Das Rote ABC
Von Barbara Eder
Die Neujahrsnummer der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jacob vom 2. Januar 1900 zierte ein strahlend lächelndes, wohlgenährtes Kind. Wie eine barocke Puppe schwebt es hoch über einem wimmelnden Durcheinander aus Militärs, Lehrern und Richtern. Auf deren Köpfen tanzt bereits der Sensenmann. Und doch ruft das Kind, das eine rote Bauchbinde mit der Aufschrift »Sozialismus« trägt, trotzig: »Das neue Jahrhundert gehört uns!«
Dieser Satz ist keine ornamentale Ausschmückung, sondern ein Schlachtruf gegen die Zumutungen der bürgerlichen Pädagogik. Um die Jahrhundertwende gab es bereits erste Ansätze zu Säuglingsschutz und Mütterberatung, zugleich rückte der Nachwuchs ins Zentrum des nationalpolitischen Interesses. Während das bürgerliche Kind zur kriegstüchtigen Charaktermaske mit Steckenpferd und Zinnsoldat herangezogen werden wollte, wuchsen ganze Generation von Minderjährigen unter Schlägen, Schmutz und Schichtarbeit heran. Literatur, die von ihnen handelt, war rar.
Die Ursprünge der proletarischen Kinderliteratur in Deutschland liegen im späten 19. Jahrhundert. In den 1920er Jahren waren es dann vor allem Autorinnen wie Alex Wedding, Berta Lask und Hermynia Zur Mühlen, die Kindern aus der Arbeiter- und Armutsklasse eine Stimme gaben. Ihre Texte handeln nicht von tapferen Eichhörnchen oder verzauberten Gärten, sondern von Streiks, Arbeitslosigkeit, Hunger und Aufbegehren – als literarische Gegenwehr zu einer Pädagogik der Einschüchterung und einem Militarismus in Zöpfen und Zwangsjacken. Arbeit erscheint darin nicht als moralische Pflicht, sondern als Entfremdung vom Kindsein selbst. Realistisch und anklagend wird ein Herrschaftsverhältnis bloßgestellt, mit dem zu leben nicht mehr als überleben heißt – das proletarische Kind wird zum politischen Subjekt.
Anders als bürgerliche Kinderliteratur, die das Kind als zarte Seele mit formbarem Charakter begreift, sah die proletarische es als Mitstreiter an – als fragenden, lernenden und solidarischen Menschen, der eine Welt zu gewinnen hat. Sie war weniger ein Medium der Belehrung als eines der Vermittlung, von proletarischer Selbstvergewisserung ebenso wie von sozialistischen Utopien. Den Weg ins Exil schilderten jene Autoren, die sich am Vorabend des Faschismus oft selbst auf der Flucht befanden, nicht als individuelles Schicksal, sondern als kollektive Erfahrung – geprägt von Verfolgung, Armut und stillem Widerstand. Kinderliteratur, die in fernen Ländern spielt, erzählt so weniger vom Verlust der »Heimat« als von neuen Allianzen in der Fremde. Während der kleine Soldat in der bürgerlichen Kinderbuchwelt zum Helden avancierte, galt er der proletarischen als Opfer von Militarismus und Kriegstreiberei. Ziel war nicht die Vaterlandsverbundenheit, sondern das Ende aller Vaterländer.
Berta Lask und Hermynia Zur Mühlen verbanden in ihrer Literatur für Kinder realistische Ästhetik mit agitatorischem Impuls, die zugrunde liegende Didaktik war alles andere als plump: Die besten dieser Bücher – darunter auch die Erzählung »Steh auf, mein Kind« der nahezu unbekannten Arbeiterschriftstellerin Emma Döltz – vermittelten nicht nur Inhalte, sondern auch ein Bewusstsein für Form, Konflikt und Struktur. In »Ede und Unku«, verfasst von der kaum 26jährigen Grete Weiskopf, die ihr Buch 1931 unter dem Pseudonym Alex Wedding veröffentlichte, begegnen etwa ein Berliner Arbeiterjunge und ein Sinti-Mädchen einander – nicht im Namen der Versöhnung, sondern der gemeinsamen Revolte gegen die Verhältnisse. Zum Lesenlernen geeignet war »Das Rote ABC. Bilderbuch für Arbeiter- und Bauernkinder« von Peter Josef Paffenholz. 1929 in Köln veröffentlicht, verband es Alphabetisierung mit dem Anspruch auf politische Weltaneignung. Jedes Wort ein Keil gegen die Ignoranz, jeder Buchstabe ein Bekenntnis: »A wie Arbeiterklasse-Ausbeuter«, »K wie Kapital-Kommunist-Krieg«, »W wie Wandzeitung« und »Z wie Zörgiebel« – jenem sozialdemokratischen Polizeipräsidenten von Berlin, der das Massaker am Blutmai des Jahres 1929 zu verantworten hatte.
In einer Welt, die Kinder vor allem als kaufkräftige Konsumenten modelliert, bleibt von einer Tradition wie dieser wenig übrig. Der 1985 in der DDR im Kinderbuchverlag-Berlin von Horst Kunze und Heinz Wegehaupt herausgegebene »Spiegel proletarischer Kinder- und Jugendliteratur 1870–1936« bleibt bis heute eines der wichtigsten Kompendien – randvoll mit Geschichten, die die Jüngsten ernst nehmen und mündig machen. Kindheit erscheint darin keineswegs als Schonraum, sondern als Ort des aktiven Widerstands. Erich Mühsams antimilitaristisches Gedicht »Wiegenlied« von 1920, das darin ebenso abgedruckt ist, öffnet diesen Zufluchtsort auch für Erwachsene: »Bist du ein Mann einst, kräftig und groß / Wirst du das Lachen von selber los / Fröhlich bleibt nur, wer krank und schwach.«
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