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Aus: Ausgabe vom 02.06.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte der DDR

Die DDR mögen

Im dritten und letzten Band seiner Erinnerungen schildert Egon Krenz das Jahr 1989 – und seine Erfahrungen seither
Von Arnold Schölzel
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Im Betrieb: Egon Krenz kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär der SED (Berlin, 19.10.1989)

Der dritte Band der Erinnerungen von Egon Krenz mit dem Titel »Verlust und Erwartung« enthält 39 kürzere und längere Abschnitte, ist aber faktisch in zwei Teile gegliedert: Das Jahr 1989 einerseits sowie die Erfahrungen, die Krenz in den folgenden 35 Jahren im politischen und privaten Leben gemacht hat, andererseits: vom Ausschluss aus der SED/PDS Anfang 1990 bis zu seiner Rede auf der jW-Veranstaltung zum 75. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 2024 im Berliner Kino Babylon.

Der Redetext bildet den Schluss des Buches. Überschrieben ist er mit der Leitfrage der Veranstaltung: »Was bleibt?« Krenz zitierte damals aus Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen« die Bitte »Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unserer / Mit Nachsicht«. Die Zeilen könnten auch als Motto über dem letzten Band seiner Erinnerungen stehen. Er enthält Kritisches und Selbstkritisches, nicht wenige bisher unbekannte Details, ist aber vor allem souverän und mit menschlicher Größe geschrieben. Bei der Buchvorstellung am 26. Mai, die ebenfalls im Babylon stattfand, wiederholte Krenz Sätze aus dem Text, die ihm besonders wichtig erschienen: »Nein, es wird ihnen nicht gelingen, die DDR zu einer Fußnote der deutschen Geschichte herabzuwürdigen. Sie ist mindestens ein Kapitel. Und nicht das schlechteste. Man kann mir vorwerfen, ich idealisiere die DDR. Mag sein. Na und?« Ihm sei es wichtig, zu mehr Wahrhaftigkeit zu motivieren, wenn über den ostdeutschen Staat und seine Menschen geurteilt werde.

Das ist unterm eingeschlagenen Kriegskurs weniger zu erwarten denn je. Mobilisierung zu Kriegstüchtigkeit und Anerkennung oder gar Würdigung der Tatsache, dass die DDR keinen Krieg geführt hat, schließen einander aus. Dennoch ging dieser Staat unter und Krenz hat im zweiten Band seiner Erinnerungen dargelegt, wie sich intern und extern jener wirtschaftliche Sprengstoff ansammelte, der schließlich explodierte – sozusagen die objektive Seite. Im nun vorliegenden Band geht es um die subjektive und dabei zunächst zentral darum, ob und wie eine geordnete Machtübergabe an der Spitze der SED hätte ermöglicht werden können.

Bereits auf den ersten Seite zitiert Krenz seinen langjährigen Freund, den Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen im Zentralkomitee, Wolfgang Herger: »Wenn Erich Honecker Altersweisheit besäße, würde er jetzt zurücktreten. Wenn er es auf der nächsten Tagung des ZK nicht macht, werde ich ihn dazu auffordern.« Das war Ende 1988 und Krenz brachte – die Gründe erläutert er – Herger von dem Vorhaben ab. Aber im Februar 1989 machte Gerhard Schürer, Kandidat des Politbüros und Chef der Plankommission, »einen ersten ernsthaften Versuch, mich für einen Sturz Honeckers zu gewinnen«. Krenz zitiert, was Schürer selbst in seinen Erinnerungen dazu schrieb: Im Gespräch sei deutlich geworden, »dass sich Krenz schon länger mit ähnlichen Gedanken beschäftigt hatte«. Und Krenz nennt noch zwei weitere Politiker, den FDJ-Vorsitzenden Eberhard Aurich und den Leiter der Abteilung Jugend im ZK, Gerd Schulz, die ihn am 12. September 1989 im Urlaub aufsuchten und dasselbe Ansinnen hatten.

Am Ende war die Ablösung der Führungsspitze nur »putschartig« möglich – mit allen Unwägbarkeiten, die so etwas mit sich bringt. Krenz: »Die Dringlichkeit eines kontinuierlichen Generationswechsels in der politischen Führung hatte ich unterschätzt. Zu groß war überdies mein Respekt vor Honecker und seinen gleichaltrigen Genossen, die in der Nazizeit widerstanden und in Konzentrationslagern und Kerkern gelitten hatten.« Von den 22 Politbüromitgliedern waren das zehn.

Zu dem Zeitpunkt allerdings sei die nie einkalkulierte Situation eingetreten gewesen, dass die Bevölkerung nicht mehr der Führung folgte. Laut Krenz registrierten Wissenschaftler in Erhebungen zwischen 1983 und 1986 noch ein »Zwischenhoch« an Zustimmung. Er führt das auf das Friedensengagement Honeckers in diesen Jahren zurück. Ab 1987 aber habe »ein bis dahin für die DDR unbekannter Schwund politischer Überzeugungen« begonnen, »den das Politbüro nicht zur Kenntnis nehmen wollte«. Als Ursachen nennt der Autor: Unerfüllte Wünsche nach Honeckers BRD-Besuch 1987, eine »spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen« – leere Regale in Geschäften, längere Wartezeiten auf Pkw. Immer mehr Menschen hätten Ausreiseanträge gestellt.

Das Resultat stellt Krenz in den Rahmen der Leninschen Bestimmung einer revolutionären Situation: »Zwar war die DDR-Führung nicht mehr in der Lage, die Macht in der gewohnten Weise auszuüben, und das Volk seinerseits war nicht mehr bereit, alles hinzunehmen – doch eine Revolution gegen den Sozialismus, nein, das war es nicht. Die Menschen wollten eine andere, eine bessere DDR.« Einzuwenden wäre: Der Boden für das Überlaufen zum Kapitalismus war aber offenbar bereitet.

Der Rest ist rasch wiedergegeben: Krenz war zusammen mit den Spitzen der DDR-Sicherheitsbehörden dafür verantwortlich, dass bei den Demonstrationen im Oktober 1989 insbesondere in Leipzig nicht geschossen wurde. Er überschritt dabei nach seinen Worten die eigenen Kompetenzen, da Honecker noch Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates war. Die Vorbereitung auf dessen Rücktritt am 18. Oktober – kurz danach – schildert der Autor im Rahmen des bisher Bekannten.

Die Verhinderung eines Blutbades wurde der SED-Führung von den Anschlusspolitikern und ihrer willfährigen Justiz nicht gedankt, das Gegenteil war der Fall. Was Krenz über die eigene polizeiliche und juristische Verfolgung berichtet, ist eine Skandalchronik, die nur eine Schlussfolgerung zulässt: Der siegreiche Staat hat nie verziehen, dass der Umschwung in der DDR unblutig verlief. Zehn Jahre nach 1989 war man wieder beim Bombardieren von Belgrad dabei. Das allein sollte reichen, um die BRD nicht zu mögen. Gründe, die DDR zu mögen, nennt Krenz zur Genüge.

Egon Krenz: Verlust und Erwartung. Erinnerungen. Edition Ost, Berlin 2025, 349 Seiten, 26 Euro

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (2. Juni 2025 um 10:05 Uhr)
    Egon Krenz war und bleibt für mich – direkt nach Gorbatschow – die zweitgrößte Fehlbesetzung der modernen Geschichte. Beide standen an der Spitze historischer Umbrüche und ließen die Macht nahezu widerstandslos aus ihren Händen gleiten. Krenz übernahm den Vorsitz des Staatsrats zu einem Zeitpunkt, als die DDR bereits lichterloh brannte. Und was hatte er der Bevölkerung in dieser dramatischen Lage zu sagen? Vor laufender Kamera fiel ihm nichts weiter ein als das nichtssagende Mantra: »Arbeiten, arbeiten, arbeiten.« Kein Wort der Hoffnung, keine konkreten Vorschläge zur Beruhigung der Lage, keine Vision. Wie Gorbatschow in der Sowjetunion, so versagte auch Krenz darin, den Kurs zu korrigieren oder das System glaubwürdig zu reformieren. Beide blieben in Momenten größter politischer Verantwortung orientierungslos und führungsschwach – mit verheerenden Folgen. Zwei politische Irrläufer reichten aus, um das gesamte sozialistische Lager an den Abgrund zu führen. So gnadenlos kann Geschichte sein.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (2. Juni 2025 um 07:54 Uhr)
    Das Politbüro hat sich in der Zeit ab 1971 immer weniger für Wirtschaftsfragen interessiert und ist Honecker/Mittag blind gefolgt. Bis zur multiplen Finanz-/Energie-/Reproduktionskrise ab 1980. Kritisch muss man anmerken, dass auch Krenz den Sprengstoff nicht wahrgenommen hat. Man wurstelte sich so durch und war immer mehr angewiesen auf den Klassenfeind und suchte sein Heil in einer immer engeren Zusammenarbeit mit der westdeutschen Wirtschaft, die gute Geschäfte machte. Auf Kosten der Werktätigen in der DDR und auf Kosten der wirtschaftlichen Substanz, die verzehrt wurde. Gleichzeitig löste sich die Zusammenarbeit im RGW langsam auf. Jedes Land suchte sein Heil im Westen. Die massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme in der SU waren der eigentliche Sargnagel. Es hätte eines neuen ambitionierten, an der Realität orientierten, marxistisch fundierten Wirtschafts- und Reproduktionsmodells bedurft und einer stringenten Zusammenarbeit im RGW. Investitionen und Produktivität, Ertrag und Innovationen hätten an vorderster Stelle stehen müssen. Ab 1980 waren die soz. Länder Europas in der Defensive und ohne tragfähige politische und wirtschaftliche Perspektive. Der Klassenfeind hatte leichtes Spiel …
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (1. Juni 2025 um 21:25 Uhr)
    Zu den Gründen der wachsenden Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung Ende der 80er Jahre müsste man hier noch die (enttäuschten) Erwartungen hinzufügen, die bei vor allem jüngeren DDR-Bürgern ab 1986 durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion geweckt worden waren, bezüglich ähnlicher Reformen und Glasnost in der DDR! Hieß es doch zuvor immer wieder: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!« Und nun, wo diese Sowjetunion ein Beispiel gab für Reformen und Demokratie, weigerte sich die Führung in der DDR, diesem Beispiel zu folgen. Deren Botschaft an die Bevölkerung und das Ausland war: »Wir halten den Kurs!« – und wurschteln uns weiter durch. Hätte man in der DDR-Bevölkerung mehr über die tatsächlichen Verhältnisse und die Lebensbedingungen in der UdSSR gewusst, wäre die Begeisterung wohl nicht ganz so groß gewesen. Aber angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in der DDR schien eine Wende dringend geboten.
    • Leserbrief von Joachim Seider aus Greifswald (2. Juni 2025 um 17:39 Uhr)
      Es war ja auch ein zu »leuchtendes« Beispiel, das Gorbatschow gab. Man darf (und muss) diese überaus »erfolgreiche« Politik an ihren ganz realen Folgen messen. Und die lauten nun einmal: das Land verspielt und die Zukunft geopfert. Man war im Westen begeistert von Gorbatschow, weil abzusehen war, wohin seine Politik führen würde. Ihm nicht bedingungslos gefolgt zu sein bei seinem offensichtlichen Verrat am Sozialismus ist nicht unbedingt eine Schande. Eine Schande aber war es, von der Führung der SED, das Problem lediglich aussitzen zu wollen. Ohne mit dem Volk Klartext zu reden, in welcher Gefahr wir alle wirklich schwebten. Als sie dann 1989 Wirklichkeit wurde, waren Volk und Partei heillos damit überfordert, noch rationale Entscheidungen treffen zu können. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«. Wenigstens damit hat Gorbatschow recht gehabt.

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