Zwanzig Jahre Täuschung
Von Niki Uhlmann
An Händen und Füßen gefesselt, ist Oury Jalloh, ein 36jähriger Mann aus Sierra Leone, am 7. Januar 2005, im Gewahrsam der Polizei Dessau verbrannt. Er habe sich selbst angezündet, lautet das offiziöse Narrativ bis heute. Das stellen die Protokolle zweier damaliger Ausschusssitzungen des Landtags von Sachsen-Anhalt in Frage, die der Verein Recherche-Zentrum (RZ) und die Plattform »Frag den Staat« am Mittwoch veröffentlicht haben. Einmal mehr erhärtet sich der Verdacht, den Angehörige, Anwälte und die Gedenkinitiative schon lange hegen und aufgeklärt wissen wollen: dass Jalloh ermordet und der Mord vertuscht wurde.
In den Protokollen kommen zwei Telefonate des hauptverdächtigen Polizisten Andreas S. zum Zeitpunkt des Brands zur Sprache. Diese fanden aber weder in den Ermittlungsakten, noch vor Gericht Berücksichtigung. Die Telefonmitschnitte seien »die einzigen Beweismittel, die eine zeitgenaue Rekonstruktion der letzten halben Stunde vor dem Brandausbruch« zuließen, analysierte RZ am Donnerstag. Statt dessen stützten die Landgerichte Dessau sowie Magdeburg und das Bundesverfassungsgericht, das die Verfahrenseinstellung 2022 bestätigte, ihre Urteile auf eine »unbelegte Aussage« des Beschuldigten.
Andreas S. habe damals erklärt, er habe »wegen ›lauter Rufe und Rasselgeräusche‹ die Lautstärke der Wechselsprechanlage heruntergedreht«. Was genau zu hören war, könnte dem ersten Telefonat entnommen werden, so RZ. Weiter habe S. angegeben, er habe »›telefoniert, als der Alarm kam‹«. Falls er im zweiten Telefonat zu hören sei, »wäre dies ein Beweis dafür«, dass das Feuer »früher als bislang angenommen« ausbrach. Anfang Mai berichtete RZ zudem, dass S. über Jahre hinweg auf Facebook rechte Inhalt geteilt und den deutschen Faschismus verherrlicht habe.
Der damalige Abteilungsleiter der Polizei im Innenministerium, Jörg Martell, hat den Eindruck erweckt, die Telefonate seien nicht aufgezeichnet worden, wie aus den Protokollen hervorgeht. Der 2005 zuständige Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad bezeichnete sie demnach schlichtweg als »nicht relevant«. »Für die Anklageerhebung sei es nicht entscheidend, welchen Inhalt das Gespräch gehabt habe«, wird Curt Becker, damals Justizminister, indirekt wiedergegeben. Behauptet wurde ferner, dass die Mitschnitte dem Gericht vorlägen. Das war gelogen, wie RZ anhand der Ermittlungsakten später nachwies.
»Der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und -wahrheit wurde unterlaufen«, das sei »rechtswidrig«, kommentierte Nebenklagevertreter Felix Isensee gegenüber RZ. Da Konrad als Generalstaatsanwalt dem Justizministerium Beckers unterstellt gewesen sei, liege nahe, dass es sich dabei um »eine politische Entscheidung gegen die vollständige Aufklärung« gehandelt habe, resümiert der Verein.
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