»Unsere Geschichte ist geprägt von Verfolgung«
Von Alieren RenkliözFangen wir mit einer Streitfrage an: Gehören die Aleviten zum Islam?
Ich sehe das Alevitentum als eine eigenständige Religion. Unsere Geschichte ist leider geprägt von Verfolgung und Ressentiments. In der Türkischen Republik gab es Pogrome, wie 1978 in Maraş und Genozide wie in Dersim 1937/38, wo über 70.000 Menschen umgekommen sind und noch mal über 70.000 in den Westen deportiert wurden, damit sie ihre alevitische Religion und ihre kurdische Sprache verlieren. Sehr viele Aleviten sind nämlich Kurden. Unser Dachverband ist sich dieser Assimilationsgeschichte sehr bewusst. Wir behandeln die Frage, ob man zum Islam gehört oder nicht, pluralistisch. Es gibt Mitglieder in den alevitischen Gemeinden, die sich als Muslime sehen. Andere distanzieren sich vom Islam, aber die Tendenz ist, dass sich nach und nach die Emanzipation der Aleviten zeigt. Immer mehr Aleviten bekennen sich zum Alevitentum als einer eigenständigen Religionsgemeinschaft.
Kemal Kılıçdaroğlu, der Präsidentschaftskandidat der Oppositionspartei CHP, hat während des Wahlkampfes 2023 öffentlich erklärt, dass er Alevit sei. Müssen sich Aleviten in der Türkei nicht mehr verbergen?
Das war ein großer Schritt, dass der Oppositionsführer gesagt hat: »Ich bin Alevit.« Trotzdem ist der antialevitische Rassismus weiterhin sehr verbreitet, weit über rechte Gruppen hinaus gibt es Ressentiments gegen die Aleviten. Auch innerhalb der CHP werden Aleviten benachteiligt, obwohl sie sich seit Jahren für diese Partei einsetzen.
Wie erklären Sie sich, dass die CHP die Zahl alevitischen Kandidaten für die Kommunalwahlen am 31. März stark verringert hat?
Die CHP galt lange als ein Sammelbecken für Oppositionelle, die zusammen gegen Erdoğan antreten konnten. Leider ist sie aber die klassische und traditionelle Partei Atatürks (Gründer der Republik, jW) geblieben, die sich in gewissen Punkten nicht weiterentwickelt hat. Sie kann sich nicht von der Staatsideologie der Türkei distanzieren. Die Türkei ist systematisch darauf aufgebaut, dass es einen Staat gibt mit nur einer Sprache, einer Religion, einer Identität und einer Kultur. Die CHP kehrt wieder zu dieser Staatsdoktrin des weißen Türken zurück: männlich, muslimisch, hanafitisch. Das erkennen viele Aleviten. Sie merken, dass die alevitische Identität keinen Platz in dieser Partei hat. Ich denke, deswegen treten sehr viele Politiker in der CHP von ihren Positionen zurück, auch Nichtaleviten. Wo dieser Wandel hinführen wird, ob es eine neue Partei geben wird, das ist noch unklar.
In Deutschland leben über 700.000 Aleviten und es gibt 163 Cem-Häuser, alevitische Gebetsorte. Wie steht es um die Aleviten in Deutschland?
Wir als Aleviten haben seit Ende 2020 den Körperschaftsstatus. Durch die Anerkennung als Religionsgemeinschaft im Jahre 2007 haben wir das Recht bekommen, alevitischen Religionsunterricht an deutschen Schulen zu etablieren. Allerdings gibt es auch in Deutschland antialevitischen Rassismus. Die Feindbilder der türkischen Faschisten sind unter den drei Millionen Türkeistämmigen sehr verbreitet. Da kommt es auch zu Ausgrenzungen gegenüber alevitischen Jugendlichen. Wir machen als Verband Aufklärungsarbeit. Wir wollen, dass dieses Phänomen erkannt wird und die Jugendlichen lernen, wie sie reagieren können: Wir müssen uns Diskriminierung und Ausgrenzung nicht gefallen lassen, sondern können aktiv was dagegen tun.
Yılmaz Kahraman ist studierter Islamwissenschaftler und war lange Zeit Vorsitzender des Bundes der Alevitischen Jugend in Nordrhein-Westfalen
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