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Aus: Ausgabe vom 30.05.2025, Seite 12 / Thema
Migration

Zumutung Weltbevölkerung

An die staatlich initiierte Immigration heftet sich eine Zuwanderung, die Deutschland sich nicht bestellt hat. Über Migration und Kapitalinteressen (Teil 2 und Schluss)
Von Theo Wentzke
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Von wem sich das heimische Kapital keinen Nutzen verspricht, der soll draußen bleiben: Deutsche Polizisten bei der Kontrolle von Flüchtlingen an der Grenze zu Frankreich

Wer sich einmal bis hierher durchgeschlagen hat und den korrekten Asylantrag stellt, dem steht ein Bescheid über seinen Schutzanspruch zu. Das nach allen Regeln des Rechtsstaates und der Verwaltungsbürokratie ausgestaltete Prüfverfahren überkreuzt sich dabei mit allerlei in ihrer Gewichtung auch wechselnden politischen Opportunitätserwägungen, was sich an sämtlichen Momenten des Verfahrens geltend macht.

Während des Verfahrens erhalten die Flüchtlinge für dessen Dauer eine Aufenthaltsgestattung und gelten, ihrem rechtlichen Sonderstatus entsprechend, als zu verwahrende Antragsteller ohne Arbeitserlaubnis. Sie erhalten zunächst Leistungen nach dem zuletzt 2024 verschärften Asylbewerberleistungsgesetz, das ihre Versorgung auf ein Existenzminimum begrenzen soll; erst nach 36 Monaten winkt für sie die sagenhafte Wohltat regulärer Sozialleistungen. In den Aufnahmeeinrichtungen sollen sie in erster Linie Sachleistungen erhalten, denn die Freiheit des Geldes, die jeder noch so kleinen Summe innewohnt, soll ihnen möglichst nicht zu Gebote stehen. Dass die Betreuung der Flüchtlinge den Staat Geld kostet, weckt andererseits den Bedarf, sie doch zum Arbeitsmarkt zuzulassen; dem steht das gewichtige Bedenken entgegen, damit »Pull-Faktoren« zu schaffen.

Vereinbar sind diese Gesichtspunkte nicht, aber sie werden praktisch entschieden und in immer neue Verlaufsformen gebracht: So dürfen seit 2023 Asylbewerber in Erstaufnahmeeinrichtungen bereits nach sechs anstatt nach neun Monaten arbeiten. Wo keine Eingemeindung absehbar ist, etwa bei Antragstellern aus sicheren Herkunftsländern, gilt dagegen ein Arbeitsverbot. Die Frage des Arbeitsmarktzugangs für Flüchtlinge wird auch gern mit einem ganz anderen Gesichtspunkt verknüpft: Muss man bei allen harten Klarstellungen an das Elend der Welt, dass ein eigenmächtiges Hierherkommen sich definitiv nicht lohnt, nicht auch zugleich an unseren Fachkräftemangel denken? Gegen den wären schnelle Arbeitserlaubnisse und Deutschkurse auch für Flüchtlinge bestimmt hilfreich; andererseits stellt sich deren Integration in den Arbeitsmarkt bei negativem Verfahrensausgang allzu schnell als Abschiebehindernis dar.

Als Königsweg präsentieren manche Politiker die Arbeitspflicht für Asylbewerber, mit der sich der Nutzen aktiv eingebundener Migranten möglichst einseitig gestalten ließe, auch deshalb, weil die verpflichtend gemachte Arbeit auf alle Fälle so wenig Geld für sie abwirft, dass Überweisungen in die Heimat, aus denen die Emigration der restlichen Sippschaft finanziert wird, garantiert nicht in Frage kommen. Nachteil: Die Organisation der Zwangsarbeit kostet – schon wieder –, Verwaltungsaufwand und damit Geld. Dass eine wirksame Abschreckung durch demonstrative Schlechtbehandlung kostspielig ist, spricht wiederum eindeutig gegen die anwesenden Flüchtlinge, an denen man sicher noch andere Sparmaßnahmen durchführen kann, um sie für die Last, die sie uns bereiten, büßen zu lassen. Selbstverständlich folgen die überaus menschenfreundlichen Bedenken, dass solche Maßnahmen auf lange Sicht unpraktisch seien und mehr schadeten, als sie nutzten, auf dem Fuße.

Ab in die Erwerbsgesellschaft

Im Falle eines positiven Asylbescheids oder der Feststellung einer subsidiären Schutzberechtigung winken ein »unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt« sowie eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die bei bleibendem Schutzbedarf verlängert werden kann. Da hier nur der Rechtsanspruch auf Schutz geprüft wird, kommt es immer wieder zu Konstellationen, die der gesunde deutsche Menschenverstand partout nicht verstehen will: Arbeitslose Islamisten dürfen bleiben, während Bäckerlehrlinge, die ihre Bereitschaft zur schlecht bezahlten, dafür aber beschissenen Arbeitszeit bewiesen haben, insofern doch gut zu uns passen, abgeschoben werden sollen. Nach drei bis fünf Jahren kann – bei nachgewiesenen ausreichenden Deutschkenntnissen, einer eigenständigen Finanzierung des Lebensunterhalts und sofern kein Widerrufsverfahren eingeleitet wurde – eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erworben werden. In den mit fortlaufend weniger Bedingungen umstellten Aufenthaltstiteln dieser Ausländer reflektiert der Staat ihre zunehmende Inkorporation in seine Bevölkerung; mit ihrer praktischen Einbindung in seine Erwerbsgesellschaft erscheinen ihm seine prinzipiellen Vorbehalte gegen sie zunehmend als dysfunktional. Die Achtung vor ihrer Rechtsnatur als irgendwie auch dazugehörende ausländische Mitbürger gebietet dann auch, dass ihnen nach dem Erwerb der Niederlassungserlaubnis diese sogar dann noch zusteht, wenn sie arbeitslos werden.

Widersprüche des Abschiebens

Auch mit einem negativen Bescheid ist oft nicht das letzte Wort gesprochen. Der Betroffene wird zwar ausreisepflichtig, aber von einer zwangsweisen Abschiebung kann zeitlich befristet abgesehen werden, wenn es »dringende humanitäre oder persönliche Gründe« dafür gibt. Die zeitlich begrenzte Duldung gestattet dem Ausländer, sich in seiner nachhaltig ungewissen Bleibeperspektive noch eine Weile durchzuschlagen; wenn er nach erfolgter Vorrangprüfung nachweislich keinem Deutschen oder EU-Bürger den Job wegnimmt, darf er nach einiger Zeit sogar eine Arbeit aufnehmen oder eine Berufsausbildung anfangen, ein eigener Duldungsgrund. Immer mal wieder gibt es Vorstöße, manchen von ihnen doch noch die Perspektive einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis zu eröffnen – zuletzt im Rahmen des »Chancen-Aufenthaltsrechts«, das sich exklusiv an diejenigen richtet, die sich zum Oktober 2022 bereits seit mindestens fünf Jahren geduldet in Deutschland aufgehalten haben. Was die restlichen Ausreisepflichtigen angeht, wird sich umgekehrt um ihre möglichst geringe Einbindung in die hiesige Gesellschaft bemüht, damit nicht zu viele Ausreise- und Abschiebehindernisse entstehen; Arbeitsverbote, erweiterte Durchgriffsrechte der Abschiebebehörden (unter anderem erweiterte/vereinfachte Durchsuchung von Unterkünften oder Mobiltelefonen und verlängerter Abschiebegewahrsam) sowie Supportangebote für die freiwillige Ausreise inklusive Handgeld sollen ihr Übriges dazu beitragen.

Sobald sich Deutschland dazu entschließt, einen Migranten definitiv abzuschieben, benötigt es die Kooperation rückübernehmender Staaten.

Das betrifft zum einen die europäischen Partner und Nachbarstaaten, die sich die humanitäre Last ungewollter Migranten wechselseitig zuschieben. In dem im Lichte dieser Machtfrage geschaffenen Dublin-Abkommen ist vereinbart, dass derjenige Staat, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betreten hat und registriert worden ist, für die Abwicklung des Verfahrens zuständig ist, was den Streit natürlich nicht beendet, sondern auf die nächste Ebene hebt und daneben die Praxis evoziert, Flüchtlinge unregistriert über grüne Grenzen weiterziehen zu lassen. Entsprechend wird mit ausufernden Grenzkontrollen und Grenzschließungen gedroht, welche nicht nur die nächsten europarechtlichen Streitfragen aufwerfen, sondern auch die ökonomischen Errungenschaften des Schengen-Raums und der Arbeitnehmerfreizügigkeit gefährden.

Zum anderen betrifft das sämtliche Nicht-EU-Länder (Drittstaaten), die ihrerseits nicht ohne weiteres dazu bereit sind, ungewollte Migranten aus Deutschland auf- bzw. zurückzunehmen. Teilweise profitieren diese Länder ja sogar von der (irregulären) Anwesenheit ihrer Staatsbürger in Zentraleuropa, weil die Ausgewanderten, anstatt perspektivlos in der Heimat abzuhängen, mit ihren Rücküberweisungen an die Familie dem Land Devisen einspielen und/oder mit ihren Versorgungsleistungen Ersatzfunktionen des dort nicht ausgebauten Sozialstaats übernehmen. Was es also braucht, sind große und eindeutige Anreize für die erwünschte Kooperation. Die Erpressung mit der Aussicht, der nationalen Elite die reguläre Einreise nach Deutschland bzw. Europa zu erschweren, hat sich da schon ab und zu bewährt. Darüber hinaus stehen Angebote zur regulären Arbeitsmigration im Gegenzug zur Rücknahme unerwünschter Migranten hoch im Kurs, weil die in Dual-Use-Manier die Gesichtspunkte der regulären Migration mit denen der Abwicklung der irregulären zu verbinden versprechen. Zugleich geht jede zwischenstaatliche Vereinbarung über die Rücknahme von Flüchtlingen und unerwünschten Migranten zwangsläufig mit einer diplomatischen Anerkennung des fremden Souveräns als mit seinen Schutzbefohlenen irgendwie rechtmäßig verfahrenden Staats einher, die längst nicht immer erwünscht ist: Das Asylrecht verdankt sich ja gerade dem Bedürfnis, entsprechende Vorbehalte gegenüber anderen Herrschaften zu institutionalisieren.

Im Zweifel ist da aber ein erfinderischer Pragmatismus angesagt, wie Deutschland ihn im Fall der afghanischen Flüchtlinge an den Tag legt: Deren Taliban-Regime findet die deutsche Regierung zwar nicht legitim und unterhält einstweilen auch keine offiziellen diplomatischen Kanäle zu ihm, afghanische Flüchtlinge abschieben will sie dennoch, sogar »im großen Stil« (Scholz), weil es darum geht, »die innere Sicherheit Deutschlands zu priorisieren« (Faeser). Solange die deutsche Regierung diesen süßen Widerspruch aufrechterhalten will, sorgt ein neues Migrationsabkommen mit Afghanistans nördlichem Nachbarn Usbekistan für Abhilfe: Vereinbart wird eine Anwerbung von jungen usbekischen Fachkräften und im Gegenzug die Rücknahme von in Deutschland ansässigen Usbeken ohne Bleiberecht, die es praktisch nicht gibt, sowie ein »Passus zur Durchbeförderung ausländischer Straftäter«.

Kampf gegen Flüchtlinge

Neben den Bemühungen um die Kooperation anderer Staaten für fällige Rückführungen verfolgt Deutschland das anspruchsvolle Programm, dass die es umgebenden Staaten – vom innereuropäischen Vorfeld über die europäischen Außengrenzen und darüber hinaus – sich als Bollwerke zur Flüchtlingsabwehr bewähren sollen.

Die mit immer weiteren Mitteln ausgestattete Frontextruppe schützt inzwischen recht lückenlos das »Mare Nostrum«, so dass mit zunehmender Gefährlichkeit der Seeweg seltener – jedenfalls immer seltener erfolgreich – ausprobiert wird. Die europäischen Südstaaten sollen den Schutz der EU-Außengrenzen im Sinne der Gemeinschaft möglichst erfolgreich erbringen und werden dabei – so viel humanitäre Rechtsstaatlichkeit muss sein – für ihren Gebrauch der dafür einschlägigen schmutzigen Methoden getadelt.

Darüber hinaus kümmert sich Deutschland eigenmächtig und im europäischen Verbund darum, dass an die EU angrenzende Drittstaaten, insbesondere die Nordafrikas, aber auch die Türkei oder Weißrussland, die Aufgabe des erweiterten Grenzwalls übernehmen und fremde Staatsbürger gar nicht erst passieren lassen, sie entweder zurück in die Wüste schicken oder irgendwo bei sich konzentrieren, so dass die Betroffenen gar nicht erst unter eine europäische bzw. deutsche Jurisdiktion gelangen. Die Unterlassung dieser Dienstleistung deutet Deutschland je nach geopolitischer Nähe als »Waffe in der hybriden Kriegführung« (Belarus) oder als eine Mischung aus Sturheit und Renitenz ziemlich komplizierter Partner (Tunesien). Auch werden laufend Bedenken gewälzt, ob sich die EU mit derartigen Vereinbarungen nicht in eine gefährliche Abhängigkeit von autoritären Staaten begibt: Bei der Funktionalisierung von anderen Mächten für die eigene Flüchtlingsabwehr darf zugleich kein Stück der souveränen Freiheit gegenüber diesen Mächten verloren gehen. Entsprechend werden derartige Deals nicht etwa gemieden, sondern ausgeweitet, um die Abhängigkeiten entsprechend zu diversifizieren, was inzwischen zu einer ganzen Reihe neuer Abkommen geführt hat.

Marokko etwa bewährt sich mit entsprechender finanzieller Unterstützung zwar recht verlässlich als Abwehrwall von Migranten, verlangt dafür aber die europäische Anerkennung seiner Hoheit über die Westsahara. Das Abkommen mit Tunesien scheiterte 2023 fast daran, dass der Streit um Umfang und Konditionen von Finanzhilfen mit Kritik am Führungsstil der tunesischen Regierung einherging. Im Post-Gaddafi-Libyen findet die EU nicht den »einen« Ansprechpartner vor, sondern arbeitet sich in Gestalt Italiens an den verschiedenen Bürgerkriegsfraktionen ab, die es für die Flüchtlingsabwehr einspannt. Ägypten bewährt sich zwar weitgehend als Bollwerk, ist aber selbst zunehmender Migration aus der Region ausgesetzt, die es gefälligst aushalten und keinesfalls weiterreichen soll. Dafür soll es über die kommenden Jahre mit massiven Finanzhilfen ausgestattet werden und bekommt eine strategische Partnerschaft in Aussicht gestellt, was sogleich Bedenken weckt, ob die verwahrten Migranten dann nicht erst recht als Druckmittel im Verhältnis zu Brüssel funktionalisiert werden könnten. Und so weiter.

So sieht er aus, der Umgang des europäischen Schwerkraftzentrums mit seinen Migranten.

Politisch produktive Zumutung

Mit ihrer sorgfältig bis ins Detail ausgearbeiteten Migrationspolitik leisten Europas regierende Nationalisten einen wesentlichen Beitrag zur Herstellung der modernen Weltbevölkerung – Weltbevölkerung nicht in dem trivialen Sinn einer nachgezählten Summe der Menschen, die die Welt bevölkern; vielmehr im Sinne des Widerspruchs, dass die nationalstaatlich sortierten, regierten und benutzten Völker der Welt zugleich von den weltpolitisch maßgeblichen Mächten grenzüberschreitend ökonomisch und politisch bewirtschaftet, ihre Regierungen zu Adressaten gewaltmäßiger Kontrolle zwecks kapitalistischer Ausnutzung gemacht werden.

Indem diese Mächte im Interesse des Wachstums ihres Reichtums und ihrer Macht »den Grenzen das Trennende nehmen«, mischen sie die Menschheit auf; dazu gehört ihre Teilmobilisierung, die unter dem Titel »Migration« ihren Gang geht. Die wirkt auf die Bevölkerung der imperialistischen Nationen zurück; auch das nicht bloß im Sinne einer höheren Anzahl von Landesbewohnern, vielmehr in der widersprüchlichen Weise, dass die zuständige Staatsgewalt ihre angestammte Massenbasis, ihr eigenes Volk von Staatsangehörigen, um einen Haufen nicht staatsangehöriger Landesbewohner verstärkt, um ein Defizit an kapitalistisch nutzbarer menschlicher Verfügungsmasse auszugleichen. Worin hier der Widerspruch besteht, darüber geben die peniblen Regelungen der Migrationspolitik Auskunft: Als Gewaltmonopolist über einen zu erfolgreichem Kapitalwachstum verurteilten Wirtschaftsstandort findet der Staat seine eingeborene Stammbelegschaft zu klein; er vergrößert seine produktive Konkurrenzgesellschaft um Zuwanderer nach dem Kriterium des kapitalistischen Bedarfs; das ist die eine Seite.

Das tut er in seiner Verantwortung für das Überleben seines Gemeinwesens in der imperialistischen Konkurrenz; also ganz entschieden nicht im Interesse der ausgesuchten Zuwanderer und ihres Bedarfs an Überlebenschancen, sondern als fürsorglicher Repräsentant seiner angestammten Bürgerschaft, als machtvolle Verwirklichung des – unterstellten – politischen Willens seines Volkes, als Erfolgsgarant der ausgreifenden Politik, zu der er sich von der Heimat, die er regiert, beauftragt weiß. Im Sinne dieses »nicht – sondern« unterscheidet er rechtlich zwischen sich als Herrschaftsgewalt, deren Legitimität auf dem als fix unterstellten Staatswillen seiner Citoyens beruht, dem allein er also verpflichtet ist, und seinem Regime über Leute, denen diese Identität als Teil des in ihm realisierten Volkswillens per definitionem abgeht, denen er von Haus aus also gar nichts schuldig ist. Dementsprechend scheidet er zwischen seinen heimischen Bürgern als seiner bedingungslos – bis zum Kriegseinsatz – verfügbaren Manövriermasse, deren Rechtspersönlichkeit und Handlungsfreiheit er ebenso bedingungslos garantiert, und den anderen, den Fremden, deren bloße Anwesenheit im Land der freien Rechtssubjekte schon eine Konzession ist, ein bedingt gewährtes, beschränktes, widerrufliches Recht.

Rechtlich und rechtstechnisch ist diese Unterscheidung ein lösbares Problem; das ist ersichtlich an dem Migrations- und Ausländeraufenthaltsrecht mit seiner Stufenfolge von der Versagung des bloßen Anwesenheitsrechts über diverse begrenzte Anrechte bis zur rechtsförmigen Aufnahme in die Volksgemeinschaft. Das Resultat ist eine Durchmischung der volkseigenen Stammbelegschaft mit Migranten unterschiedlicher Zulassungs- und Integrationsstufen, die im Alltag einer modernen Klassengesellschaft auch kein relevantes praktisches Problem sein muss. Die verantwortlichen Aktivisten einer imperialistischen Weltbevölkerungspolitik machen sich das aber nicht so einfach. Ihre Regierungstätigkeit verstehen und betreiben sie mit professionell falschem Bewusstsein als Erfüllung einer Betreuungspflicht, die ihren Inhalt zwar durch die Leistungsanforderungen und die massenhaften Drangsale ihres gepflegten nationalen Kapitalismus bekommt, deren Erfüllung sie aber nur den eigenen Bürgern schulden: Als deren Sachwalter zu agieren, ist für sie ja die Grundlage der Legitimität ihrer Verfügungsmacht übers eigene Volk.

In diesem Sinn machen sie sich ein Gewissen aus jeder Staatsleistung, die sie den volksfremden Mitgliedern ihrer nationalen Konkurrenzgesellschaft zukommen lassen. Je nach zugestandenem Rechtsstatus schließen sie Migranten von der Teilnahme am Alltag der bürgerlichen Konkurrenz aus, behindern sie dabei, machen aus ihnen Sozialfälle der besonderen Art und stellen klar, dass jede Gunst, die sie gewähren, nach strengen Kriterien des Nutzens fürs heimatliche »Wir« und »Uns« vertretbar sein, also im demokratischen Meinungsstreit über die richtige Politik gerechtfertigt – oder widerrufen und abgeschafft werden muss.

Gepflegter Patriotismus

Als Gegenstand der politischen Meinungsbildung ist diese Sache ganz besonders geeignet. Denn beim »Thema Migration« geht es um sämtliche Gemeinheiten des kapitalistischen Konkurrenzgeschäfts, aber von Anfang bis Ende nicht um die, sondern um das Recht auf Teilhabe daran, als wäre die ein Segen, und zugleich auf Betreuung in den allfälligen Notlagen: ein Grundrecht, das den einen zusteht und den anderen im Prinzip überhaupt nicht. Diese Unterscheidung macht aus dem kapitalistischen Normalfall ein Privileg, das mit jedem noch so erbärmlichen Zugeständnis an Volksfremde quasi durchlöchert wird. So sehen es die Gesetzgeber, die sich beim Gesetzgeben entsprechend schwertun; und in dem Sinn klären sie ihr Volk darüber auf, dass sie ihm hier zwar aus besten Gründen des nationalen Erfolgs in der Welt, aber dann doch eine Zumutung antun: die Beteiligung von Leuten an den Segnungen der bürgerlichen Freiheit – also an der Konkurrenz –, denen von Haus aus nicht einmal das selbstverständliche Recht auf Da-Sein zusteht, das im Grunde exklusiver Besitzstand der Einheimischen ist. Die bürgerliche Idiotie, die Härten der Konkurrenz, vom Arbeitsplatz bis zur Wohnungsnot, den Konkurrenten zur Last zu legen, bekommt so ihre bürgergemeinschaftlich-patriotische Stoßrichtung. Das – in demokratischen Wahlen aktivierte – staatsbürgerliche Selbstbewusstsein, mit der eigenen Staatsangehörigkeit höchstpersönlich die heimische Staatsgewalt zu repräsentieren, verfestigt sich mit Blick auf die Landesfremden zum – vor allem: beleidigten – »Herr im Haus«-Standpunkt.

In der BRD als imperialistischer Führungsdemokratie sind hier alle möglichen Varianten im Angebot: vom paternalistisch wohlwollenden Standpunkt weltbürgerlicher Aufgeschlossenheit, der sich gerne mit dem Materialismus des national-kapitalistischen Bedarfs an Arbeitskräften und der notwendigen Schließung einer demographischen Rentenfinanzierungslücke rechtfertigt, über die These von der Migration als »Mutter aller Probleme« (ein deutscher Innenminister), die jedes konkurrenzgesellschaftliche Elend zum Argument für patriotische Borniertheit veredelt, bis zur hemmungslosen Sorge um die von Überfremdung bedrohte biodeutsche Volksnatur. Und was die Profis der Politik ins mitdenkende Volk hineinrufen, das schallt, gerne ausländerfeindlich vergröbert, als Echo aus dem heraus: Für die Macher und Erklärer der nationalen Migrationspolitik eine Gelegenheit mehr, sich als Anhänger ihrer Anhänger in Szene zu setzen.

In diesem Sinn haben vor allem Deutschlands rechte Oppositionsparteien im Wahlkampf 2025 die Migration als unwidersprechliches Werbeargument für sich genutzt; die CDU, ihrem Namen gemäß, auf moralisch besonders hochstehende Weise. Deren Chef hat es in seinem zarten Gewissen einfach nicht mehr ausgehalten, auch nur einem einzigen Asylsuchenden die Chance auf ein Asylgesuch zu lassen und irgendwelchen noch nicht vollständig integrierten Zuwanderern den Nachzug von Familienangehörigen zu gestatten, nachdem in vier Fällen zugewanderte Fanatiker respektive Verrückte tödliche Anschläge verübt haben. Der kühne Zusammenschluss von Anlass und Konsequenz erklärt sich aus der Logik abstrakten Denkens im Dienst fundamentalistischer politischer Moral: hoch abstrakt die Identifizierung von Täter und ausländerrechtlich definiertem Bevölkerungsanteil; hergestellt allein über die Gemeinsamkeit, zugewandert zu sein; konstruiert unter Absehung von Inhalt und Zielsetzung der Tat auf der einen, von jeder näheren Bestimmung der unter »Migration« angesprochenen Menschenmassen auf der anderen Seite; eine Konstruktion, deren Haltlosigkeit nur noch bestätigt wird durch das Hilfsargument: wären die Täter nicht (mehr) da gewesen, wäre auch ihre Tat unterblieben – immerhin Anlass für eine lebhafte Debatte über die Schuld daran, dass es den Täter glatt noch gegeben hat.

Höchst moralisch die unmissverständlich gemeinte Botschaft: Nichts beweist die bedingungslose Parteinahme für das deutsche Volk, nämlich für dessen unbedingtes Recht auf vollkommenen Schutz durch die öffentliche Gewalt besser als die bedingungslose praktische Ausgrenzung derer, denen dieses Recht nicht von Haus aus und von Geburt an zusteht; nichts macht diesen Beweis glaubwürdiger als die Opfer, deren »Unschuld« die Frage verbietet, was die verübte Untat mit dem Zuwanderungsschicksal ganz vieler Landesbewohner zu tun hat, so dass sie denen ungefragt nachgesagt werden kann. Und nichts macht einen Politiker vertrauenswürdiger als das Bekenntnis, für seine Beweisführung keinen relativierenden »Blick nach rechts oder links« zuzulassen. Damit jedenfalls hat der CDU-Mann auf seine Art, exemplarisch, den Wahlkampf geprägt. Mit Erfolg: Eine absolute Wählermehrheit hat dem politischen Willen Recht gegeben, das deutsche Volk von der Zumutung zu befreien, dass es nicht bloß deutsch, sondern selbst ein Stück Weltbevölkerung ist.

Was auch immer praktisch daraus folgt – eine Handvoll neuer christlich-liberal-sozial-demokratischer Gemeinheiten gegen »Volksfremde« wird es schon geben. Ansonsten werden ganz andere Anforderungen an den europäischen Imperialismus deutscher Nation ganz schnell sehr viel wichtiger …

Mehr zum Thema Migration im Heft 1-25 der Zeitschrift Gegenstandpunkt und auf der Webseite: gegenstandpunkt.com

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