Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Staat und RAF

Wurzeln der Gewalt

Politische Betrachtungen zur Verhaftung von Daniela Klette
Von Karl-Heinz Dellwo
imago163659219.jpg
Irgendwann reicht’s: Graffiti gegen die RAF-Hatz in Amsterdam, 1977

Nach 30 Jahren Fahndung wird eines der drei noch immer gesuchten (ehemaligen) RAF-Mitglieder verhaftet. Die Geschichtsschreibung, sagen Historiker, verändert sich permanent. In den Schlagzeilen nach der Verhaftung von Daniela Klette erkennt man das nicht. Der Jargon und die entpolitisierte Rahmung sind die gleichen geblieben. Auch 54 Jahre nach dem Entstehen der RAF, 31 Jahre nach ihrer letzten Aktion und 26 Jahre nach ihrer Auflösung. Man zählt die Toten. Die toten Mitglieder aus den bewaffneten Gruppen, die vielen Toten im Gefängnis. Die »Kollateralschäden« der Polizei bei Fahndungsmaßnahmen werden dabei selten benannt. Auch nicht jener Zustand der Nach-Nazi-BRD, in deren Politik, deren Polizei, deren Justiz und in deren Medien neu eingekleidete Nazis saßen, oft Massenmörder erster Güte. Von der »Verteidigung« Berlins im Vietnamkrieg nicht zu sprechen. Skandalisiert werden Überfälle auf Geldtransporter, doch die dabei geraubten Summen sind im Verhältnis zum Milliardenraub in Cum-ex-Geschäften durch Politik und Wirtschaft eher eine Bagatelle.

Ich würde hier gerne ein anderes Bild zeichnen: War die RAF wirklich die gewalttätigste Gruppe, die aus der 68er Bewegung hervorgegangen ist? Ich habe erhebliche Zweifel daran. Personen wie Joseph Fischer, die in den 70er Jahren noch die Parole »Werft die Knarren weg, nehmt Steine« ausgaben, haben, kaum waren sie in Machtpositionen gelangt, ihre inhärente Gewaltbereitschaft staatlich ausgelebt, nicht zuletzt im völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien. Wer heute dem grünen Munitionsexperten Anton Hofreiter oder Marieluise Beck und ihrem Ehemann, dem einst der »Vernichtung des Kapitals« verpflichteten KBW-Funktionär Ralf Fücks, zuhört, steht entsetzt vor einer maßlosen Gewaltbereitschaft und Kriegshetze, die irgendwann niemand mehr im Griff haben wird – und die zu einer erneuten Zerstörung Europas führen kann.

Ich möchte auf einen weiteren fundamentalen Unterschied hinweisen: Die RAF hat sich gegen das imperiale System des Kapitalismus gestellt. Ein relevanter Teil der Nachkriegs- und Enkelgeneration tritt heute mit aller Gewalt für den Fortbestand genau dieses Kapitalismus ein. Von dessen »wertebasierter Liberalität« glaubt sie sich moralisch legitimiert, konkurrierende Kapitalismen wegzufegen, weil die Konkurrenten nicht »liberal«, sondern »autoritär« seien. Als wären sie nicht den gleichen Marktgesetzen unterworfen. Dabei liegt die »Liberalität« des Westens unterm Strich nur im Zubilligen kostenloser Freiheiten, die so lange gültig sind, wie eine Prämisse immer unangetastet bleibt: die Unterwerfung unter das Prinzip der Verwertung von Mensch und Natur.

Wenn ich mir die Geschichte der RAF und anderer bewaffneter Gruppen anschaue, dann standen diese, wie damals viele, gegen die ökonomisch bestimmte Fortsetzung einer Vergangenheit, die nach 68 niemand mehr hätte fortsetzen dürfen. Die barbarisch werdende Zukunft war vorhersehbar. Wäre diese Erkenntnis Ausgangspunkt gesellschaftlichen Handelns geblieben, wären wir heute nicht da, wo wir sind: in einer immer rasender werdenden Destruktion. Die RAF hatte diese Sicht als Ausgangspunkt. Es geht mir dabei nicht darum, die Praxis der RAF zu legitimieren oder gar zu heroisieren. Gescheitert ist gescheitert. Doch zwingt uns die heute unverkennbar gewordene Gewalttätigkeit der global herrschenden Verhältnisse, hier eine andere historische Wertung vorzunehmen. Dabei geht es auch um das Maß der Verlogenheit, die heute in allen politischen Bereichen Normalität geworden ist und ihre Substanz in einer erneuerten alten Moral hat, nach der Krieg »Frieden« ist und die Forderung nach Frieden und einem Ende des Krieges »Kapitulation«.

Eine andere Zukunft

Es ist für mich deshalb nebensächlich, ob Daniela Klette oder die anderen Gesuchten tatsächlich Geldtransporter überfallen haben. Von irgend etwas mussten sie leben. Der ganze Kapitalismus beruht auf Diebstahl und ungleichem Tausch. Bedeutender ist doch: Diejenigen, die diese Transporter überfallen haben, haben ihre politische Bestimmung dabei nicht verloren. Sie haben ihre Not, sich finanzieren zu müssen, nicht über das Leben der anderen gesetzt und ihre Aktion eher abgebrochen, als sie zu eskalieren.

Auch für etwas anderes ist diesen RAF-Mitgliedern zu danken: Sie haben 1998 die bittere Erkenntnis gehabt, gescheitert zu sein. Sie haben dieses Scheitern akzeptiert und die lange Phase des bewaffneten Kampfes beendet. Nirgends in der Politik und in großen Teilen der Gesellschaft findet sich dagegen die Bereitschaft, die Unvermeidlichkeit einer weltweiten Umbruchsituation zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln, statt weiter aus der Etappe bis zum letzten Ukrainer zu kämpfen oder die maßlose Vergeltung in Gaza als »legitim« zu betrachten. Wenn es eine andere Zukunft als eine umfassende Zerstörung geben soll, dann müssen wir aus den bestehenden Logiken und überkommenen Rationalitäten aussteigen. Beendet den Krieg. Freiheit für Julian Assange. Für eine politische und damit auf Freiheit ausgerichtete Perspektive für Daniela Klette und die noch gesuchten Burkhard Garweg und Ernst-Volker Staub.

Karl-Heinz Dellwo schloss sich 1975 der RAF an. Er wurde 1977 verhaftet und zu einer zweimal lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dellwo sagte sich vom bewaffneten Kampf los und wurde 1995 aus der Haft entlassen. Heute ist er Filmemacher und gründete 2019 mit Gabriella Angheleddu in Hamburg die »Galerie der abseitigen Künste«.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Dieter Max Crusius (12. März 2024 um 15:03 Uhr)
    Erwiderung auf den Leserbrief von Bernd Vogel zu Beitrag von Karl-Heinz Dellwos »Wurzeln der Gewalt«:
    Der Leserbriefschreiber Bernd Vogel bezichtigt Karl-Heinz Dellwo, und weiter die RAF, eines »Wirrwarr in der Theorie« und begründet dies mit dem Satz von Dellwo: »Der ganze Kapitalismus beruht auf Diebstahl und ungleichen Tausch.« In der selben Ausgabe der jW lesen wir, zitiert aus Friedrich Engels »Anti-Dühring«: »Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzogenen Ausbeutung ist.« Was bedeutet dies anderes als Diebstahl - von der räuberischen Ausbeutung des globalen Südens durch Kolonialismus und Kapitalismus ganz zu schweigen.
    Darauf hinzuweisen, dass zwischen Kapital und Arbeit ein »formal korrekter Vertrag« abgeschlossen wird, ist Witz aus der (neo)liberalen Mottenkiste. (…)
  • Leserbrief von Bernd Vogel aus Leipzig (4. März 2024 um 14:41 Uhr)
    Der Artikel von Karl-Heinz Dellwo enthält einen aufschlussreichen Satz. Der Satz lautet: »Der ganze Kapitalismus beruht auf Diebstahl und ungleichem Tausch.« Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass aus einer falschen theoretischen Analyse eine falsche politische Praxis entsteht. Zum ersten: Karl Marx hat in seinem Werk »Das Elend der Philosophie« die These von Proudhon, wonach das Eigentum Diebstahl sei, längst widerlegt. Zum zweiten: Der doppelt freie Lohnarbeiter verkauft seine Arbeitskraft in einem (Arbeits-)vertrag. Er agiert dabei als geschäftsfähige Person mit eigener Entscheidungsfähigkeit. Das ist kein ungleicher Tausch, sondern ein formal korrekter Vertrag. Marx war sehr stolz darauf, dass er eine wissenschaftliche objektive Erklärung für den zentralen Prozess des Kapitalismus – die Ausbeutung – gegeben hatte, ohne auf moralisierende Kritik zurückgreifen zu müssen. Wirrwarr in der theoretischen Analyse führt zu Wirrwarr in der praktischen Aktion, wie das Beispiel der RAF gezeigt hat.
    • Leserbrief von Heinz-Dieter Lechte aus Hamburg (8. März 2024 um 10:09 Uhr)
      Der ganze Kapitalismus beruht auf Gratisarbeit. Und nun weiter! Wie kann man sich nur einen Satz aus dem Artikel herausgreifen, um darauf rumzureiten. Wer meint, es gäbe keine Ausbeutung, kann ja der jW einen eigenen Artikel dazu anbieten. Stand sonst nichts im Artikel? Las ich da nichts von Gewaltverzicht der RAF im Gegensatz zu Staat und Politik?!
    • Leserbrief von Michael Engels (5. März 2024 um 15:58 Uhr)
      Guten Morgen Herr Vogel. Gut geschlafen die letztem 40 Jahre? Der »ungleiche Tausch« beschreibt seit den achtzigern den Umstand, dass der globale Süden seine Produkte für einen Bruchteil dessen verkaufen muss, wie er für Produkte aus den imperialistischen Metropolen berappen muss. Mit dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital hat das nix zu tun. Aber egal, Hauptsache auch noch den Proudhon im Artikel gefunden, obwohl er nicht dort steht, und sich Dellwo überhaupt nicht auf ihn bezieht. Ein Leserbrief als schönes Beispiel dafür, wie man sich als politischer Erbsenzähler blamieren kann.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth, Hamburg Altona (5. März 2024 um 15:21 Uhr)
      Aus ihrer Antwort kann man herauslesen, dass sie noch nie ihren Lebensunterhalt mit produktiver Arbeit verdienen mussten, sonst würden sie so einen Unsinn nicht schreiben: »Er (Lohnarbeiter) agiert dabei als geschäftsfähige Person mit eigener Entscheidungsfähigkeit.« Das bewegt sich auf dem Niveau von MLPD, die in einem ihrer Bücher behaupten, dass die Millionärsfrauen dreifach unterdrückt seien. Karl Marx hatte immer die Realität und deren Verhältnisse im Blick. Was ich bei ihnen nicht erkennen kann.
    • Leserbrief von Thomas aus Frankfurt a.M. (4. März 2024 um 22:54 Uhr)
      Nein. Es ist alles eine Machtfrage. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich als Machtverhältnisse analysieren und auf Machtverhältnisse reduzieren. Es glaube doch niemand, dass der/die durchschnittliche/r Lohnabhängige/r in der Gestaltung von Arbeitsverträgen, der Höhe der Entlohnung usw. »frei« sei. Man bekommt ein Papier vor die Nase gehalten, nach dem Motto, »friss oder stirb«. Dein Standpunkt ist etwas elitär; es gibt hier und vor allem weltweit gesehen Unmengen von Menschen, die sich das nicht aussuchen können, um den Preis des Untergangs/Hungertuches/Todes, wie immer man es ausdrücken möchte. Ob ein Vertrag nach herrschender Logik »formal korrekt« ist, ist hier egal. Und, wie, »ungleicher Tausch« sei nicht: wo sonst kommt denn der Mehrwert her?
      • Leserbrief von Franz Döring (5. März 2024 um 11:26 Uhr)
        Eine der Grundthesen von Karl Marx elitär zu nennen, ist selber eine elitäre Haltung!
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (2. März 2024 um 21:44 Uhr)
    Schwere Waffen seien bei Frau Klette sichergestellt worden, so-so. Fragt sich nur, warum die nicht gezeigt werden. Gibt es sie überhaupt oder wird das nur dem Publikum vorgetäuscht. Wenn die Verhaftete ein ganzes Arsenal hortete und jahrzehntelang nicht einsetzte, fragt man sich doch, wozu derlei Hamsterei. Sollte all die Munition noch rasch vor ihrem Tod verpulvert werden? Übermäßig glaubwürdig wäre das ja nun grade nicht, derlei Schlussakkord. So lange ihre gehorteten Waffen nicht gezeigt werden, darf weiter gemunkelt werden, all das im Dunklen, ganz zur Freude der einschlägigen Mainstreammedien, die es gern auf ihre Weise krachen lassen, zwecks Umsatzsteigerung, sowie einer Leserschaft, die sich gern empört und auch zudem Gruselgefühle (Schauer der Gänsehaut) abschöpfen möchte.

Mehr aus: Feuilleton