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22.05.1999 / Ansichten

Kontrolle der Zwischenzonen

Ein Gespräch mit Prof. Domenico Losurdo über den Balkan-Krieg

* Domenico Losurdo ist Professor für Philosophie an der Universität Urbino, Mitglied des »Convents für europäische Philosophie und Ideengeschichte«. Von seinen zahlreichen Büchern erschien zuletzt auf deutsch »Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie«, (1995). In diesen Tagen erscheint in Italien ein von ihm und anderen Intellektuellen herausgegebenes Buch über den Krieg gegen Jugoslawien: »Dal Medio Oriente al Balcani L'alba di sangue del >secolo americano<«. *

F: In einem Appell italienischer Intellektueller, dessen Erstunterzeichner Sie sind, spricht man vom gegenwärtigen Krieg auf dem Balkan als von dem »zweiten großen Kolonialkrieg« nach der Auflösung der Sowjetunion und des »sozialistischen Lagers«. Können Sie bitte diesen Ausdruck näher erklären?

Während die Bombardierungen gegen Jugoslawien wüten, dürfen wir nicht vergessen, was im Nahen Osten vor sich geht. Der Irak, schon seit 1991 vom Krieg heimgesucht, wird weiterhin erbarmungslos gepeinigt. Ich denke dabei nicht nur an die amerikanischen und englischen Flugzeuge, die in der einseitig von Washington und London aufgezwungenen sogenannten »no fly zone« Schießübungen durchführen. Schrecklich sind vor allem die Auswirkungen des Embargos. Ich möchte hier einen Artikel zitieren, der kürzlich in der dem Außenministerium nahestehenden amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlicht wurde.

Offiziell wird verkündet, um zu verhindern, daß das arabische Land Zugang zu Massenvernichtungswaffen bekommt, hat das Embargo im Irak »in den auf den Kalten Krieg folgenden Jahren mehr Tote verursacht als alle Massenvernichtungswaffen im Verlauf der Geschichte«. Heutzutage ist gerade das Embargo die Massenvernichtungswaffe im feinsten Sinne des Wortes. Statt dieser Tragödie ein Ende zu setzen, haben Clinton und seine Komplizen eine weitere Tragödie von vielleicht noch katastrophaleren Ausmaßen hervorrufen wollen. Der geopolitische Plan ist allerdings klar: Nachdem sie den Persischen Golf in einen amerikanischen See verwandelt haben, wollen sich die Vereinigten Staaten jetzt die Kontrolle der Balkanhalbinsel sichern, indem sie das einzige Land exemplarisch »bestrafen«, das in der Region nicht der NATO beigetreten ist und auch nicht den Antrag auf Beitritt gestellt hat.

Wenn sich der Krieg von 1991 auf die Notwendigkeit berufen hatte, die internationale Legalität zu verteidigen, dann proklamiert jetzt die NATO im Krieg gegen Jugoslawien ihr Interventionsrecht heute in den Balkanländern, morgen in der ganzen Welt. Dieser zweite große Kolonialkrieg bildet einen Wendepunkt, weil er von einer gewaltigen militärischen Koalition gegen einen souveränen Staat entfesselt worden ist, wobei diese Koalition ihr eigenes Statut verletzt, das nur Verteidigungsaktionen vorsieht. Die UNO ist vollkommen ausgeschaltet, und wie könnte es anders sein? Auf der Woge des Kampfes gegen den Nazifaschismus (und dessen Anspruch, die Herrschaft der Herrenrasse über die Kolonialvölker und über die der weißen und westlichen Zivilisation fernstehenden Barbaren zu festigen) gegründet, proklamieren die Vereinten Nationen »die Gleichheit aller ihrer Mitglieder«, und jedes Mitglied ist dazu angehalten, die Souveränität, die Unabhängigkeit und die Würde des anderen zu respektieren. Natürlich ist dieser Grundsatz oft und unter den verschiedensten Vorwänden von den Großmächten verletzt worden, aber jetzt wird er ausdrücklich als überholt liquidiert. Das klassische Prinzip der Legitimierung der Kolonialkriege wird dagegen heute wieder aktuell: gleichbedeutend mit Zivilisation, hat der Okzident das Recht und die Pflicht, diese überall auf der Erde zu verbreiten; ein westliches Land oder ein westlicher Staatschef kann nicht auf die Ebene eines »barbarischen« Landes oder Staatschefs gestellt werden.

F: Die NATO erklärt allerdings, stolz darauf zu sein, einen rein humanitären Krieg zu führen; es handelt sich um Erklärungen, die Zustimmung sogar bei angesehenen Intellektuellen finden.

Das Besorgniserregendste ist in der Tat der Verlust des historischen Gedächtnisses. Diese Intellektuellen scheinen vergessen zu haben, daß die Geschichte des Kolonialismus und des Imperialismus insgesamt tief von einer »humanitären« Ideologie durchdrungen ist. Am Vorabend der Eroberung des Kongo (eine besonders fürchterliche Episode der Geschichte) versichert Leopold II. von Belgien: »Unser einziges Programm ist eine moralische und materielle Regeneration des Landes«. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemerkte Hobson, ein englischer Linksliberaler: »Der Imperialismus, dieses kleine, schändliche Ding«, nimmt gerne die »schützenden Farben uneigennütziger Bewegungen« an. Besonders die Deutschen sollten nicht vergessen, daß das Zweite Reich im Verlauf des ersten Weltkrieges mit Max von Baden die Losung vom »ethischen Imperialismus« ausgegeben hatte. Sogar das Dritte Reich machte ohne Bedenken die Menschenrechte und die notwendige Verteidigung einer unterdrückten Minderheit zu seiner Parole. Schlagen wir einmal den Völkischen Beobachter, das Blatt der Nazipartei, am Vorabend der Zerstückelung der Tschechoslowakei auf. Einige Titel mögen genügen: »Schießübungen tschechischer Soldaten auf sudetendeutsche Bauern«. »Wie lange noch Sudetendeutsche vogelfrei?« (9. August 1938). »Blut, Tod und Leid der Sudetendeutschen« (13. August 1938). Mit den entsprechenden Abänderungen glaubt man die amerikanische und europäische große Informationspresse unserer Tage zu lesen.

Was den jetzigen Krieg anbetrifft, liegen die Fakten klar auf der Hand:

1) Milosevic hatte den politischen Teil von Rambouillet (große Autonomie für das Kosovo) akzeptiert und nur die militärischen Klauseln zurückgewiesen, die nicht nur das Kosovo, sondern ganz Jugoslawien in ein NATO-Protektorat zu verwandeln gedachten;

2) Clinton und seine Verbündeten und Komplizen bombardieren auch das Kosovo ins Steinzeitalter (AP-Foto vom 57. Tag der NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien) zurück, das außerdem wegen der Geschosse mit abgereichertem Uran und wegen der allgemeinen ökologischen Katastrophe auch für die zukünftigen Generationen unbewohnbar wird.

F: Clinton konnte bisher auf die Unterstützung der europäischen Verbündeten rechnen, aber es ist schwer zu verstehen: Was kann Europa bei diesem Krieg gewinnen?

Das eine oder andere europäische Land kann darauf hoffen, sich mit dem Einverständnis und dem Wohlwollen Washingtons eine Einflußsphäre in den Balkanländern zu schaffen. Deutschland kann die Dankbarkeit der USA im Auge haben, mit dem Ziel, einen Sitz im Sicherheitsrat der UNO zu erhalten, um damit nicht nur als ökonomische, sondern endlich auch als politische und militärische Größe anerkannt zu werden. Aber alles in allem hat Europa, von einem strategischen Gesichtspunkt aus, nichts zu gewinnen. Mao Tse-tungs Analyse am Vorabend des Ausbruchs des Kalten Krieges kommt mir hier in den Sinn: das Schreckgespenst der sowjetischen »Drohung« an die Wand malend, zielten die Vereinigten Staaten als erste darauf ab, die »Zwischenzonen« und Europa zu kontrollieren, das mit amerikanischen Militärstützpunkten übersät wurde. Nach der Auflösung der Sowjetunion braucht Washington neue Vorwände, um die permanente Kontrolle zu rechtfertigen, die es über einen Kontinent ausüben will, der eines Tages die amerikanische Hegemonie herausfordern könnte ...

Europa wird auf diese Weise in ein Abenteuer hineingezogen, das viele Gefahren birgt. Wir haben es mit einem weltweiten Konflikt zu tun: Ein paar große Mächte kämpfen diesen Krieg schon jetzt auf militärischer Ebene, übrigens mit extremer Brutalität; zwei andere große Mächte (Rußland und China) kämpfen dagegen bis jetzt nur auf politisch-diplomatischer Ebene. In jedem Fall handelt es sich aber um einen Konflikt, der schon heute weltweit ist. Die Vereinigten Staaten, die nach 1991 zwei große Kolonialkriege entfesselt haben, drohen mit ihren hegemonischen und imperialen Ansprüchen, den Planeten in Brand zu stecken. Es wird Zeit, Alarm zu läuten.

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