Ein Mädchen kämpft sich durch
Von Mona Grosche
Das kleine Mädchen Pepsi lebt auf dem Hof ihres Großvaters in der Herzegowina. Auch wenn das Landleben beschwerlich ist, liebt sie die Natur, die Tiere und den flimmernden Schlaf des Sommers. Doch ihr Glück ist getrübt, denn ihre Eltern sind aus Geldnot als »Gastarbeiter« ins ferne Deutschland gezogen. Beide arbeiten in Hessen und verbringen nur in den Sommerferien ein paar Wochen in der Heimat mit ihren drei Kindern. Pepsis Traum, das ganze Jahr mit den Eltern zusammenzuleben, scheint unerfüllbar, vielmehr muss sie zeitweise auch noch bei anderen Verwandten wohnen. Auch hier fühlt sie sich fremd, nur die Verbundenheit zur Natur gibt ihr ein Gefühl des Aufgehobenseins.
Nach langen Bitten holen die Eltern die Geschwister in das kleine Dorf im Taunus, wo sie alle zusammen in einer Einzimmerwohnung leben. Kaum angekommen, will Pepsi auch bereits wieder zurück in die Heimat. Nichts von dem, was sie sich erhofft hatte, tritt ein. Statt eines liebevollen Familienlebens halten Mutter und Vater nur Schläge und Zurechtweisungen für sie bereit. Der Vater ist ein starker Trinker und verbringt seine Tage am liebsten mit einer Schnapsflasche. Seine Kinder sind ihm lästig, für seine Frau hat er nur Beschimpfungen und Prügel übrig. Doch so sehr sich die beiden bekriegen, in ihrer Kälte und ihrem Erfindungsreichtum für drakonische Bestrafungen der Kinder für geringste »Verfehlungen« sind sie sich einig. Die Mutter, verbittert von der Brutalität ihres Mannes und zermürbt von ewigen Putzjobs, lässt ihren Frust ebenso an den Geschwistern aus wie ihr cholerischer Mann. Insbesondere Pepsi ist ständig auf der Hut, was ihr aber nicht viel hilft, denn schon ihre Art zu schauen reizt die Mutter bis aufs Blut.
Dennoch hat das neue Leben auch positive Seiten. Je mehr Pepsi die deutsche Sprache beherrscht, desto mehr erlebt sie die Macht der Bildung, die Magie von Büchern und Literatur. Dies weckt in ihr den Wunsch, Abitur zu machen und zu studieren, was ihr natürlich verwehrt wird, weil sie ein Mädchen ist. Doch Pepsi gibt nicht auf und verfolgt beharrlich ihren Bildungsweg. Sie fühlt in sich, dass sie zu einem freien Leben berufen ist, und nutzt die Literatur als Waffe gegen ihre lebensverachtende Umwelt. So vermag sie es, den Zwängen des Elternhauses zu entkommen. Sogar der Vergewaltigung durch einen serbischen Cousin kann sie durch heftigen körperlichen Widerstand entgehen – und ab da weiß sie, dass sie in ihrem Leben alleine klarkommen wird und alles Bisherige von sich abschütteln kann …
Trotz dieser inhaltlich interessanten Geschichte will der Funke bei Marica Bodrožićs fünftem Roman nicht recht überspringen. Womöglich hat gerade die autofiktionale Färbung der Geschichte nicht gutgetan. Denn die Protagonistin wirkt – bei aller Empathie – seltsam konstruiert und statisch. Vor allem, da sie nicht als kindliche Erzählerin wirkt, sondern Tonfall und Gedankenwelt eher der einer Erwachsenen entsprechen.
Dass man trotzdem »bei der Stange bleibt«, ist der erzählerischen Eleganz und dem lyrischen Talent der Autorin geschuldet, was jedoch gleichzeitig ein Manko ist: Die Protagonistin sucht einen Ausweg aus der Tristesse ihres Alltags, indem sie sich und die Welt in Metaphern denkt. Das wirkt beim Lesen eher ermüdend – um so mehr, als es für ein kleines Mädchen zu abgeklärt ist. Zudem ist sie immer tapfer, aufrecht und so sehr bei sich selbst, dass zumindest die Lesenden, die selbst eine traumatisierende Kindheit erlebt haben, um die Realitätsferne wissen. Sie können weder als Heranwachsende noch als Erwachsene diese traumwandlerische Verbindung zu sich selbst erlebt haben, wie das Pepsi angeblich zuteil wird. Dennoch ist es eine interessante Geschichte vor dem Hintergrund jugoslawischer Arbeitsmigration, in der ein einsames Mädchen mit Hilfe der Literatur realisiert, dass außerhalb des Kartons, in dem man sitzt, eine ganze Welt darauf wartet, entdeckt zu werden.
Marica Bodrožićs: Das Herzflorett. Luchterhand Literaturverlag, München 2024, 288 Seiten, 24 Euro
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