Gaza am seidenen Faden
Von David Siegmund-Schultze
Womöglich kommt es bald zu einer Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel. Am Sonntag verkündete die palästinensische Organisation, dass sie offen für die Aufnahme indirekter Verhandlungen mit Israel sei. Sie begrüße »die laufenden Bemühungen Katars und Ägyptens, den von der zionistischen Besatzung gegen unser Volk im Gazastreifen geführten Krieg zu beenden«. Darüber, welchen Charakter die Waffenruhe haben soll, besteht jedoch Uneinigkeit. Die israelische Regierung strebt eine temporäre Pause der Kriegshandlungen an, um nach dem Austausch von Geiseln ihre Kriegsziele weiterverfolgen zu können: die dauerhafte Besetzung des Küstenstreifens und die Vertreibung seiner Bewohner. Die Hamas möchte hingegen das Ende des Krieges und den vollständigen Abzug der israelischen Armee.
In der vergangenen Woche wurden die Vorschläge beider Seiten publik. Laut der Hamas verständigte sie sich am 25. Mai mit Steve Witkoff, US-Sondergesandter für den Nahen Osten, auf einen Entwurf, der unter anderem eine deutliche Zusicherung der USA für eine permanente Waffenruhe beinhaltete. Am 29. Mai stimmte dann Israel einem durch Witkoff vermittelten Vorschlag zu, der keinerlei Garantie dafür enthält, dass es den genozidalen Krieg nach Ablauf der 60tägigen Waffenruhe nicht weiterführt. Zwei Tage darauf antwortete die Hamas mit einem Dokument, das im wesentlichen der Verständigung vom 25. Mai und dem durch Israel gebrochenen Waffenruheabkommen vom Januar gleicht.
Darin enthalten ist auch eine Passage, die besagt, dass die Hamas mit dem Kriegsende die Verwaltung des Gazastreifens übergangsweise an eine Technokratenregierung aus Palästinensern abgebe, die den Wiederaufbau koordiniere, bis es zu Wahlen kommen könne. Bereits seit Monaten äußert die Hamas ihre Bereitschaft, ihre Macht im Gazastreifen aufzugeben. Und im Juli 2024 einigten sich die wesentlichen politischen Fraktionen der Palästinenser, einschließlich der in der Westbank regierenden Fatah und der Hamas, auf eine nationale Einheit, mit dem Ziel, einen palästinensischen Staat im Rahmen der UN-Resolutionen zu schaffen; also der Zweistaatenlösung. In dem nun durch Israel zugestimmten Entwurf war der Abschnitt zur Machtaufgabe jedoch wieder gestrichen. »Netanjahu will im Grunde, dass die Hamas im Gazastreifen an der Macht bleibt, um sie als Vorwand für den Völkermord zu benutzen«, kommentierte der palästinensische Journalist Muhammad Shehada auf X.
Witkoff verurteilte den jüngsten Vorschlag der Hamas umgehend: »Er ist völlig inakzeptabel und wirft uns nur zurück. Die Hamas sollte den von uns vorgelegten Rahmenvorschlag als Grundlage für Annäherungsgespräche akzeptieren, die wir in der kommenden Woche sofort beginnen können.« Laut Hamas-Vertreter Basem Naim sei man dennoch bereit, Verhandlungen anzutreten. Er frage sich aber, warum der israelische Vorschlag als alleinige Basis von Verhandlungen angesehen werde. »Dies verstößt gegen die Integrität und Fairness der Mediation (durch die USA, jW) und stellt eine völlige Voreingenommenheit gegenüber der anderen Seite dar«, sagte er dem Portal Drop Site News.
Unterdessen hat Israels Militärchef Ejal Zamir am Sonntag eine erneute Ausweitung der Offensive in Gaza angeordnet. Das teilte die Armee mit. Am Montag wurden laut Angaben der lokalen Gesundheitsbehörde bis 13 Uhr Ortszeit 38 Menschen getötet. Drei von ihnen wurden demnach an derselben durch Israel eingerichteten Essensausgabestelle in Rafah erschossen, an der am Sonntag mehr als 30 Menschen getötet und 179 verletzt wurden. Ungeachtet zahlreicher Zeugenaussagen und Videoaufnahmen des Massakers bestreitet die Armee jede Verantwortung. In Dschabalija im Norden des Gebiets zerstörten Bulldozer am Montag das einzige Nierendialysezentrum Gazas, wie Videoaufnahmen zeigen. 160 Patienten wurden hier versorgt. Seit Beginn des Krieges seien aufgrund der systematischen Zerstörung des Gesundheitssystems 41 Prozent der Patienten mit Nierenversagen gestorben, teilte das Gesundheitsministerium mit. Wegen Treibstoffmangels stünden außerdem die meisten noch aktiven Krankenhäuser kurz vor dem Zusammenbruch.
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