Neokoloniale Gesundheitskrise
Von Christian Selz, KapstadtEs ist ein Hilferuf, der regelmäßig ertönt – und immer lauter wird. Eine »wachsende Krise in der Krankenpflege, verursacht durch Mangel, fehlende Investitionen und eine außer Kontrolle geratene Abwanderung von Pflegepersonal«, konstatierte der Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger (International Council of Nurses, ICN) am 20. März in einer Mitteilung, in der die Ergebnisse von zwei Kongressen der Organisation in der schwedischen Hauptstadt Stockholm und der ruandischen Kapitale Kigali zusammengefasst wurden. Das Fazit: In ärmeren Ländern würden die schädlichen Folgen des Abwerbens von Schwestern und Pflegern als eine »Form des Neokolonialismus« gesehen. Die Folgen sind verheerend, seit Jahrzehnten.
Rückblende: Mai 2004, der demokratische Umbruch in Südafrika lag erst zehn Jahre zurück und eine HIV-Pandemie brachte das Gesundheitssystem des Landes an den Rand des Kollapses. Die südafrikanische Regierung bereitete den Entwurf einer Resolution vor, den sie gemeinsam mit 20 weiteren Ländern bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf einbringen würde. Die Forderung damals: Reiche Länder sollten eine Kompensation für abgeworbenes medizinisches Personal zahlen. Der Vorstoß scheiterte an den Interessen der Profiteure im globalen Norden. Einen Teilerfolg erzielten die Südafrikaner dennoch. Im September desselben Jahres berichtete das britische Medizinfachblatt The BMJ, dass die Regierungen in London und Pretoria ein Abkommen unterzeichnet hätten, mit dem das Abwerben von Gesundheitspersonal eingedämmt werden sollte. Der Schritt war überfällig, denn während Kuba seinerzeit Ärzte nach Südafrika entsandte, stammten sechs Prozent des in Großbritannien beschäftigten Medizinpersonals aus Südafrika. Allein: In der Praxis behoben wurde die Krise nicht, und sie beschränkte sich auch nie auf Großbritannien und Südafrika.
Die Folge: zwei Teufelskreise. Zum einen verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen in den durch Abwerbung ausblutenden Gesundheitseinrichtungen afrikanischer Länder immer weiter, was zu überarbeitetem Personals, gesundheitlichen Problemen und schließlich weiterer Abwanderung führte. Zum zweiten beschäftigten Kliniken in Schwellenländern wie Südafrika als Reaktion auf den Personalmangel ihrerseits Ärzte und Pfleger aus noch ärmeren Nachbarländern. Südafrika bildet allerdings auch angehende Mediziner aus anderen afrikanischen Staaten aus.
2010 verabschiedete die WHO schließlich einen Verhaltenskodex, den sämtliche UN-Mitgliedstaaten annahmen. Eine Kernforderung: Verzicht auf Abwerbungen aus Ländern, deren Gesundheitssysteme selbst einen Personalnotstand haben. Nationalstaatliche gesetzliche Regeln wurden verabschiedet. In Deutschland etwa gilt ein aktives Abwerben von medizinischem Personal aus den 57 von der UNO ausgewiesenen Krisennationen seit November 2020 als Ordnungswidrigkeit. Schlupflöcher bleiben, etwa über direkte Bewerbungen mittels Stellenanzeigen in Medien in Herkunftsländern. Unbefolgt bleibt ferner die zweite WHO-Kernforderung: den Personalbedarf in reichen Ländern durch bessere Jobs und mehr Ausbildung zu decken. Aus eigener Kraft.
»Sollte der für Deutschland prognostizierte steigende Bedarf an Pflegekräften tatsächlich vorrangig über gesteuerte Migration gedeckt werden, sind für die Herkunftsländer erhebliche Einbrüche in der Gesundheitsversorgung zu erwarten«, warnte Heino Güllemann von Terre des Hommes bereits 2021 im Interview mit dem deutschen Fachmagazin Health & Care Management. Und weiter: »Ein direkter und deutlicher Zusammenhang zwischen der Anzahl von Gesundheitsfachkräften und der Kindersterblichkeit ist verschiedentlich empirisch belegt worden.«
Hinzu kommt die ökonomische Komponente, die Ruandas ehemalige Gesundheitsministerin Agnes Binagwaho 2022 in einem Beitrag des Consortium of Universities for Global Health darlegte: »Wenn reiche Länder absichtlich Brain-Drain fördern, stehlen sie enorme Ressourcen, die Afrika in die Ausbildung seines Gesundheitspersonals investiert hat.« Die Kosten dafür seien »deutlich höher als das, was die reichen Länder vorgeben, uns als Entwicklungshilfe zu geben«. Inzwischen würden reiche Länder die Kosten für die Ausbildung von Pflegepersonal in ärmere Länder auslagern, kritisierte jüngst auch ICN-Präsidentin Pamela Cipriano, während ICN-Geschäftsführer Howard Catton »ein großes Missverhältnis bei Verteilung, Ausbildung und Anstellung von Gesundheitspersonal« kritisierte. Kurz: »Das ist ein Paradebeispiel für globale Ungleichheit.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (2. April 2024 um 07:55 Uhr)Danke! Endlich merkt das hier mal jemand! Wobei die Angelegenheit doch etwas komplexer ist. Gerade die Auseinandersetzung in Berlin hat gezeigt, dass ausländische Krankenschwestern Klassenbewusstsein in den Bereich hereingetragen haben. Wobei für die BRD zu einem nicht unmaßgeblichem Teil Kolleginnen aus arabischen Ländern, dem Balkan und Osteuropa eine Rolle spielen. Dabei auch zu beachten, dass diese hier oftmals mit einer doppelten Ausbeutung und Rassismus konfrontiert sind. Die Forderung nach Kompensation für die Ausbildungsbetriebe wird von uns schon seit längerem erhoben, wobei es unwahrscheinlich ist, dass bei Ausbildungskosten von etwa 60.000 Euro dies jemals hier umgesetzt werden wird. Genau so funktioniert Imperialismus.
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