Über das Weinen
Von Jürgen Roth
Mein Freund Lerd, der Metzgermeister, rief an: »Guter, magst zum Hackbratenessen vorbeikommen?« – »Gerne«, sagte ich, »aber ich brauch’ noch ’ne Stunde. Ich muss einen Text über Clint Eastwood schreiben, der wird fünfundneunzig.«
»Lebt der no’?« replizierte der Lerd. Das ist so eine Frage.
1993 hatte mich meine wunderbare Schwester in Frankfurt besucht. Wir waren in das herrliche Kino in der Schäfergasse gegangen, das neben der Redaktion der Titanic gelegen war – die Nachmittagsvorstellung, »Perfect World« mit Kevin Costner und Eastwood.
Wir waren allein in diesem heimeligen Saal. Costner spielt einen Ausbrecher, der einen kleinen Bub’ kidnappt, Eastwood den Cop. »Keine Tiere und keine Kinder im Film!« hat mal irgendwer dekretiert (Chaplin? Buster Keaton?).
Das stimmt – in diesem Fall aber ausnahmsweise nicht. Costner (den meine Schwägerin verachtet, weshalb bloß?) wird am Ende von einem Scharfschützen erledigt, und der Steppke, der eine Clownsmaske trägt, bricht weinend zusammen. Eastwood verachtet seinen Spießgesellen. Sein Antlitz zeugt nicht nur von unermesslicher schauspielerischer Ausdruckskraft, sondern davon, was man Humanität schimpft.
Die Realperson Clint Eastwood, soweit ich mir das Urteil anzumaßen vermag, und der Mime Clint Eastwood sind für mich spätestens seit »Unforgiven« (1992) eins. Ich konnte schon nicht verstehen, warum Harry Callahan eine faschistische Figur sein sollte (»Dirty Harry« hatte meine Lieblingsserie »Sledge Hammer« zur Folge, also: Hut ab!). Vielleicht ist »American Sniper« (2014) problematisch, was weiß ich. Menschen, die Menschen sind, verirren sich in der Disparität.
Clint Eastwoods Regiearbeit ist legendär. Alle lieben ihn. Tom Hanks erzählt: »Er ist der seriöseste, coolste, unkomplizierteste Mensch auf diesem Planeten.« Er sei »Mount Rushmore«. Wie gerne säße man an einem Tisch in einer Bar und lauschte dem bedächtigen Meister am Piano, dem cineastischen Behutsamkeitsmaestro, der den Jazz verehrt und Charlie Parker mit »Bird« (1988) ein überirdisch zerbrechliches Denkmal gesetzt hat.
Heulen könnte man, dauernd heulen. »Die Brücken am Fluss« (1995) – was für eine Emanation, für ein Zeugnis der unerreichbaren Innigkeit. (Meryl Streep und Eastwood sollen ein Paar gewesen oder geworden sein.) Der Horror des Krieges: das Doublefeature »Letters From Iwo Jima« und »Flags Of Our Fathers« (2006). Die Geschichte über gelingende Aussöhnung, »Invictus« (2009), mit Morgan Freeman als Nelson Mandela. Ich kann lediglich stammeln. Oder »The Mule«, die Sache mit einem im Alter zum Drogenkurier erkiesten Nutzlosen.
Ich stelle mir seit »Million Dollar Baby« (2004) Clint Eastwood immer in Kombination mit dem grandiosen Morgan Freeman vor. Der finale Kampf ist unermesslich schmerzlich. Hilary Swank, sie verkörpert das Mädchen Maggie Fitzgerald aus der Arbeiterklasse, das alle Vorbehalte überwindet und dafür mit seinem Tod bezahlt. Mo Cuishle.
Bereits der Trailer gibt dir den Rest. Dieses Ding zerfetzt dich ob seiner Zartheit. Wie kriegt man so was hin? Nachdem man 1955 in »Die Rache des Ungeheuers« debütiert hatte? Dem beschissensten Lichtbildgedöns aller Zeiten? (Die schöne Frau besitzt die DVD; Gestehungskosten: 40 Euro.)
»Million Dollar Baby« ist eine raffinierte Rekonstruktionskonstruktion und – sorry, Sokolowsky, ich möchte Scorsese nicht schmähen – das perfekte Leinwandepos. »Hart zu sein ist nicht genug« (im Original weitaus besser: »Tough ain’t enough«), darauf laufe eine gelungene Existenz hinaus. »Ich bin nicht dein Boss, und der Sandsack bearbeitet dich.«
Alles andere: Unaussprechlichkeit, Schweigen. Meeresgrundtiefes Mitleid. Liebe, Treue – und Weinen.
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