Fanal und Verfall
Von Daniel BratanovicEin »bisschen zerbrochenes Glas« (The Nation), weiter nichts. Gemessen an Größe und Heftigkeit im Vergleich zu den militanten Auseinandersetzungen in Lateinamerika während der 1990er Jahre war die »Schlacht von Seattle« eher unbedeutend. Der kanadische Soziologe Richard Day resümierte einige Jahre später: »Das einzig Besondere an dem, was in Seattle geschah, war, wo es geschah.« Der schiere Umstand, dass sich die Proteste gleichsam im »Herzen der Bestie« ereigneten, sorgte für erhebliche Aufmerksamkeit und sollte das Thema Globalisierungskritik für einige Jahre in den Mittelpunkt einer darniederliegenden Linken rücken, die sich vor einer Renaissance wähnte.
Auch wenn zwei Jahre zuvor Massenproteste australische Metropolen blockiert und sich die Zapatisten im mexikanischen Chiapas mit ihrem Aufstand gegen das Freihandelsabkommen NAFTA bereits 1994 zur Wehr zu setzen begonnen hatten, ging das Signal für die westliche Linke von Seattle aus. »Eine andere Welt ist möglich« war für einige Zeit die optimistische Parole gegen den Kapitalismus (zumindest) in seiner neoliberalen Gestalt, die 2001 auch in Genua erklang, als rund 300.000 Globalisierungsgegner gegen den dort tagenden G8-Gipfel protestierten. Fausto Bertinotti, damals Chef der italienischen Rifondazione Comunista, erhöhte die Antiglobalisierungsbewegung zur »Bewegung der Bewegungen«, zur Einheit der Heterogenität. Genua war ihm nicht nur »eine Gelegenheit zum Kampf«, sondern »ein politisches Laboratorium für alle Linken«, dort finde sich »das Lebenselixier für die Wiedergeburt der Linken«.
Das war ein markanter Bruch mit bisherigen Positionen der Arbeiterparteien. Theoretisch unterfüttert wurde der Standpunkt mit der von Toni Negri und Michael Hardt entwickelten Figur der »Multitude« als antagonistischem Subjekt. Solche diffus bestimmte Vielheit gemeinsam handelnder Singularitäten hatte mit der materialistischen Verbindung von der Stellung im (Re-)Produktionsprozess und politischer Praxis (Klassenpolitik) fast nichts mehr zu tun.
Nicht die einzige Schwäche jener neugeborenen Linken. Kapitalismuskritik verengte sich in starkem Maße auf die Sphäre der Finanzmärkte und wollte vom übergreifenden Zusammenhang zwischen Produktion und Zirkulation nicht mehr viel wissen. Und analytisch kaum unterschieden von den liberalen Global-Governance-Ansätzen der Freihandelsbefürworter, eben nur unter umgekehrten Vorzeichen, herrschte im Lager der Globalisierungskritiker die Annahme vor, dass nicht mehr die Nationalstaaten, sondern transnationale Konzerne gestützt auf ein vage definiertes »Empire« (ebenfalls Hardt/Negri) die Weltgeschicke bestimmten. Ein Vierteljahrhundert später wird man sagen müssen: eine gravierende Fehleinschätzung.
Von der damaligen Aufbruchstimmung der Linken ist heute buchstäblich nichts mehr übrig. Globalisierungskritik kommt jetzt von rechts. Die globale und beschleunigte, nicht Grenzen, nicht Kontrollen kennende Beweglichkeit von Kapital und Waren (und zwar explizit auch der Ware Arbeitskraft in Gestalt der Migration) wird als Bedrohung für die auf ihrer jeweils angestammten und beschaulichen Scholle Sesshaften artikuliert. Als notwendige Abwehrschlacht gegen die Habenichtse aus dem Süden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Wera R. aus tib / bochum (30. November 2024 um 13:07 Uhr)Leider erneut eine grausam richtige Einschätzung. Danke an Daniel Bratanovic/jw. Die Tragik liegt nicht darin, dass individuelle anarchistische Kräfte gegen »irgendeinen« Kapitalismus rebellieren, kann ruhig passieren … sondern dass es nicht gelang, aus der Spontanität der emotionalen Wut; der diffusen Ungerechtigkeit die imperialistische Form freizulegen. Gescheitert sind nicht Negri, Hardt, u. a., sondern diejenigen, die es besser wissen konnten: die italienischen Kommunisten, die französischen, auch die DKP in den 90gern; diejenigen, die den Klassenantagonismus nicht mehr als Schwerpunkt ihrer Politik (ihrer Ressourcen, Organisation, Bildungsarbeit, Öffentlichkeitsarbeit …) betrachtet haben. Die Niederlage 1989–1991 ist totalitär; aber sie darf nicht dazu führen, die Ausbeutung des Menschen, seiner Arbeit zu akzeptieren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (29. November 2024 um 23:45 Uhr)Der Artikel zeigt richtig die Schwäche(n) »der Linken« damals auf und konzentriert sich stark auf einen engeren Zeitraum. Verstärkt und genauer müsste man die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit des kapitalistischen Systems unter die Lupe nehmen. In die beschriebene Zeitspanne fällt ja die zweite Stufe des Neoliberalismus, die Finanzialisierung. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger fand die Aufspaltung der großen Betriebe in kleine(re), überschaubare und leicht beherrschbare Einheiten statt, nachdem durch Diversifizierungsversuche (Beispiel: Daimler / Reuter, Deutsche Aerospace AG) verschiedene Konzernstandbeine sich gegenseitig im Konjunkturzyklus subventionieren und so die Krise des Fordismus überwinden sollten. Im Neoliberalismus soll jeder (Betrieb) das machen, was er am besten kann. Dieses Prinzip wurde global durchgesetzt. Ein Betrieb, der die Verwertungsansprüche des Finanzmarktes nicht erfüllt, wird liquidiert. Die vormals weniger stark gekoppelten Bereiche der Finanzbranche und der Realwirtschaft (über Kredite und Zinsen) wurden eng gekoppelt, Gewinnmarchen direkt vorgegeben. Bei Nichterfüllung: Laden dicht. In diese Zeit fällt genau auch der Aufstieg der (Internet-)Konzerne, mittlerweile erweitert um Agglomerate wie Testla, Space X … Black Rock, Hedgefonds, Soros … Da verfügen einzelne Konzerne über Summen, die recht weit über dem BIP des einen oder anderen Landes dieser Erde liegen. Welche brauchbare Analyse dieser neuen Entwicklungen aus materialistischer Sicht gibt es, wo bleiben die Klassenanalysen?
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