Auf der Suche nach dem Kanarienvogel
Von F.-B. Habel
Dem glamourösen Festival von Cannes begegnete das 22. Neiße-Filmfestival (NFF) mit »Krawall auf dem Land«. So heißt das Programm, das vom Festival anlässlich der Gründung des Defa-Trickfilmstudios vor 70 Jahren vorgestellt wurde. Der titelgebende Puppenfilm von 1961 um die damaligen Maskottchen der LPG-Tierproduktion »Flora und Jolanthe« (Kuh und Schwein) erntete im ausverkauften Kunstbauerkino in Großhennersdorf Sonderapplaus von Kindern und Eltern. Ein anderer Trickfilm mit einem Eber, »Hurikán« des Tschechen Jan Saska, wurde Sieger im Rennen um den Publikumspreis.
Überhaupt hatte das NFF, das vom 20. bis 25. Mai im Dreiländereck rund 100 Filme in 19 Spielstätten von Zittau bis Bautzen, auch in Polen (u. a. Zgorzelec) und Tschechien (so in Liberec) vorstellte, die Themen Tiere und Landwirtschaft häufiger im Programm – begonnen mit dem von Polen gedrehten Trailer, in dem sich raumfahrende Neiße-Fische am Schluss kopulierend vereinigen.
Aufs Land in ein slowakisches Dorf führte »Von März bis Mai« (Od Marca do Mája), entstanden mit tschechischen Partnern. Regisseur Martin Pavol Repka zeigt eine Familie mit fast erwachsenen Kindern, die damit konfrontiert werden, doch noch ein Geschwisterchen zu bekommen.
Beispielhaft für einen modernen Heimatfilm war der deutsche Wettbewerbsbeitrag »Milch ins Feuer«, Abschlussfilm von Justine Bauer, die in Leipzig und Köln Medienkunst studiert hatte. Sie ging für ihren Film zurück in ihre oberfränkische Heimat und erzählt im hohenlohischen Dialekt von drei Generationen von Bäuerinnen, die einen Einzelhof bewirtschaften. Das Rind Anton spielt ebenso eine Rolle wie ein Alpaka, das kastriert wird, Schnecken, die übers Gesicht streichen, kommen auch vor. Neben den oft liebevollen Beobachtungen von Mensch und Tier spielt die soziale Komponente, das Höfesterben, eine zentrale Rolle. Der Nachbar der Bäuerinnen protestiert gegen das Ausbluten des Bauernstandes, indem er einen Heubrand demonstrativ mit Milch löscht, ehe er sich erhängt.
Schade, dass der Film unberücksichtigt blieb von der Jury, der u. a. die Dresdner »Tatort«-Kommissarin mit polnischen Wurzeln Karin Hanczewski angehörte. Man kürte die Romanadaption »Ungeduld des Herzens« nach Stefan Zweig – nicht nachvollziehbar – gleich doppelt. Der Münchner Regisseur Lauro Cress konnte sich nach Preisen in Saarbrücken und Schwerin über den in Zgorzelec verliehenen Hauptpreis freuen. Eine besondere Überraschung bietet der Film, indem er den beim Militär vor dem Ersten Weltkrieg angesiedelten Stoff geschickt in die Gegenwart mit neuen militärischen Auseinandersetzungen transponiert. Auch der Hauptdarsteller, der Deutsch-Italiener Giulio Brizzi, konnte sich über einen Neiße-Fisch freuen. Er zeige ein »inneres Ringen, das den Film durchdringt«, meinte die Jury. Zweifellos war er »typbesetzt« und machte das Beste daraus.
Eine besondere Erwähnung vergab die Jury an »Nulpen«. Der Film von Sorina Gajewski ist eine Art Gegenstück zu »Milch ins Feuer«. Er handelt von jugendlichen Nichtstuerinnen, die halbherzig in Berlin nach einem Kanarienvogel suchen, den sie entwischen ließen. Auch wenn Kameramann Hannes Schulze einige weniger bekannte Seiten von Berlin ins Bild setzte, haben hier Tiere ihren Auftritt – so neben dem Vogel eine Weinbergschnecke aus Schulzes Garten.
Der kindliche Hauptdarsteller Rio Kirchner wurde von seinem Vater begleitet. Beide sahen sich den Dokumentarfilm »Die Möllner Briefe« von Martina Priessner an, als Rios Vater plötzlich feststellte, dass er indirekt damit zu tun hatte. Er war eines von vielen Kindern wie auch Erwachsenen, die sich 1992 mit fast 1.000 Briefen und Zeichnungen an die Angehörigen der Opfer der Brandanschläge mit den türkischen Familien solidarisch gezeigt hatten. Skandalös ist, dass all die Post an türkische Überlebende von der Stadtverwaltung einbehalten und archiviert wurde, ohne sie den Betroffenen zur Kenntnis zu bringen. Der Film begleitet einige von ihnen, die noch immer unterschwelliger Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt sind.
Im fremden Land zu leben und nicht so ganz dazuzugehören war Thema des polnischen Films »Briefe aus der Wolfstraße« (Listy z Wilczej), der sowohl als bester Dokumentarfilm als auch mit einem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Regisseur Arjun Talwar ist Inder und ging nach Polen, um Film zu studieren. Er erzählt von sich und dem Alltag in seiner Warschauer Straße, schließt Bekanntschaften, nimmt auch Ausländerfeindlichkeit wahr, die ihm um so bewusster wird, je länger er hier lebt.
Das NFF bietet ein breites Spektrum an Filmen, seien es Regionalia oder restaurierte ältere Filme, etwa »Schlesien – Śląsk« von Viola Stephan, der in Zittau als Eröffnungsfilm lief, oder Konrad Wolfs »Der geteilte Himmel« im Zeichen des bevorstehenden 100. Geburtstages des Regisseurs. Und auch, wenn die Besucherzahl erneut stieg und die Notwendigkeit eines solchen Festivals bewies, ist nicht gewiss, ob es Bestand haben wird, denn die sächsische Landesregierung hat drastische Sparmaßnahmen angekündigt, die weder durch Sponsoren noch durch Ehrenamtsarbeit aufgefangen werden können. Kultusminister Conrad Clemens (CDU) war zu Gast und bekannte sich ausdrücklich zum NFF. Sein Wort in Gottes Gehörgang!
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