Den Nazis entgangen
Von Kai Köhler
Im Jahr 1933 gehörten 101 Musiker den Berliner Philharmonikern an. Davon galten vier nach Nazikriterien als Juden. Sie wurden nicht von der ersten Entlassungswelle getroffen, da das Orchester zunächst noch eine private Organisation war und da Wilhelm Furtwängler als sein musikalischer Leiter die hervorragenden Künstler halten wollte. Die Lage wurde prekär, als die Philharmoniker Anfang 1934 »Reichsorchester« wurden und dem antisemitischen »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« unterlagen. Alle vier Musiker retteten sich rechtzeitig ins Ausland und entgingen so der Ermordung.
Heute am bekanntesten ist der Erste Konzertmeister Szymon Goldberg, der 1934 flüchtete, als seine Frau von der Gestapo bedroht wurde. Eine Exilstation waren die Niederlande. Als diese 1940 von Deutschland überfallen wurde, befand sich das Paar auf einer Konzertreise in »Niederländisch-Indien«, heute Indonesien. Die Inseln wurden 1942 von Japan besetzt, und die Verbündeten internierten ab 1943 auf Betreiben Deutschlands jüdische Flüchtlinge. Die Goldbergs überlebten die katastrophalen Bedingungen in verschiedenen Gefängnissen und Lagern. Nach ihrer Befreiung gingen sie in die USA. Als Geiger und Dirigent war Szymon Goldberg in der Nachkriegszeit erfolgreich, mit Arbeitsschwerpunkten in den Niederlanden, den USA, Großbritannien und Israel.
Joseph Schuster emigrierte über Frankreich in die USA, wo er bei den New Yorker Philharmonikern eine Stelle als Solocellist bekam und sich später als Solist etablierte. Zunächst schwerer hatte es sein Kollege Nicolai Graudan, der als Solocellist in Berlin mit reduzierten Konzertverpflichtungen eine privilegierte Stellung gehabt hatte. 1935 floh er nach London, wo er keine Arbeitserlaubnis bekam. Auch in den USA war er zunächst ein Jahr ohne Arbeit, bevor er im Orchester von Minneapolis als Solocellist eine Anstellung fand. Als letzter der vier verließ der Geiger Gilbert Back 1935 die Berliner Philharmoniker. Er überlebte den Krieg als Musiker und Konservatoriumslehrer in Ankara. 1946 siedelte auch er in die USA über, ab 1947 spielte er in der Los Angeles Philharmonic.
Vor den Nazis geflohene Musiker konnten ihre Fähigkeiten im Exil leichter verwerten als an die Sprache gebundene Schriftsteller. Sind dies also beruhigende Erfolgsgeschichten? Ob sich Joseph Schuster um Entschädigung bemüht hat, ließ sich nicht rekonstruieren. Der andere Cellist, Nicolai Graudan, hatte gerade wegen seiner herausgehobenen Stellung Probleme: Er sei – so die Westberliner Argumentation nach dem Krieg – eigentlich gar kein Orchestermitglied gewesen. So erstritt sich Graudan zwar eine Entschädigung für die Zeit seiner, wie es niedlich hieß, »Außerdienststellung«, doch erhielt er keine Pension. Diese immerhin wurde Gilbert Back 1958 zugebilligt.
Back lehnte es ab, nach Berlin zurückzukehren. Szymon Goldberg kämpfte zwölf Jahre um eine Entschädigung. Für die Internierung wurde er mit einer lächerlichen Summe abgespeist. Für eine Wiederaufnahme ins Orchester sollte er – mutmaßlich auf Betreiben des Chefdirigenten, des Ex-NSDAP-Mitglieds Herbert von Karajan – eine Probezeit absolvieren. Das war für einen international anerkannten Musiker natürlich nicht akzeptabel. Im Westdeutschland der 1960er Jahre hatten die Täter Oberwasser. Seit Anfang Mai 2025 erinnern vor der Berliner Philharmonie in der Herbert-von-Karajan-Straße 1 vier Stolpersteine an die Vertriebenen. Hoffentlich erinnert dies an die vergangenen Verbrechen und gerät nicht zur Legitimation des deutschen Staats, als Erinnerungsweltmeister neue Verbrechen zu begehen.
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