Imperiale Ideologie
Von Dieter Reinisch
Geschichtsbewusstsein stärken und grundlegende Kenntnisse der Geschichte des Staates Israel vermitteln: Das verlangte der Bundestag im Januar. Auch der Hamburger Historiker Arne Andersen verfolgt dieses Ziel – wenn auch nicht unbedingt im Sinne der Bundestagsmehrheit. Andersen behandelt in »Apartheid in Israel: Tabu in Deutschland?« auf rund 500 Seiten in der Hauptsache zwei Komplexe. Einer ist die Geschichte Palästinas seit dem 19. Jahrhundert und die ersten zionistischen Siedlungsbemühungen. Dieser Teil schließt mit dem aktuell andauernden Krieg in Gaza ab und berücksichtigt die relevante vorliegende Literatur bis 2024. Das zweite Thema ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht zuletzt in Deutschland vor dem Hintergrund der umfassenden Strategie, Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit dem Antisemitismusvorwurf niederzumachen. Inhaltlich sind das also eigentlich zwei verschiedene Bücher.
Diese Kombination erweist sich als Stärke und Schwäche zugleich: Als Darstellung der neueren Geschichte Palästinas hat das Buch das Zeug, zum Standardwerk für eine kritische Öffentlichkeit zu werden. Der Autor zeigt, dass die neuere Geschichte Palästinas von Siedlerkolonialismus und Unterdrückung geprägt ist. Die zionistische Expansion ordnet er in die Mechanismen des »klassischen« imperialistischen Zeitalters ein und zeigt, in welchem Grade die Begründer des Zionismus wie Theodor Herzl die imperiale Ideologie dieser Zeit verinnerlicht hatten und sich als Verbündete der imperialistischen Mächte verstanden: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden und den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei übernehmen.« Der Siedlerkolonialismus ist der konzeptionelle rote Faden bis zur heutigen Apartheid- und Genozidpolitik. Andersen rekonstruiert die Herausbildung des Apartheidsystems und gleichzeitig die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Widerstands der Palästinenser im Laufe der Jahrzehnte.
Im zweiten Teil des Buches wird umfassend der israelische Versuch, die Kritik am Siedlerkolonialismus und der Apartheidpolitik im Inland und international zu unterdrücken, dargestellt und analysiert. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf dem Umgang mit der Boykottbewegung BDS, die Andersen auch persönlich unterstützt. Außerdem geht es um die akute Repression gegen die Palästina-Solidarität in Deutschland im Zeichen der »Staatsräson«.
Der große Bogen und das inhaltlich auseinanderlaufende Material des Buches führen dazu, dass sich beim Leser an nicht wenigen Stellen der Wunsch nach einem klareren Fokus einstellt. Nicht an jeder Stelle ist klar, was jeweils Perspektive und These des Autors sind, und in Teilen wirkt das Buch so, als werde hier der Versuch unternommen, ohne besondere Gewichtung alles von »Relevanz« zu diesem Thema zusammenzutragen und mit möglichst viel Literatur zu belegen – nahezu 100 Seiten umfasst die Bibliographie, also mehr als in mancher Habilitationsschrift.
Auch das Layout mit den eng bedruckten, »gepresst« wirkenden Seiten dürfte nicht wenige potentielle Leserinnen und Leser abschrecken oder nach kurzer Zeit entmutigen. Immerhin, und das sei hervorgehoben, wird eine gewisse Zugänglichkeit durch das detaillierte Inhaltsverzeichnis und das in linker Literatur weitgehend aus der Mode gekommene Register, die kurzen Unterkapitel und eingeschobenen Boxen zu Ereignissen und Persönlichkeiten gewährleistet. Andersens Band ist ein wichtiges deutschsprachiges Nachschlagewerk für die Geschichte des Nahostkonflikts. Eine von Beginn bis Ende lesbare historisch-politische Monographie sollte darin nicht gesehen werden.
Arne Andersen (unter Mitarbeit von Johannes Feest und Sebastian Scheerer): Apartheid in Israel: Tabu in Deutschland? 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, ISP, Köln 2025, 504 Seiten, 29,80 Euro
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