Bitterer Sieg für Schiffbrüchige
Von Hansgeorg Hermann, ChaniáMehr als 600 Menschen starben in der Nacht zum 14. Juni vergangenen Jahres beim Untergang des Fischkutters »Adriana« vor dem griechischen Küstenort Pylos im Süden des Peloponnes. Neun junge Ägypter sollten danach als Sündenböcke für die Katastrophe verantwortlich gemacht, verurteilt und womöglich ihr Leben lang in griechischen Haftanstalten weggesperrt werden. So wollten es offensichtlich die Lenker der Athener Immigrationspolitik und die für den Küstenschutz zuständigen Behörden. Die aber hätten vor rund elf Monaten nicht nur organisatorisch versagt, sondern womöglich selbst aktiv am Untergang des maroden, mit geschätzten 750 Passagieren hoffnungslos überladenen Kutters mitgewirkt, sagten Überlebende aus. Am Dienstag nachmittag erklärte sich das Gericht in der Hafenstadt Kalamata, das den Fall zu verhandeln hatte, für »nicht zuständig«, da die »Adriana« nicht auf griechischem Hoheitsgebiet, sondern in internationalen Gewässern gesunken sei. Die von der Staatsanwaltschaft als angebliche Schlepper und Schiffsführer angeklagten Männer im Alter von 21 bis 39 Jahren wurden nach elf Monaten Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt.
Als das morsche Boot in der fraglichen Nacht unterging, ertranken Hunderte Menschen – darunter ganze Familien mit Kleinkindern, die vier Tage zuvor im ostlibyschen Tobruk mit Ziel Italien an Bord gegangen waren. Nur 104 Männer – Syrer, Ägypter, Pakistaner und Palästinenser –, darunter nicht eine Frau, entkamen dem Tod. Aus der vor Pylos bis zu 5.000 Meter tiefen See wurden schließlich 82 Leichen geborgen, wie viele für immer im Meer blieben, konnte bisher nicht ermittelt werden. Entdeckt worden war das zu dem Zeitpunkt angeblich bereits in Seenot befindliche Schiff am 13. Juni von einem Aufklärungsflugzeug der EU-Grenztruppe Frontex – in internationalen Gewässern rund 47 Seemeilen von der Küste des Peloponnes entfernt, allerdings innerhalb der im Seerecht unter griechische Zuständigkeit gestellten Rettungszone. Überlebende Zeugen berichteten, die mit unerklärlicher Verspätung eingetroffene Küstenwache habe versucht, die »Adriana« an den Haken zu nehmen und aus der griechischen Verantwortung in die angrenzenden Rettungszonen Maltas und Italiens zu ziehen. Dabei sei der Kutter gekentert und schnell gesunken.
Bereits 24 Stunden später hatte die Staatsanwaltschaft in Kalamata, auf wessen Anweisung aus Athen auch immer, neun Ägypter als verantwortliche Schiffsführer und »kriminelle Schlepper« – so der Regierungsjargon – ausgemacht und in Untersuchungshaft genommen. Zugrunde gelegt wurden der Anklage und Inhaftierung Aussagen anderer Überlebender, zum Teil offenbar auch »von der Polizei erpresste« Identifizierungen der nunmehr Beschuldigten sowie falsch übersetzte oder für die Angeklagten unverständliche Ermittlungsberichte. In ihrem Urteil hielten es die drei Richter am Dienstag nicht nur für entscheidend, dass die »Adriana« außerhalb griechischer Hoheitsgewässer gesunken sei und sich der Fall daher ihrer Zuständigkeit entziehe. Klar sei auch, dass die Passagiere nicht Griechenland, sondern Italien erreichen wollten, wobei zum Zeitpunkt der Katastrophe allerdings die griechische Küstenwache und die zuständigen Behörden in Kalamata und Piräus für die Rettung aus Seenot zuständig gewesen seien. Als glaubhaft beurteilten die Richter das Zeugnis der Angeklagten selbst: Sie hätten sich die Überfahrt nach Italien wie alle anderen Passagiere auch mit schwer erarbeitetem Geld erkauft – rund 3.000 Euro, wie einer der Beschuldigten angab, er habe dafür sein gesamtes Hab und Gut veräußern müssen.
Entkommen werden die Küstenpatrouille und ihre Vorgesetzten dem ihnen längst zugewiesenen Teil der Verantwortung für den Tod einiger hundert Menschen vorerst nicht. Wie Hilfsorganisationen und die Anwälte der nun freigesprochenen Männer mitteilten, liegen beim Seegericht Piräus inzwischen mehr als 50 Strafanzeigen gegen die zuständigen griechischen Behörden vor. Die Ermittlungen zur Klärung der Ursache der Schiffskatastrophe seien nicht abgeschlossen.
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