschaft. Der Film erkennt an, dass Freiheit und Einsamkeit sich bedingen, dass Trost und Abenteuer ein Gegensatzpaar sind. Und dass Regisseur Daniel Minahan für diese Zusammenhänge die Allegorie vom fliehenden Pferd zur Hand nimmt, hat zum Glück nichts mit Martin Walser zu tun.
»On Swift Horses«, Regie: Daniel Minahan, USA 2025, 119 Min., bereits angelaufen
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