Gesundheit darf kein Luxus sein
Von Julius Leisten
Ohne Krankenversicherung, mit chronischen Erkrankungen, Suchtproblemen oder psychischer Belastung geraten viele Menschen ins völlige Abseits. Besonders gefährdet sind die, die auf der Straße leben. Der Berliner Runde Tisch zur medizinischen Versorgung Obdachloser veröffentlichte in der vergangenen Woche seinen Gesundheitsbericht. Das Gremium, bestehend aus Trägern wie Caritas, Gebewo, Berliner Stadtmission, Johanniter, Ärzte der Welt und der Jenny-De-la-Torre-Stiftung, erfasst die jährlichen Behandlungszahlen seiner Mitgliedseinrichtungen. Beteiligt sind alle Dienste, die direkt oder indirekt in der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung obdachloser und nicht krankenversicherter Menschen tätig sind. Diesem Gesundheitsbericht zufolge leben in Berlin über 55.000 Menschen ohne eigene Wohnung und mehr als 6.000 davon dauerhaft auf der Straße. Für sie ist medizinische Hilfe oft unerreichbar, da es keine passende Struktur gibt, die Hilfe zur Verfügung stellt.
Die bestehenden Angebote – ambulante Praxen, mobile Versorgung, Hilfseinrichtungen – stemmen sich gegen dieses Elend, doch sie tun es oft mit kaum gesicherter Finanzierung, gestützt auf ehrenamtliches Engagement und mit enormer Überlastung. Ein neuer Ansatz soll das nun ändern. Die Berliner Landesgesundheitskonferenz hat Ende 2024 ein Konzept für Gesundheitszentren beschlossen, das auf den Arbeiten und Erfahrungen des Runden Tisches zur medizinischen Versorgung obdachloser Menschen basiert. Ziel ist es, niedrigschwellige, ambulante Hilfe dauerhaft in die städtische Gesundheitsstruktur zu integrieren. Allgemeinmedizin, Zahnmedizin, Pflege, psychologische Beratung und Sozialarbeit sollen unter einem Dach zusammenkommen – anonym, kostenlos und für alle zugänglich.
Berlins Gesundheitssenatorin Ina Czyborra betont: »Wir wollen eine Brückenfunktion in das Regelsystem schaffen und bestehende Strukturen entlasten, die sich bisher um die medizinische Versorgung obdachloser Menschen kümmern.« Eine solche Brücke ist dringend notwendig. Laut dem aktuellen Gesundheitsbericht des Runden Tisches wurden 2023 in den spezialisierten Praxen fast 10.000 Menschen behandelt, mit über 33.000 einzelnen Behandlungen – und nur zwölf Prozent der Patienten verfügten über eine gesicherte Krankenversicherung. »Nur durch ehrenamtliches Engagement und durch nicht ausreichend finanzierte Projekte kann die Versorgung derzeit aufrechterhalten werden«, mahnt Peter Bobbert, Präsident der Berliner Ärztekammer.
Das Konzept der Gesundheitszentren ist ein Fortschritt. Es benennt die Realität, schafft Zugänge für Betroffene, verzahnt medizinische Hilfe mit sozialer Begleitung. Doch strukturelle Widersprüche bleiben bestehen. Noch immer gibt es viel befristete Projektarbeit, die abhängig von Freiwilligen ist – eine prekäre Notlösung in einem der reichsten Länder der Welt. Die Versorgung marginalisierter Menschen darf keine temporäre Geste sein, sondern muss als unverzichtbarer Teil öffentlicher Daseinsvorsorge begriffen und finanziert werden. Die Mitglieder des Runden Tisches fordern eine grundlegende Neustrukturierung: verlässliche Mittel, flächendeckende Umsetzung, langfristige Perspektiven. Die Zahlen, die sie erheben, und die Versorgung, die sie leisten, sind ein realistischer Gradmesser dafür, wie ungerecht unser Gesundheitssystem ist. Das Recht auf medizinische Versorgung ist eines, welches auch unter Brücken, in Parks, Notunterkünften und auf den Gehwegen dieser Stadt gelten muss.
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