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Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018

Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018


Referenten aus sieben Ländern, Kunstausstellung und viel Musik: Afrika war der Schwerpunkt der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar 2018 im Mercure-Hotel MOA in Berlin.

  • · Interviews

    »Er hat uns die Geschichte geschenkt«

    Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz wird an den Liedermacher Daniel Viglietti erinnert. Ein Gespräch mit Rolf Becker
    Christof Meueler
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    Gegenseitige Impulse aufgreifen: Rolf Becker im Gespräch mit Daniel Viglietti (r.) bei der Gala zum 70. Geburtstag der jW im Februar 2017 in Berlin

    Bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz treten Sie zusammen mit den Musikern Tobias Thiele und Nicolás Miquea auf. Was werden Sie da machen?

    Ein Gedenken für Daniel Viglietti, den im Oktober verstorbenen Liedermacher aus Uruguay. Ich werde einige Worte über ihn sagen und die Texte seiner Lieder rezitieren, bevor sie von Tobias und Nicolás gespielt werden.

    Mit Daniel Viglietti sind Sie im Februar 2017 auf der Gala zum 70. Geburtstag der jungen Welt in Berlin aufgetreten, dieses Konzert wurde mitgeschnitten und ist auf der CD »Otra Voz Canta« zu hören. Vorher gab es ein Treffen von Viglietti mit Berliner Liedermachern, die nun Ende Februar in der Berliner Wabe ein Gedenkkonzert für ihn spielen werden. Waren Sie bei diesem Treffen dabei?

    Ja, in der Wohnung von Tobias Thiele. Wir haben viel geredet, gesungen, sind anschließend essen gegangen. Tobias und Nicolás sangen ja auch zum Schluss beim jW-Konzert mit, als Daniel sein »A Desalambrar« anstimmte. Das heißt »Entzäunen«, dieses Wort gibt es im Deutschen nicht, bezeichnenderweise. Es meint nicht nur: reißt die Zäune nieder, sondern alle abgrenzenden Vorurteile.

    Konnte Daniel Viglietti Deutsch?

    Wenig. Seit den Siebzigern, als ich ihn in Köln kennenlernte, hatte er viel verlernt.

    Er war noch vor dem Militärputsch in Uruguay 1973 nach Europa emigriert.

    Das wird oft vergessen: Noch vor dem Putsch von Pinochet, September 1973 in Chile, hatte es im Juni einen Militärputsch in Uruguay gegeben. Daniel war aber bereits 1972 von der bürgerlichen Regierung in Uruguay verhaftet worden, weil er mit den Tupamaros, der Stadtguerilla, zusammenarbeitete. Wenige Tage vor dem Putsch kam er frei, weil sich eine internationale Solidaritätskampagne mit dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, Pablo Neruda, Jean-Paul Sartre und anderen für ihn eingesetzt hatte. Sein Glück, wenige Tage später wäre er wie viele seinesgleichen umgebracht worden. So gelang ihm die Flucht über Argentinien nach Frankreich, wo er bis Mitte der 80er Jahre lebte und auch seine Frau Lourdes kennenlernte.

    Wie kam er nach Köln zum WDR, für den er Musik machte?

    Durch César und Graciela Salsamendi – er bildender Künstler, sie Schriftstellerin. Beide arbeiteten im Exil für die Deutsche Welle und den WDR, die damals politisch kritische Sendungen über Lateinamerika produzierten. Graciela hat mit Hein Brühl, Regisseur und Redakteur im Hörfunk, Texte von Daniel ins Deutsche übertragen. Sie ist kurz vor Daniels Konzert für die jW gestorben, das hat ihn tief getroffen.

    Was für Sendungen haben Sie mit Viglietti produziert?

    Etliche – im Archiv des WDR erhalten: »Wir werden nicht schweigen«, 1975, Kommentar in Form eines Hörspiels zum Putsch in Chile. Oder wir haben, angeregt von Heinz von Cramer, Regisseur, Autor und Dirigent, der zum Freundeskreis um die Sasamendis gehörte, stundenlang im Studio improvisiert: ich Geschichten lateinamerikanischer Autoren vorlesend, Daniel, der die Autoren kannte, spontan dazu spielend und singend. Das wurde dann zusammengeschnitten und gesendet.

    Welche Erinnerung haben Sie an den Viglietti von damals?

    Besonders wie ihm die Frauen nachschauten, wenn wir durch die Stadt gingen. Er mit seinem indianisch-schwarzen Haar bis zur Taille und der Gitarre – was für ein Blickfang. Mich hat keiner beachtet (lacht).

    Er hatte auch eine sehr schöne Stimme.

    Ja – und er hat etwas gemacht, was die anderen lateinamerikanischen Musiker so nicht gemacht haben: wie Pablo Neruda mit seinen Gedichten die Geschichte des amerikanischen Kontinents – von Pol zu Pol, vom Atlantik über die Anden bis zum Pazifik – erzählt hat, hat Daniel uns mit seinen Liedern die Geschichte Lateinamerikas geschenkt.

    In einer sehr poetischen Sprache, die er auch benutzte, wenn es um harte politische Inhalte ging.

    Ja, er hat nicht gesungen, dass die Menschen arm sind, weil sie ausgebeutet werden, sondern über die »Negrita Martina«, ein kleines schwarzes Mädchen, und auf diese Weise die historischen und aktuellen Probleme des Kontinents thematisiert.

    Was hören Sie selbst für Musik?

    Eine Musik, die ich geerdet nenne, sozial und politisch bezogen.

    Kein L’art pour l’art.

    So würden wir im Theater sagen. Ich denke, dass auch Beethoven oder Mozart politisch rückgekoppelt waren, obwohl sie heute enthistorisiert werden, als wäre das eine Musik an sich, völlig wertfrei. Unsinn. Der Komponist Anton Webern hat mal gefragt: »Sind Töne Töne oder sind Töne Webern?« Sind sie abstrakt, oder haben sie etwas mit mir und dir zu tun?

    Daniel Viglietti war ein geerdeter Musiker.

    Wie alle lateinamerikanischen Musiker. Er gehörte zu den Top fünf der Liedermacher dieses Kontinents: Víctor Jara, Violeta Parra, die Godoy-Brüder aus Nicaragua und dann er, Daniel.

    Er hatte ein sehr freundliches Wesen.

    Ja, auf eine ganz verhaltene Weise. Er wurde selten laut, blieb zurückhaltend, auch wenn er politische Akzente gesetzt hat. Nach dem Konzert für die junge Welt hat er mich gefragt: »Hast du gemerkt, wie ich deine Impulse aufgegriffen habe?« Ich war bei einzelnen Texten relativ heftig und emotional geworden, und er hat darauf härter in die Saiten gegriffen, hörbarer Stellung bezogen. Wir haben zusammen gespielt: Er hat mich vor zu großer Aggressivität bewahrt und ich ihn vor manchmal zu großer Nachsichtigkeit.

    Wie hat er die politische Entwicklung im heutigen Uruguay eingeschätzt?

    Positiv. José Mujica, ein früherer Tupamaro, ist Präsident geworden – für unsere Verhältnisse undenkbar. In Montevideo, unten am Río de la Plata, ist eine große Gedenkstätte für die Opfer der Militärdiktatur. Daniel hat sie mir gezeigt, obwohl ihm der Weg dahin schwerfiel. In große Glaswände eingeritzt Hunderte von Namen. Freunde von ihm, die gefoltert und ermordet wurden. Daniel sagte nur: »Mein Name fehlt.«

  • · Hintergrund

    Den Aufruhr fördern

    Über Voraussetzungen und Ziele linker Politik. Anmerkungen zur Debatte über die notwendigen Reaktionen auf den gesellschaftlichen Rechtsruck
    Lorenz Gösta Beutin
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    Die Offensive von rechts hat auch das linke Lager erschüttert und progressive Positionen aufgeweicht. (Anti-Merkel-Demonstration am 7. Mai 2016 in Berlin)

    Die AfD hat die Koordinaten der Republik nach rechts verschoben: Die immer neuen Asylrechtsverschärfungen sind ein Ausdruck davon. Die Grünen waren bereit, für die Regierungsbeteiligung sogar eine Obergrenze, genannt »atmender Rahmen«, zu akzeptieren. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von Bündnis 90/Die Grünen bedient rassistische Stimmungen, indem er angebliche Flüchtlinge beim Schwarzfahren fotografiert. Außenminister Sigmar Gabriel fabuliert, Klimaschutz, Gleichstellung oder Datensicherheit seien Themen der »Postmoderne«. Die Sozialdemokratie müsse sich jetzt auch solchen wie »Leitkultur« oder »Heimat« zuwenden.

    Diese Debatte macht vor der Partei Die Linke nicht halt: Oskar Lafontaine, ihr früherer Vorsitzender, meint, die Forderung aus dem Parteiprogramm nach »offenen Grenzen« sei eine des Neoliberalismus. Seine Partei betreibe damit einen »Nationalhumanismus«, weil sie die Flüchtlinge außerhalb der deutschen Grenzen nicht beachte. Ihre Flüchtlingspolitik sei »genauso falsch wie die der anderen Parteien«, sagte er Ende Dezember im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

    Grenzenlose Solidarität

    Zwar ist die Ideologie des Neoliberalismus die der »Freiheit«. Diese gilt aber nur für die, die sich das leisten können. Sie gilt für den Warenverkehr, der für die Staaten des globalen Südens nicht viel mehr als die alte kolonialistische Ausbeutung bedeutet. Kurz: Die Freiheit gilt für das Kapital. Für die Nichtbesitzenden, die »Working poor« der Welt, sind dieser Freiheit Schranken gesetzt – durch den Mangel an Kapital oder brutal durch das Grenzregime an den Rändern der kapitalistischen Zentren. Das Gerede »Wir können ja nicht alle aufnehmen« zeugt von einem etatistischen Politikverständnis. Die Linke ist eben nicht in der Situation, entscheiden zu müssen, wer rein darf und wer draußen zu bleiben hat. Linkssein heißt heute, sich dieser inhumanen Logik zu entziehen, sich auf die Seite all derer zu stellen, die Beherrschte eines sich weiter brutalisierenden Systems sind. Deswegen ist die grenzenlose Solidarität die Stärke und nicht die Schwäche linker Bewegungen, zumal in einer Zeit, in der das Kapital längst global agiert.

    Was also wäre den Erzählungen von rechts, dem gesellschaftlichen Rollback entgegenzusetzen? Es wäre eine linke Erzählung von Solidarität, von einer Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit miteinander verbindet. Das klingt theoretisch, ist aber letztlich sehr konkret: Zwar ist der rechte Diskurs in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie der Medien enorm präsent. Doch sind es Millionen Menschen, die in den sozialen Netzwerken, in den Vereinen und Verbänden, in Bündnissen und Gewerkschaften und nicht zuletzt in der Linkspartei der Rechtsentwicklung etwas entgegensetzen.

    Wenn von einer »Sammlungsbewegung« die Rede ist, sollte darunter nicht das Phantasma einer »linken Volkspartei« verstanden werden. Das hieße, dem Irrglauben aufsitzen, Bewegungen wären etwas, was von oben in Gang gesetzt werden könnte. Im Zweifelsfall wäre das Ergebnis nicht mehr als ein autoritärer Wahlverein. Für die Linkspartei müsste eine Sammlungsbewegung vielmehr bedeuten, sich noch stärker zu öffnen, offensiver die eigenen Zukunftsvorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen, mit dem Mut zu sagen, dass es in letzter Konsequenz eben um eine ganz andere Gesellschaft geht, jenseits des Kapitalismus. Die Partei müsste sich als organisierendes Zentrum innerhalb der gesamten Linken betrachten, die gesellschaftliche Gegenmacht bündelt und in die Parlamente trägt. In der aktuellen Debatte sind dazu zwei Fragen zu klären: In den Wahlauswertungen des letzten Jahres war die Rede davon, die Milieus der Wählerinnen und Wähler der Linkspartei hätten sich verändert. Weniger Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern mehr Menschen aus urbanen, modernen Milieus hätten sie gewählt. Wer so interpretiert, fällt auf die Verfechter des Neoliberalismus herein, der die Parzellierung der Gesellschaft perfektioniert hat. Sicher nimmt sich die selbständige »Crowdworkerin«, die 60 Stunden in der Woche auf sich gestellt am Laptop arbeitet, nicht unbedingt als Teil der »Arbeiterklasse« wahr. Auch Pflegekräfte sehen sich, nach ihrem Status befragt, eher als »Angestellte«, nicht als »Arbeiter«. Auch darin manifestiert sich die Spaltung der Gesellschaft.

    Das Verbindende aufzeigen

    Aufgabe linker Politik müsste sein, das Verbindende der Milieus aufzuzeigen, ohne deren Verschiedenheiten zu negieren. Das Gemeinsame: Keiner gehört zur Seite des Kapitals, keiner verfügt über die Produktionsmittel, alle sind in der ein oder anderen Weise von Lohnzahlungen oder Sozialleistungen abhängig, kurz: Sie befinden sich nicht auf der Seite der Herrschaft im Kapitalismus. Damit haben sie etwas gemeinsam mit der großen Mehrheit der Menschheit, ob in den kapitalistischen Zentren oder in der Peripherie. Sich dieses Bewusstsein wieder zu erarbeiten und es öffentlich zu vertreten, ist sicher nicht einfach angesichts der jahrzehntelang eingetrichterten neoliberalen Ideologie. Es sollte aber Ausgangspunkt jeder Frage nach politischer Organisierung sein.

    Die zweite Frage ist die nach den Politikfeldern. Rechte agitieren gegen Geschlechtergerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel, Antirassismus und Solidarität mit den Flüchtlingen. Eine linke Politik, die in Haupt- und Nebenwiderspruch denkt, ist in gewisser Weise empfänglich für deren reaktionäre Argumentationen, wie sich an Gabriel und Lafontaine zeigt: Zentral seien allein Lohnpolitik und die klassische »Industriearbeiterschaft«, die anderen Themen seien im besten Fall Beiwerk, im schlimmsten Ausdruck von »Postmoderne« oder Neoliberalismus.

    Dem entgegen müsste linke Politik bedeuten, jeden emanzipatorischen Aufruhr gegen Herrschaft, jede subversive Aktion zu unterstützen, die der Erkenntnis dient, dass diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern ist, dass ein Leben jenseits kapitalistischer Wertvergesellschaftung erstrebenswert ist: Die Kämpfe um Klimagerechtigkeit, ob sie in Peru oder Indonesien oder im Hambacher Forst bei Köln ausgetragen werden, tragen in sich den Kern der Systemveränderung: Dass es so nicht weitergeht mit dem ungebremsten Wachstum, mit der absoluten Dominanz der Profitlogik, dass nur internationale Solidarität und entschiedenes Handeln dazu führen, dass diese Menschheitsfrage positiv entschieden werden kann; dass längst mehr Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen – das alles erweitert in notwendiger Weise den Diskurs zur Flüchtlingspolitik. Hier ist längst deutlich, dass Menschen nicht allein vor individueller Verfolgung flüchten, sie verlassen ihre Heimat aufgrund von Hunger in Folge der globalen Erwärmung und einer Exportpolitik, an denen auch deutsche Konzerne und der deutsche Staat einen erheblichen Anteil haben, sie fliehen vor Bürgerkriegen und vor unhaltbaren Zuständen. Solidarität mit den Flüchtlingen bedeutet, sich gegen all diese Fluchtursachen zu wenden. Deutsche Wirtschaftsinteressen werden global abgesichert durch Auslandseinsätze, durch Waffenlieferungen in die Kriege dieser Welt. Wenn sich in Deutschland die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet, so geschieht das global in unermesslicher, nie dagewesener Form. Dabei besitzen acht Männer soviel Geld wie 3,6 Milliarden Menschen. Frauen erledigen zwar laut UNO zwei Drittel der weltweiten Arbeit, beziehen aber nur zehn Prozent des globalen Einkommens und verfügen nur über ein Prozent des gesamten Eigentums. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zeigt sich global noch brutaler als auf nationaler Ebene, auch von den Folgen des Klimawandels sind Frauen und Mädchen stärker betroffen als Männer.

    Deutlich wird: Die Fixierung allein auf eines dieser Themen hieße, auf eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für linke Politik zu verzichten. Dagegen muss eine emanzipatorische Klassenpolitik in der Lage sein, all diese Ansätze für widerständige Theorie und Praxis miteinander zu verbinden: Antifaschistische und antirassistische Politik gehören genauso dazu wie Antimilitarismus und Friedenspolitik, wie der Kampf gegen die Kohleverstromung und für Klimagerechtigkeit, wie die Kämpfe um gute Arbeit und gute Löhne, gegen das Sanktionsregime von Hartz IV und für die Achtung der Menschenwürde sowie für eine queer-feministische Politik. Linke Praxis bedeutet, das Gemeinsame dieser Bewegungen gegen die Herrschaft herauszuarbeiten, ohne die Notwendigkeit des Handelns in diesen Bereichen in Frage zu stellen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass diese Kämpfe nicht allein im nationalen Rahmen ausgefochten werden, sondern ebenso auf europäischer Ebene und in allen Teilen der Welt. Deshalb ist, nein, muss internationale Solidarität Ausgangs- und Endpunkt jeder linken Politik sein.

  • · Berichte

    Neokoloniale Handelspraktiken

    Vom Kakao- und Kaffeeverkauf profitiert Europa mehr als Afrika
    Fabian Wagner
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    Ein Arbeiter der Export Firma SAF CACAO in San Pedro, Côte d'Ivoire, hält Kakaobohnen in seiner Hand (29. Januar 2016)

    Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten geben viel Geld dafür aus, jungen Menschen in Afrika zu erzählen, wie schön ihr eigenes Land ist. Gleichzeitig tragen ihre Handelspraktiken entscheidend dazu bei, dass der Kontinent der Bevölkerung nicht viel zu bieten hat.

    Ein Beispiel: Das Hauptexportprodukt der Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) ist Kakao. Mit einem jährlichen Wert von 3,75 Milliarden US-Dollar macht der Rohstoff rund ein Drittel aller Exporte des Landes aus. Die EU hingegen exportiert jedes Jahr Schokolade im Wert von 18 Milliarden US-Dollar. Das sind 75 Prozent der globalen jährlichen Schokoladenexporte. Der gesamte afrikanische Kontinent, wo die Kakaobäume ja unter anderem bekanntlich wachsen, bleibt mit weniger als 200 Millionen US-Dollar weit dahinter zurück. Wie kann es sein, dass Europa, wo ein Kakaobaum außerhalb eines Tropenhauses nicht überleben würde, 90mal soviel Geld mit Schokolade macht als Afrika, wo die Hauptzutat wächst?

    Die Antwort ist einfach: Handelsbeziehungen, die sich seit der Kolonialzeit kaum verändert haben. Die Zollpolitik gegenüber den afrikanischen Staaten erlaubt den freien Import von Kakaobohnen nach Europa. Verarbeitete Produkte, zum Beispiel Schokolade, werden jedoch mit Einfuhrzöllen belegt, die eine Verarbeitung des Kakaos vor Ort unrentabel machen. Die großen Profite werden dort generiert, wo die Bohnen verarbeitet werden.

    Wollte Europa ernsthaft etwas gegen Fluchtursachen unternehmen, beispielsweise durch die Schaffung von Jobs, wäre eine entsprechende Anpassung der Handelspolitik ein guter Ausgangspunkt. Würde der Kakao in Westafrika zu Schokolade verarbeitet, würden dazu mit einem Mal Tausende, wenn nicht sogar Millionen Jobs geschaffen. Ganze Produktionsketten könnten entstehen, die mit Blick auf die wachsende Bevölkerung Afrikas auch dringend benötigt werden. EU und Afrikanische Union kennen diese Fakten und geben vor, daran zu arbeiten. Die europäische Handelspolitik aber »pro-poor« zu gestalten, also im Rahmen der vielzitierten Harmonisierung aller Politikbereiche im Sinne der Armen, hat für Europa scheinbar keine Priorität.

    Das trifft nicht nur Côte d’Ivoire. Ein anderes Beispiel ist Äthiopien, das Heimatland des Kaffeebaums. Deutschland alleine aber macht mehr Geld mit dem Kaffeehandel als ganz Afrika zusammen. Von den Steuern, die der deutsche Staat unter anderem durch den Handel von äthiopischem Kaffee und ivorischem Kakao kassiert, wird dann ein winziger Teil durch die deutsche staatliche Entwicklungsorganisation GIZ für Konferenzen in Afrika ausgegeben, auf denen »afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme« diskutiert werden.

  • · Hintergrund

    Fluchtursache Kapitalismus

    Soziale Frage und Flüchtlingselend. Internationale Solidarität muss in diesen Zeiten auch im eigenen Land geübt werden und bedeutet, gemeinsam zu kämpfen
    Günter Pohl
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    Einander fremd. Von der Polizei eskortierte Migranten am 20. Oktober 2015 in der Gemeinde Wegscheid bei Passau

    Die neokolonialen Kriege des Westens hinterließen seit 1990 Millionen Tote und machten Dutzende Millionen Menschen zu Flüchtlingen. Die Migranten aber kommen in Gesellschaften, in denen verschärfte Konkurrenz unter Lohnabhängigen und Entsolidarisierung zu den wichtigsten Waffen im Klassenkampf von oben geworden sind. Der Aufstieg rassistischer und neofaschistischer Organisationen, die demagogisch die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung aufgreifen, begleitet diese Entwicklung wie schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

    Auf der anderen Seite wird innerhalb der Linken um internationalistische und solidarische Positionen gerungen. Die längst wieder akute soziale Frage steht dabei oft nicht im Mittelpunkt von Debatten. Rückt der Kampf gegen die westlichen Kriege, die eine Hauptursache der Fluchtbewegungen sind, in den Hintergrund? Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Wir stellen auf diesen Seiten in der heutigen und morgigen Ausgabe die Positionen der vier Diskutanten vor. (jW)

    Internationale Solidarität muss sich heute infolge einer von Kriegen, Verelendung und Umweltbedingungen erzwungenen Migration nicht mehr nur am Erfolg einer Informierung und Mobilisierung hier lebender Menschen für Ereignisse anderswo messen lassen, sondern auch daran, was sie für Menschen tut, die herkommen mussten, um ihrer unerträglichen Situation zu entfliehen.

    Die Unterbringung von Geflohenen und Vertriebenen hat Auswirkungen auf diejenigen Menschen, die schon früher hergekommen sind oder schon immer hier leben, egal welcher Nationalität oder welchen Ursprungs sie sind, mit denen dann fortan der ohnehin schon knappe Wohnraum, prekäre Arbeitsplätze, Bildungschancen oder eine miserable Gesundheitsversorgung zu teilen sind. Das ist durchaus gewollt, wird zumindest billigend in Kauf genommen und führt auch zur Vertiefung von Ressentiments. In kaum einer Stadt werden Flüchtlingsunterkünfte in die Viertel Wohlhabender gesetzt. Und wenn doch, so sind die einheimischen Nachbarn immer noch nicht jenem Druck auf dem Wohnungsmarkt oder dem Arbeitsmarkt ausgesetzt, den die Arbeiterklasse in diesem Land erstens grundsätzlich und zweitens in vielen Städten verschärft wahrnimmt. Hierher geflohene Menschen werden als Lohndrücker missbraucht. Angela Merkel hatte mit ihrem »Wir schaffen das« kaum die Mittelschichten und schon gar nicht die Besitzenden gemeint. »Wir schaffen das« bedeutete von Anfang an, dass die Arbeiterklasse den Gürtel enger zu schnallen habe.

    Internationale Solidarität muss daher heute auch hierzulande geübt werden. »Unsere Willkommenskultur heißt, gemeinsam zu kämpfen«, formulierte die Deutsche Kommunistische Partei 2015 ihren Ansatz. Sie reagierte damit auf die Konkurrenzsituation zwischen denen, die kommen und denen, die schon hier waren. Ein koordinierter Kampf für die gemeinsamen Interessen der Menschen mit und ohne Arbeit, der Menschen mit und ohne deutschen Pass, wird am ehesten allen eine Verbesserung ihrer Situation bringen. Dazu gehören Investitionen in sozialen Wohnungsbau, in das Gesundheitswesen, in Schulen; dafür müssen Hunderttausende Stellen im Kranken- und Pflegebereich, im Baugewerbe und im Bildungswesen geschaffen werden. Der Mindestlohn muss erhöht, der Rüstungsetat zusammengestrichen werden.

    Die Verantwortlichen benennen

    Kriege, Verelendung, vom Menschen verschuldete Umweltkatastrophen – die Analyse der Fluchtursachen ist immer eine, die die Verantwortung des die Menschen und die Natur beherrschenden Wirtschaftssystems nicht ausklammern darf. Wer nicht verinnerlicht, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen, wie es der französische Sozialist Jean Jaurès formuliert hatte, der wird zwar noch einen Zusammenhang zwischen Krieg und Flucht herstellen können, aber bei der Bekämpfung der Fluchtursachen scheitern, wenn er den Kapitalismus nicht bekämpfen will. Wer zwar einerseits davon überzeugt ist, dass zum Beispiel die Fischerflotten von EU-Staaten vor afrikanischen Küsten für die Zerstörung der örtlichen Fischerei verantwortlich sind oder dass EU-Billigexporte in abhängige Staaten die dortige Ökonomie schleifen, aber andererseits die imperialistische Europäische Union weder als solche analysiert noch entsprechend bekämpft, der dringt auch in diesem Fall nicht zum Kern des Problems vor. Und wem klar ist, dass nicht wenige der Umweltereignisse auf den Klimawandel zurückzuführen sind, dann aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die nationalen und internationalen Monopole nicht angreifen will, lässt diejenigen, die den Auswirkungen des Klimawandels nur wenig ökonomisches Potential entgegensetzen können, im Stich.

    Der Kapitalismus und damit einhergehend der Imperialismus hat diese Prozesse schon immer befördert, aber im 21. Jahrhundert scheinen sich die negativen Auswirkungen zu potenzieren, noch verstärkt durch eine Zunahme der weltweiten Bevölkerung. Eine solidarische Linke muss also zuallererst den Kampf gegen den Kapitalismus führen – oder sie ist keine Linke. Und sie muss benennen, was denn auf den Kapitalismus folgen soll. Für Kommunistinnen und Kommunisten ist das der Sozialismus. Uneindeutige Begriffe wie »solidarische Gesellschaft«, »nachkapitalistische Ordnung« oder »Wirtschaftsdemokratie« zeugen von einer gewissen Furcht, sich zu bekennen, was bei manchen der linken Aktivisten damit zu tun haben mag, dass sie die Art und Weise kritisieren, wie der Sozialismus im 20. Jahrhundert aufzubauen versucht wurde. Aber es hat vor allem mit der Idee zu tun, man müsse nur irgendwelche »Auswüchse« oder »Fehlentwicklungen des spekulativen Finanzkapitalismus« beseitigen, und schon sei alles wieder so friedlich-freundlich wie im westdeutschen »rheinischen Kapitalismus« der Adenauer-Zeit, der ja inzwischen manchen als Modell dient, die von sich sagen, sie seien Linke. Allein gegen vermeintliche Erscheinungsformen des Kapitalismus zu kämpfen, heißt entweder in ihm einen grundsätzlich guten Kern zu sehen oder Illusionen zu verbreiten.

    Nicht antikapitalistisch zu handeln schmälert natürlich nicht notwendigerweise das Potential für eine solidarische Praxis, aber klassenneutrales Agieren behindert zum einen die Bemühungen um Nächstenliebe und verlängert zum anderen der Klassengesellschaft das Leben. Das unterscheidet im übrigen den Begriff der »internationalen Solidarität« vom Internationalismus, dem als Basis die Klassensolidarität zugrunde liegt, weshalb – der Form nach unmodern, dem Inhalt nach zutiefst aktuell – früher vom »proletarischen Internationalismus« gesprochen wurde.

    Internationalistische Hilfe

    »Die internationale Solidarität ist kein Akt der Barmherzigkeit: Sie ist ein Akt der Einheit von Verbündeten, die in unterschiedlichen Gebieten für die Erfüllung desselben Ziels kämpfen. Das allererste dieser Ziele ist es, die Entwicklung der Menschheit auf das höchstmögliche Niveau zu befördern«, sagte der ehemalige Präsident Moçambiques, Samora Machel.

    Moçambique und andere Staaten des südlichen Afrikas haben den Internationalismus Kubas erfahren, der mithalf, sie in die Unabhängigkeit zu führen. Die veränderte Weltlage führte beim selbst immer noch finanziell und wirtschaftlich blockierten Kuba zu veränderten Formen internationalistischer Hilfe wie der medizinischen Programme, aber sie blieb internationalistisch. Solcher Hilfe liegt das Motto zugrunde: »Solidarität bedeutet nicht zu geben, was man übrig hat – sie bedeutet zu teilen, was man hat.«

    Diese staatlichen Möglichkeiten haben einzelne Linke nicht, oft auch nicht solche, die in Parteien zusammengeschlossen sind. Und wer würde tatsächlich alles teilen können, was er oder sie hat? Hiesige Solidaritätsarbeit kann meist nicht über Sammlungen von Geld oder Informationsveranstaltungen hinausgehen, was den Zustand und die Möglichkeiten der Linken in einem der höchstentwickelten imperialistischen Länder entsprechend beschreibt.

    Aber über karitative und informierende Maßnahmen hinaus können und müssen Linke die Dinge wenigstens benennen, wie sie sind, und aus dieser Analyse heraus an den richtigen Stellen Widerstand entwickeln. Dazu gehört auch, die Gründe anzuführen, die Menschen in die Flucht treiben. Fluchtverursacher Nummer eins sind die Kriege der NATO-Staaten, und dazu gehören die Rüstungsgeschäfte, bei denen Deutschland immer ganz vorn dabei ist. Deshalb sollten auch antiimperialistische Positionen in die Friedensbewegung hineingebracht werden.

    Und es geht darum zu wissen, welche Partner, und sei es auf Zeit, auf dem schwierigen Weg hilfreich sind. Das Beispiel Syrien hat gezeigt, wohin die Unterstützung des »Islamischen Staates« durch imperialistische Mächte geführt hat. Am Ende hat das einzige Land, das von der syrischen Regierung für ein Eingreifen autorisiert wurde, für eine Rückkehr von mehreren Hunderttausend Flüchtlingen gesorgt, nachdem Aleppo vom IS befreit war. Das militärische Eingreifen der Russischen Föderation war eine Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung, territoriale Integrität und Nichteinmischung. Diese Prinzipien sind die wichtigste Bastion gegen kapitalistische Kriege um Rohstoffe, regionale Neuordnung und Umzingelung künftiger militärischer Gegner, wie es die Russische Föderation und die Volksrepublik China sind. Deshalb ist die Verteidigung der Vereinten Nationen und ihrer Grundsätze ein wirksames Mittel gegen Flucht und Vertreibung. Und damit ein Akt der internationalen Solidarität.

  • · Berichte

    Waffen für Nordafrika

    Immer mehr deutsche Rüstungsgüter werden nach Ägypten, Algerien, Marokko und Tunesien verkauft. Im Interesse von Bundesregierung und Konzernen
    Jörg Kronauer
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    Vizeadmiral Ahmed Khaled (r.) freute sich über ein neues U-Boot, Andreas Burmester (Thyssen-Krupp) über den Gewinn (Kiel, August 2017)

    Die Bundesregierung hat 2017 Rüstungsexporte in Rekordhöhe nach Ägypten und in Milliardenhöhe an Algerien genehmigt. Dies geht aus der Antwort der Regierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor. Demnach hat der Bundessicherheitsrat von Januar bis Mitte November 2017 der Lieferung von Rüstungsgütern im Wert von 428 Millionen Euro an Ägypten zugestimmt. Algerien darf Produkte deutscher Waffenschmieden mit einem Volumen von mehr als 1,1 Milliarden Euro kaufen. Damit zählen die beiden Länder im Gesamtjahr 2017 offensichtlich erneut zu den Top fünf der Käufer deutschen Kriegsgeräts weltweit. Die Genehmigungen erfolgten, obwohl insbesondere Ägypten, aber auch Algerien wegen Menschenrechtsverletzungen scharf kritisiert werden und obwohl – vielleicht aber auch weil – sie in Konfliktregionen liegen.

    Ägypten hat sich im vergangenen Jahr unter anderem die Lieferung von Luft-Luft-Lenkflugkörpern des Typs »Sidewinder« aus dem Hause Diehl Defence sowie die Lieferung von U-Booten aus der Produktion von Thyssen-Krupp Marine Systems genehmigen lassen. Insgesamt wird das Land vier deutsche U-Boote erhalten, zwei wurden bereits an die ägyptische Marine übergeben. Berlin ist unter anderem aus geostrategischen Gründen viel an guten Beziehungen zu Ägyptens Militär gelegen: Der Suezkanal und das Rote Meer, das von der ägyptischen Marine kontrolliert wird, sind Teil eines der für Deutschland wichtigsten Seewege. Desjenigen, der nach Asien führt.

    Im Roten Meer beteiligt sich die ägyptische Marine zudem an Operationen im Zusammenhang mit Saudi-Arabiens Krieg im Jemen. Riad sucht den Sieg unter anderem mit einer Hungerblockade zu erzwingen, die auch jemenitische Häfen am Roten Meer betrifft. Mit Blick auf die Rüstungsexporte ist anzunehmen, dass Riads Krieg im Jemen, der sich gegen eine etwaige Einflussnahme Irans auf das Land richtet, den Interessen Berlins entspricht: Saudi-Arabien, dessen Marine die Hauptverantwortung für die Blockade trägt, wird gegenwärtig mit deutschen Patrouillenbooten beliefert.

    Die umfangreichen Rüstungsexporte an Algerien spiegeln ihrerseits zweierlei wider. Zum einen hat das Land zuletzt zwei teure deutsche Fregatten erhalten. Deutsche Marinekreise verbinden mit der Lieferung die Hoffnung, Algier werde künftig enger »mit europäischen Mittelmeermarinen« kooperieren, wie das Fachblatt Marine Forum Ende 2015 berichtete. Zum anderen hat Rheinmetall in Zusammenarbeit mit dem algerischen Verteidigungsministerium einen Ableger nahe Constantine gegründet; Rheinmetall Algérie soll Radpanzer des Modells »Fuchs« für die algerischen Streitkräfte herstellen. Daimler wiederum lässt in der Nähe von Algier Geländewagen und »Unimogs« montieren, mit denen ebenfalls die algerische Armee ausgestattet wird. Berlin setzt darauf, dass Algier auch weiterhin die Wüstengebiete des Landes scharf kontrolliert, um die Reise von Flüchtlingen ans Mittelmeer zu verhindern.

    Ebenfalls mit Rüstungslieferungen bedacht wurden Marokko (11 Millionen) und Tunesien (58 Millionen). Tunesien hat unter anderem deutsche Sturmgewehre erhalten. In dem Land wurde am Montag bei Demonstrationen gegen steigende Preise und Steuererhöhungen ein Demonstrant getötet. Die Proteste weiteten sich zuletzt aus. Gewalttätige Zusammenstöße wurden aus mindestens zehn Städten gemeldet. Auf deutsche Waffen können die tunesischen Repressionsbehörden nach wie vor zählen.

  • · Berichte

    Konferenzgast: Clotilde Ohouochi

    Die ehemalige Kolonialmacht entschied den Machtkampf: Am 11. April 2011 rückten in Côte d’Ivoire französische Kampfhubschrauber und Panzer auf die Residenz des Präsidenten Laurent Gbagbo vor. Damit endeten monatelange Auseinandersetzungen zwischen dem Staatschef und dessen vom »Westen« unterstützten Widersacher Alassane Ouattara. Im Dezember 2010 hatten sich beide zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt. Eine von Gbagbo und dessen Ivorischer Volksfront (FPI) daraufhin vorgeschlagene Neuauszählung der Stimmen wurde von Ouattara und seinen Hintermännern in Paris, Washington und bei den Vereinten Nationen abgelehnt. »In der Folge kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Lagern, wobei Ouattara vom Westen unterstützt wurde«, berichtete die frühere Sozialministerin des westafrikanischen Landes, Clotilde Ohouochi, im vergangenen Sommer im Gespräch mit junge Welt.

    Ohouochi arbeitete zwischen 2000 und 2011 als Ministerin für Solidarität, Gesundheit und soziale Sicherheit. Nach dem Sturz Gbagbos und der einsetzenden Repression gegen dessen Gefolgsleute und gegen Mitglieder der FPI floh sie über Belgien nach Frankreich, wo sie Asyl beantragte und heute lebt. »Als Ministerin habe ich an der Einführung einer obligatorischen Gesundheitsversicherung mit nach Einkommen gestaffelten Beiträgen gearbeitet. Das war dringend notwendig, denn die Lebenserwartung lag bei lediglich 50 Jahren. Viele Menschen sind gestorben, weil sie einfach nicht das Geld hatten, um zum Arzt zu gehen. Das hat Ouattara gestoppt. Er hat ein Gesetz verabschiedet, nach dem jeder dieselbe Prämie entrichten muss. Während Gbagbo die Armutsquote auf etwa 30 Prozent senkte, liegt sie nun wieder bei 50 Prozent«, so Ohouochi gegenüber jW.

    Bei einer Ende Juni 2017 von der Hamburger Linksfraktion im Umfeld des G-20-Gipfels organisierten Veranstaltung betonte Ohouochi, dass es den westlichen Mächten nach wie vor um die Ausplünderung Afrikas gehe. Es sei ein Paradox, dass ein an sich reicher Kontinent mit riesigen Rohstoffvorkommen und fruchtbaren Böden ökonomisch so arm sei. Ursache dafür sei, dass westliche Konzerne diese Ressourcen ausbeuteten und ihre Profite abschöpften, statt sie zu investieren – und weil Afrikas Regierungen das zuließen.

    Bei der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am Sonnabend in Berlin spricht Clotilde Ohouochi über das Thema »Die imperialistischen Einmischungen in Afrika, vor allem des französischen Imperialismus, am Beispiel der Elfenbeinküste«. (scha)

  • · Berichte

    »Mein Paradies ist hier!«

    Die Europäische Union finanziert in Afrika Propagandaveranstaltungen gegen Migration. Über die strukturellen Ursachen dieser schweigt sie
    Fabian Wagner
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    Umhängetaschen zum Mitnehmen im Kinosaal des Französischen Instituts in Abidjan im Rahmen einer Nebenveranstaltung des EU-Afrika Gipfels 2017. Aufschrift: »Nein zur ungeregelten Migration!«

    Was für eine bizarre Szene an diesem heißen Novemberabend in Abidjan, der Hauptstadt der westafrikanischen Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste): ein Stadion, gefüllt mit jungen Menschen, skandiert auf Geheiß des ivorischen Fußballsuperstars Didier Drogba: »Ich schwöre, ich wandere nicht aus! Ich schwöre, ich wandere nicht aus! Ich schwöre, ich wandere nicht aus!« Die Menge eingeheizt hatte die auch international bekannte ivorische Band »Magic System« auf der Veranstaltung am Vorabend des 5. Gipfeltreffens von Afrikanischer und Europäischer Union (AU-EU). Das Stadion brummt unter Rufen und Gesängen Hunderter junger Leute, die alle auf die Ankunft Drogbas warten, eines Idols der ivorischen Jugend. Es handelte sich nicht um ein einfaches Konzert. Vielmehr befand ich mich inmitten eines von der EU finanzierten Propagandaevents gegen Migration. Die kurzen Ansprachen zwischen den Songs, Drogbas Rede, die Interventionen der hochrangigen Gäste, alles hatte die gleiche Botschaft: »Auswandern ist keine Lösung für unsere Probleme«, sagte der Sänger der Band. »Die beste Art, glücklich zu werden, ist, hier bei uns zu bleiben.« Die Ehrengäste, darunter die Minister für Jugend und Kultur, folgten in gleicher Manier: »Wir haben dieses Konzert nicht nur organisiert, um Jugendliche über die praktische Ausbildung zu informieren, sondern vor allem, um über illegale Migration aufzuklären.«

    »Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen« sind ein zentraler Bestandteil von Europas »Fluchtursachenbekämpfung«. Der 2015 geschaffene Nothilfetreuhandfonds der EU »zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen von irregulärer Migration und Vertreibungen in Afrika« stellt eine Million Euro für »die Schaffung eines Bewusstseins für die Gefahren der illegalen Migration« bereit. Einzelne Mitgliedsstaaten geben für ähnliche Maßnahmen noch einmal zusätzliches Geld.

    Das Konzert war nicht die einzige Nebenveranstaltung des EU-AU-Gipfels in Abidjan. Einige Tage später fand ich mich im Publikum einer Podiumsdiskussion wieder, bei der acht Gäste zwei Stunden über Fluchtursachen diskutierten, ohne dass ein einziges Mal die Rolle Europas zur Sprache gekommen wäre. Finanziert vom Auswärtigen Amt und unterstützt von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), organisierte das Französische Institut in Abidjan eine Diskussion und Filmvorführung darüber, wie die Debatte um Migration »entemotionalisiert« werden könne. In Wahrheit war die Veranstaltung selbst jedoch voller Emotionen: traurige Gesichter von Müttern, die ihre flüchtenden Kinder an die See verloren haben, gruselige Filmaufnahmen toter Körper, die an die Strände des Mittelmeers schwappen, verstörende Handyclips eines Mannes, der in einer libyschen Zelle verzweifelt »Helft mir!« flüstert, bevor er von seinen Peinigern ins Gesicht geschlagen wird, und zum Schluss deprimierte Geflüchtete, die, zurück in Westafrika, aus dem Abschiebeflieger steigen. Die Botschaft hätte nicht klarer sein können: Wenn du emigrierst, passiert dir all das, und du bist selbst Schuld.

    Im Raum sind Infomaterialien verteilt, die das noch einmal wiederholen. »Nein zur ungeregelten Migration!« steht auch auf der Vorderseite der Umhängetaschen, die auf Stühlen zum Mitnehmen liegen. Auf der anderen Seite in den Umrissen der Côte d’Ivoire : »Mein Paradies ist hier.« Ein Poster proklamiert: »Das Meer tötet, die Wüste auch. Nein zur illegalen Migration!« Dasselbe ist auch auf großformatigen Werbeplakaten zu lesen, die entlang der Hauptfluchtrouten in ganz Westafrika aufgestellt wurden.

    Einige Wochen vor meinem Aufenthalt in Abidjan besuchte ich in der Hauptstadt Äthiopiens, Addis Abeba, eine Konferenz der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Für »Africa talks Jobs« wurden mehr als 300 Jugendliche aus Afrika und Europa eingeflogen, um darüber zu diskutieren, wie Afrikas Jugend in Arbeit gebracht werden kann, vor Ort natürlich. Europas Rolle war wieder nur auf die des wohlwollenden Unterstützers beschränkt. Kritische Stimmen? Fehlanzeige.

    Die Beispiele zeigen, wie riskant es für progressive Kräfte ist, blind auf den Zug der Erzählung von der »Fluchtursachenbekämpfung« aufzuspringen. Im besten Fall ist das nur ineffizient. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die Erzählung von den eigentlichen Problemen ablenkt und der Erhaltung des ungerechten Status quo dient. Für linke und progressive Kräfte kann die Bekämpfung der Fluchtursachen nur heißen, systemische Veränderungen anzustoßen. Würde Europa sein ausbeuterisches Handelssystem ändern, anstatt Fußballspieler zu Propagandainstrumenten zu machen, wer weiß, vielleicht wäre Côte d’Ivoire dann wirklich ein Paradies für die eigene Jugend.

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    Fenster in die Zukunft

    Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe ist am Sonnabend Gast der Rosa-Luxemburg-Konferenz
    Arnold Schölzel
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    Neuvermessung des Kapitalismus: Am Samstag wird Achille Mbembe bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin sprechen

    Afrika, sagte der Philosoph und Historiker Achille Mbembe 2014 der Zeit, »ist der Name des Kontinents, von dem man immer meinte, nichts Universelles könne dort entstehen. Afrikaner waren törichte Kinder. Aber Afrika ist nicht die Vergangenheit der Welt, sondern es ist wie ein Fenster: Von dort sieht man die Zukunft.«

    Die Thesen des 1957 in Kamerun Geborenen, heute in Johannesburg als Professor Lehrenden über die Geschichte des Kapitalismus sind scharf, aber nicht einseitig, weil seine Aufmerksamkeit der ganzen heutigen Welt gilt. Kolonialismus und »Krieg gegen den Terror«, Sklaverei und heutige »selbständig« bei sogenannten Dienstleistern beschäftigte »Arbeitsnomaden« sind sein Gegenstand. In der Bundesrepublik hat der Suhrkamp-Verlag drei seiner Bücher herausgebracht, »Kritik der schwarzen Vernunft« 2014, »Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonialisiertes Afrika« 2016 und im Oktober 2017 »Politik der Feindschaft«. 2015 erhielt Mbembe in München den Geschwister-Scholl-Preis, seit 2017 ist er Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Am Sonnabend ist er Gast der XXIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin.

    Die »Kritik der schwarzen Vernunft« heißt im französischen Original »Critique de la raison nègre«, was präziser ist als das harmlose »schwarz«. Denn »Neger«, zeigt Mbembe, ist nicht einfach ein rassistischer Begriff, er steht stellvertretend für alle, die im Kapitalismus lediglich als Instrumente betrachtet und behandelt werden. Der damit verbundene Herrschaftsmechanismus, die »Politik der Feindschaft«, wirkt auf der heutigen technischen Basis erstmals tatsächlich global. Rassismus und Gewalt sind in Mbembes Analyse Ausgangspunkt und Bestandteil des historischen wie des gegenwärtigen Kapitalismus. Auf dieser Grundlage leben Nationalismus, religiöser Fundamentalismus und Faschismus immer wieder auf und werden dominierend. Mbembe hat Vorläufer: Karl Marx und Friedrich Engels, die schilderten, wie irische Arbeiterinnen und Arbeiter in der britischen Industrie des 19. Jahrhunderts als »weiße Neger« behandelt wurden. Längst haben Historiker im Anschluss an den Theoretiker des antikolonialen Befreiungskampfes, Frantz Fanon, nachgewiesen, wie das Plantagenwesen moderne Lager- und Zwangssysteme vorbereitete. Rosa Luxemburg konstatierte: ohne Zerstörung und Enteignung der Gesellschaften in den kolonisierten Ländern, ohne Verelendung und Ausrottung kein Kapitalismus.

    Mbembes Sicht auf dessen Geschichte besagt erstens in groben Zügen: Ohne den transatlantischen Sklavenhandel seit etwa 1500, ohne rechtlose Arbeitskräfte für die Plantagenwirtschaft Amerikas auch keine ursprüngliche Akkumulation.

    Zweitens: Der Beginn der Sklavenrevolution in Haiti 1791 gegen das bürgerlich-revolutionäre Frankreich war der Anfang eines Kampfes um Anerkennung als Menschen, der mit dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika in den 1990er Jahren noch nicht abgeschlossen ist.

    Drittens: Im Zeichen eines neuen Imperialismus, des sogenannten Neoliberalismus und der Kriege zur Rekolonisierung, werden Erdbewohner unabhängig von ihrer Hautfarbe in Arbeitsverhältnisse gezwungen, in denen sie faktisch rechtlos sind. Wer prekär beschäftigt ist, als moderner Tagelöhner vom Anruf auf seinem Handy abhängig ist, kennt kein Arbeitsrecht, wird zum »Neger«.

    Mbembes Thema ist das globale soziale Verhängnis, das sich hinter seiner These, die Welt werde »schwarz«, verbirgt. Die Jury des Geschwister-Scholl-Preises schrieb zu Recht, er habe »nicht weniger vorgelegt als eine Neuvermessung der Geschichte der Globalisierung«.

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    Kämpfer für Mensch und Umwelt

    Nnimmo Bassey setzt sich für die Rechte der Gemeinden im Nigerdelta ein
    Christian Selz, Kapstadt
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    2010 erhielt Nnimmo Bassey (rechts) den »Alternativen Nobelpreis«

    Zumindest international war das Ereignis noch eine Meldung wert. Am Abend des 2. Januar, so berichtete die Nachrichtenagentur Reuters tags darauf unter Berufung auf das dortige Energieministerium, brach in Nigeria das öffentliche Stromnetz zusammen, wieder einmal, landesweit. Ein Feuer an einer Gaspipeline habe den Stromausfall ausgelöst, hieß es. In weiten Teilen der auf dem Papier größten Volkswirtschaft Afrikas sei der Zusammenbruch des Netzes allerdings kaum bemerkt worden, schrieb die britische Agentur weiter, denn wegen der häufigen Unterbrechungen nutzten Geschäfte und Reiche eigene Generatoren, während »die weniger Wohlhabenden« schlicht »gar keine Elektrizität« hätten.

    Die fast zum Normalzustand gewordene Stromkrise verdeutlicht zwei der Hauptprobleme Nigerias, gegen die Nnimmo Bassey seit nunmehr gut drei Jahrzehnten unermüdlich ankämpft: die Abhängigkeit des Landes von Öl und Gas und die extreme Ungleichverteilung von Reichtum. Bassey, ein studierter Architekt, ist heute Vorsitzender der Umweltschutzorganisation »Health of Mother Earth Foundation«. Der Schutz der Natur ging für ihn jedoch immer einher mit dem Kampf für Menschenrechte. Schon in den 80er Jahren setzte sich Bassey im Vorstand der »Civil Liberties Organization« für die Belange der von Ölkonzernen ihrer Lebensgrundlagen beraubten Gemeinden im Nigerdelta ein.

    Der nigerianische Staat als Erfüllungsgehilfe der Ölkonzerne reagierte stets mit Repression auf seine Arbeit. In den 90er Jahren wurde er mehrmals ohne Prozess inhaftiert. 2010, und damit ein Jahr nachdem ihm trotz Akkreditierung der Zutritt zur UN-Weltklimakonferenz in Kopenhagen verwehrt worden war, wurde Bassey für sein Engagement mit dem als »Alternativer Nobelpreis« bekannten »Right Livelihood Award« ausgezeichnet.

    Die Ehrung mag inzwischen bald acht Jahre zurückliegen, doch Bas­seys Arbeit bleibt, wie die Probleme im Nigerdelta, aktuell. Denn während sich internationale Konzerne und korrupte Eliten dort an der Ölförderung bereichern, lebt die Mehrheit der Nigerianer nicht nur »weniger wohlhabend«, wie Reuters es so nett umschrieb, sondern in bitterster Armut. Für die Menschen im Delta kommt hinzu, dass sie ihrer traditionellen Lebensgrundlagen infolge der mit der Ölförderung einhergehenden Umweltzerstörung beraubt wurden. Boden und Wasser sind verseucht, Fischerei und Landwirtschaft vermögen die Einwohner der einst an natürlichen Ressourcen reichen Region kaum noch zu ernähren. Statt dessen führt die Verschmutzung durch das Abfackeln des bei der Erdölförderung anfallenden Gases zu Atemwegserkrankungen, Krebs, Leukämie und anderen Leiden.

    Als die Probleme nicht mehr zu leugnen waren, begannen die Ölkonzerne Gaspipelines zu bauen. Sie priesen dies als Maßnahme zum Schutz von Umwelt und Klima an, die Weltbank überwies Fördermittel. Doch Bassey wies schon 2006 in einem bei Pambazuka veröffentlichten Papier darauf hin, dass damit nur eine zusätzliche Gasförderung subventioniert wurde, während das weniger rentable, bei der Ölförderung als Nebenprodukt anfallende Gas größtenteils weiter abgefackelt wurde. Minutiös listete er zudem auf, wie der nigerianische Staat die friedlichen Proteste von lokalen Gemeinden, die unter der Ölförderung litten, immer wieder mit Massakern niederschlug.

    Nutzlos waren die Kämpfe trotzdem nicht. Mächtige Giganten wie Shell und Chevron mussten Vergehen eingestehen und sich in Gerichtsprozessen verantworten. Doch an der generellen Lage der Menschen in Nigeria und insbesondere im Nigerdelta hat sich noch immer wenig geändert. Das, darauf hat Bassey immer wieder hingewiesen, kann erst passieren, wenn die Bodenschätze unter der Kontrolle der lokalen Bevölkerung sind.

    Lesen Sie dazu auch Nnimmo Basseys Artikel »Die Kunst einer vergangenen Idylle. Wie Kulturschaffende den Ökozid im Nigerdelta verarbeiten« in vollständiger Länge in Melodie & Rhythmus

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    Wer, wenn nicht wir?

    Die Rosa-Luxemburg-Konferenz steht ganz im Zeichen der internationalen Solidarität
    Dietmar Koschmieder
    20. Internationale Rosa Luxemburg Konferenz; 2015
    20. Internationale Rosa Luxemburg Konferenz; 2015

    Es ist unsere 23. Konferenz – und jede war eine besondere. Aber in diesem Jahr findet die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz unter veränderten politischen Vorzeichen statt: Noch nie waren linke Bewegungen, Parteien, Strukturen so in der Defensive, schon lange nicht mehr waren rechte bis offen faschistische Positionen in der Gesellschaft so akzeptiert wie in diesen Tagen. Die Konferenz wird zeigen, ob es eine Linke im Land überhaupt noch gibt. Und sie wird zeigen, ob sich diese nur noch mit sich selbst beschäftigt oder ob noch immer gilt, dass die internationale Solidarität ihr unverzichtbares Kennzeichen ist.

    Regionaler Schwerpunkt 2018 ist Afrika, für dessen Klassenkämpfe sich leider viele europäische Linke kaum interessieren. Obwohl auch ihr relativer Wohlstand Ergebnis kolonialer Ausbeutungsverhältnisse ist. Menschen aus Afrika, die von imperialistischen Ländern in Armut gezwungen und mit Kriegen gequält werden und deshalb nur noch in der Flucht eine Überlebensperspektive sehen, werden in Europa oft als Gefahr für den eigenen, noch verbliebenen Wohlstand gesehen. Wir wollen mit der Konferenz ein Zeichen setzen: Namhafte Wissenschaftler, Kulturschaffende, Philosophen und Politiker des Kontinents werden nicht nur über ihre Arbeit und Kämpfe berichten – sondern den aufmerksamen Zuhörern auch viele wichtige Erkenntnisse für die eigene Arbeit mit auf den Weg geben. Weitere Gäste aus Afrika haben sich angekündigt und stehen den Konferenzbesuchern für Gespräche zur Verfügung, so der Generalsekretär der südafrikanischen Gewerkschaft NUMSA und Kollegen von der Zeitschrift Pan Africa Today.

    Aber nicht nur aus Afrika kommen interessante Gäste zur Konferenz. Entsprechend dem Schwerpunkt »Internationale Solidarität« wird es eine spezielle Solidaritätskundgebung der Konferenzteilnehmer mit der Bolivarischen Republik Venezuela geben. In einer Gesprächsrunde stehen der Stellvertretende Außenminister Venezuelas, William Castillo, der Internationale Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas, Carolus Wimmer, sowie der Publizist Luis Britto García und der Historiker Vladimir Acosta dem jW-Auslandschef André Scheer Rede und Antwort – anschließend soll eine Berliner Erklärung zur Solidarität mit der Bolivarischen Revolution verabschiedet werden, mit der sich die Konferenzteilnehmer verpflichten, den venezolanischen Freunden und Genossen in ihrem Kampf für Unabhängigkeit, Fortschritt und gegen die in Europa übliche Desinformation auch in den kommenden Monaten aktiv beizustehen.

    Solidarität mit den Genossinnen und Genossen in Palästina und Israel spielen in der europäischen Linken eine besondere Rolle – auf der Konferenz werden wir Adel Amer, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Israels, begrüßen können, und die palästinensische Spoken-Word-Künstlerin und Autorin Faten-El-Dabbas wird eine Kostprobe ihres künstlerischen Schaffens geben. Traditionell nehmen auch befreundete Zeitungen teil, etwa der Morning Star aus Großbritannien und Arbejderen aus Dänemark. Alle zusammen beenden wir die Konferenz am kommenden Samstag mit dem gemeinsamen Singen der Internationale um genau 20 Uhr.

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    »Afrika am Scheideweg«

    Die Kunstausstellung auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz
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    Kämpferische Kunst auf der kommenden Rosa-Luxemburg-Konferenz: Aus der Porträtserie »Die mächtigen historischen afrikanischen Frauen, gewidmet Queen Nanny von den Maroons« von Idona Asamoah

    Kennen Sie Queen Nanny? Sie wurde im 18. Jahrhundert als Kind aus Ghana, Westafrika nach Jamaika entführt, wo sie in die Sklaverei gezwungen wurde. Doch sie lief weg, versteckte sich in den Bergen und wurde zu einer Anführerin der Maroons, wie die von den jamaikanischen Plantagen geflohenen Sklaven genannt wurden. In über 30 Jahren befreite sie mehr als 800 Sklaven. Um an sie zu erinnern, hat Idona Asamoah eine Porträtserie produziert: »Die mächtigen historischen afrikanischen Frauen, gewidmet Queen Nanny von den Maroons« (Foto). Sie wird am nächsten Samstag auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz gezeigt – in der Kunstausstellung »Afrika am Scheideweg – Aufbau oder Migration«, die die Gruppe Tendenzen organisiert hat und bei der 19 Künstler und Künstlerinnen mitwirken.

    Für den Hamburger Asamoah, der in Ghana geboren wurde, werden kämpfende oder anführende Frauen viel zu wenig thematisiert. Oft gibt es Bilder von Müttern mit ihren Kindern. Doch das Motto der Rosa-Luxemburg-Konferenz ist »Amandla! Awethu! Die Machtfrage stellen!«. Auch die Berliner Künstlergruppe Tendenzen hat das Ziel, realistisch-naturalistische Bilder zu verbreiten, damit man die Dinge klarer sieht: gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Militarismus.

    Im Rahmen von »Afrika am Scheideweg«, präsentiert Marion Lange eine Serie im Wandzeitungsstil mit Bleistift-Kohle-Zeichnungen und erklärenden Texten wie nachrichtliche Bildmeldungen aus Zeitungen, in denen politische Proteste in Marokko, Polio-Schutzimpfungen der UNESCO und Knebelverträge der deutschen Entwicklungshilfe zusammengedacht werden – eben als Aufruf, »die Machtfrage zu stellen«. Cora Glees-Creutzfeldt zeigt ihr Ölbild »Menge – Warten und Hoffen« und Porträts der südafrikanischen Freiheitskämpfer Steve Biko und Winnie Mandela (letzteres von filmplakatartiger Schönheit).

    Inga Okan hat »Das Mädchen im gelben Kleid« gezeichnet, es hockt in einem Zelt in einem Kriegsgebiet zwischen Ruinen und Panzern. Alles ist schwarzweiß gehalten, nur das Mädchen hat ein ganz matt schimmerndes gelbes Kleid an, ein V-Effekt, der das wohlfeile Brot-für-die-Welt-Klischee aufhebt und die Zeichnung intensiviert. Clementine Klein zeigt ältere Radierungen und Zeichnungen, die den Biafra-Krieg und den Bürgerkrieg in Sierra Leone thematisierten, digital bearbeitet. Passend dazu ihre Graphik »Brandblase«, auf der planetengleich eine Harzkugel mit Banknoten zu sehen ist, um die Münzen schwirren, als wären sie Weltraumschrott in der Erdumlaufbahn. Eindrücklich ist auch Marco Schaubs (Bleistift-)»Skizze vom Marxismus zur Kleptokratie«, die auf das Abwürgen der afrikanischen Befreiungsbewegungen (in erster Linie durch den Westen) anspielt. Diese Skizze enthält drei Rubriken: »Ausbeutung – Revolution – Ausbeutung«. 2017 hieß die Ausstellung der Gruppe Tendenzen auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz »No pasaran! – Die Reaktionäre werden nicht durchkommen!« (jW)

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    Wir sind es

    Die neue Melodie & Rhythmus hat das Schwerpunktthema »Afrika«
    Christof Meueler
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    Die ökonomischen Bedingungen bleiben terroristisch: Wussten Sie, dass bei einer Großwildsafari der Abschuss der »Big Five« (Elefant, Löwe, Büffel, ­Leopard und Nashorn) bis zu 175.000 Euro Dollar kostet? (Schreibt Matthias Rude in seinem Text über »Herrenmenschenkultur«)

    Ein Klassiker des Comic und des Rassismus: »Tim im Kongo«, aus der berühmten Reihe Tim und Struppi. Die Kongolesen erscheinen als faul und dumm, haben wulstige Lippen und radebrechen dummes Zeug: »Massa! (…) Dingsbums Gefangener futsch!« Der Reporter Tim geht auf Großwildjagd und muss aufpassen, dass er nicht selbst getötet wird – natürlich von einem weißen Bösewicht, weil die Schwarzen nicht ernst zu nehmen sind. Der Tim-Schöpfer, der belgische Zeichner Hervé, entschuldigte sich später dafür, dass er die Kongolesen als »große Kinder« präsentiert habe, doch gegen ein kritisches Vorwort, mit dem der Comic in den USA und in Großbritannien erschien, wehrte sich in Deutschland der Verlag, angeblich hätten die Hergé-Erben etwas dagegen. »Tim im Kongo« erschien erstmals 1930 als Fortsetzungsgeschichte, damals gab es noch die Kolonie Belgisch-Kongo. Es war die zweite Tim-Geschichte überhaupt, die erste stammt von 1929: »Tim im Lande der Sowjets«, die in ihrem plakativen, primitiven Antikommunismus fast schon surreal wirkt.

    Gegen »Tim im Kongo« gab es in Belgien zwei Klagen wegen Rassismus, die Geschichte wurde dreimal nachbearbeitet, aber noch immer verbreitet sie »reaktionäre Projektionen«, schreibt Andreas Eikenroth in der neuen Ausgabe der Melodie & Rhythmus, die – wie die Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung am 13. Januar – den Schwerpunkt »Afrika« hat.

    Darin gibt es einen bemerkenswerten Text von Arnold Schölzel über den senegalesischen Historiker und Chemiker Cheikh Anta Diob, dessen Buch »Nations nègres et culture« (Schwarze Nationen und Kultur) 1955 in Frankreich großes Aufsehen erregte, weil er darin die ägyptische Kultur als Vorläufer der Antike schilderte – als eine Kultur von schwarzen Menschen. Gegen diese These läuft hierzulande die Ägyptologie, für Schölzel »seit ihrem Entstehen mit der Entzifferung der Hieroglyphen 1822 bis heute ein Quell ›wissenschaftlich‹ begründeten Rassismus«, konstant Sturm, weil sie »die Ägypter zu Weißen« machen möchte. Für den Kameruner Philosophen Achille Mbembe, der auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz einen Vortrag halten wird, wollte Diop »die universalistischen Ansprüche des westlichen Humanismus entmystifizieren und die Grundlagen für ein Wissen legen, das seine Kategorien und Konzepte aus der Geschichte Afrikas schöpft«, schreibt Mbembe in seinem Buch »Politik der Feindschaft«.

    Solche verleugneten Transferbeziehungen betreffen auch die geraubte afri­kanische Kunst, die bekanntlich Max Ernst, Pablo Picasso oder Paul Klee stark beeinflusste und die noch immer in den zu Kolonialzeiten angelegten europäischen Museen ausgestellt wird. In seinen »Randbemerkungen« zum geplanten Umzug der »Ethnologischen Sammlung« von Dahlem nach Berlin-Mitte in das neugebaute Humboldt-Forum, schreibt Thomas Koppenhagen: »Die Kolonialmächte haben nicht nur die Kulturen Afrikas auf dem Gewissen. Wie die klassische Moderne zeigt, ging die Ausbeutung tiefer: Wir haben sie uns einverleibt. Das Fremde, das Andere, von dem wir uns distanzieren wollen, in dem wir es in Ethnologischen Museen abstellen, ist längst schon wir selbst. Wir sind es.«

    Die ökonomischen Bedingungen hierfür bleiben terroristisch. Für den nigerianischen Dichter und Umweltaktivisten Nnimmo Bassey hat das Nigerdelta mit seinen Ölvorkommen »wie keine andere Region des Landes eine so lange und unmenschliche Aggression erleiden müssen«. Der südafrikanische Soziologe Faisal Garba bilanziert allgemein: »Überall auf dem Kontinent hält das imperialistische Kapital die Löhne niedrig (…). Es betrachtet Afrika vielmehr als ein Reservoir, aus dem man unbegrenzt Superprofite schlagen kann«. Gleichzeitig sieht Garba, aber den »antiimperialistischen Panafrikanismus (…) wieder auf dem Vormarsch.« Der senegalesische Germanist Maguèye Kassé erinnert an den linken Schriftsteller und Filmemacher Ousmane Sembène aus Dakar, weil dessen Werk – »universal im Goetheschen Sinne« – nicht »nationale Autarkie« propagiere, sondern einen »Brückenschlag« der Stile und Kulturen. In einem schönen Text erklärt Gerd Schumann, wie der Reggae von Jamaika nach Simbabwe gekommen ist: Die Guerilla hörte im Untergrund Bob Marley genauso wie den Befreiungsrock von Thomas Mapfumo. Beide sangen im April 1980 gemeinsam im Stadion von Harare, das damals noch Salisbury hieß. Draußen stand die Guerilla. Hinten im Heft von Melodie & Rhythmus schreibt der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister zum Thema: »Revolution! Gern, aber welche und wie?«

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    Neue Führungsfiguren, alte Systeme

    Jahresrückblick 2017. Heute: Südliches Afrika. Personelle Erneuerung in Simbabwe und Südafrika
    Christian Selz, Kapstadt
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    Erst geschasst, dann Partei- und Staatschef: Ein Bild von Emmerson Mnangagwa wird vor dessen Vereidigung in Harara aufgehängt (4.12.2017)

    Am Tag, nachdem in Simbabwe das Militär ausgerückt war, um Staatschef Robert Mugabe zu stürzen, schrieb Derek Hanekom in Südafrika eine kurze Nachricht auf Twitter. »Vielleicht gibt es eine Botschaft aus Simbabwe – Präsidenten sollten ihr Glück nicht überstrapazieren«, textete der Veteran des Anti-Apartheid-Kampfes und derzeitige Vorsitzende des Disziplinarkomitees der südafrikanischen Regierungspartei African National Congress (ANC) am 15. November.

    An wen sich Hanekoms Botschaft richtete, war offensichtlich: Südafrikas Staatschef und damals noch ANC-Präsident Jacob Zuma versuchte zu dieser Zeit mit aller Kraft, seine ehemalige Ehefrau Nkosazana Dlamini-Zuma an der Parteispitze zu installieren. Das Vorhaben misslang, auf dem ANC-Wahlparteitag übernahm Zumas Gegenspieler Cyril Ramaphosa die Führung der einstigen Befreiungsbewegung, er wird damit bei den Präsidentschaftswahlen 2019 auch Spitzenkandidat der Partei werden. Der Personalwechsel an der Staatsspitze, der in Simbabwe vollzogen wurde, ist also auch in Südafrika bereits programmiert. Politisch waren das die wichtigsten Ereignisse im südlichen Afrika 2017. Einen radikalen Wandel bedeuteten sie indes in keinem der beiden Länder.

    Natürlich sind Simbabwe und Südafrika nicht wirklich vergleichbar. Der Binnenstaat nördlich des Limpopo-Flusses liegt gebeutelt von internationalen Sanktionen, hausgemachter Vetternwirtschaft und Korruption sowie einer daraus resultierenden Hyperinflation seit 2008 wirtschaftlich am Boden, der große Nachbar an der Südspitze des Kontinents ist noch immer ein regionales Zugpferd. Ebenso entscheidend sind die Unterschiede in der Staatsstruktur: Während in Südafrika starke demokratische Institutionen die Regierung kontrollieren und die Gerichte sich nicht scheuen, regelmäßig gegen den Präsidenten zu urteilen, steht in Simbabwe das Militär über allem. Besonders deutlich wurde das beim Putsch im November. In dem Moment, als Staatschef Mugabe auf Drängen seiner Ehefrau Grace den Vizepräsidenten Emmerson Mnangagwa entlassen hatte, griffen die Generäle durch.

    Unter Kontrolle der Armee

    Mnangagwa war der Mann des Militärs in der Regierung, ihn kaltzustellen hätte bedeutet, das System auszuschalten. Die Armee kontrolliert weite Teile der simbabwischen Wirtschaft, vor allem im Bergbau. Und in letzter Konsequenz lenkt sie auch die Regierungspartei Zimbabwe African National Union – Patriotic Front (ZANU-PF), was in deren Aktionen im November klar zu erkennen war. Nur wenige Wochen, nachdem die ZANU-PF den Rauswurf Mnangagwas eifrig beklatscht und diesem in einer öffentlichen Erklärung »Züge von Untreue, Missachtung, Hinterlist und Unzuverlässigkeit« attestiert hatte, hob sie den Mann mit dem Beinamen »Krokodil« auf die Posten des Partei- und Staatschefs. Grace Mugabe, die schon wie die Siegerin im Rennen um die Nachfolge ihres 41 Jahre älteren Gatten ausgesehen hatte, wurde auf Lebenszeit aus der Partei ausgeschlossen. Der Putsch war damit kein Umbruch, sondern lediglich die Entfernung der Führungsfigur Mugabe, der entscheidende Schlag gegen die nach der Macht greifende jüngere Fraktion um dessen Ehefrau und letztlich die Restauration des alten Regimes.

    In Südafrika ist die Rolle des Militärs nicht annähernd so stark, in der Wirtschaft spielt es praktisch keine Rolle. Der Konflikt, der den ANC insbesondere in diesem Jahr so tief wie nie zuvor gespalten hat, beruht dagegen auf einem Kampf zweier Kapitalflügel. Hintergrund ist der Versuch geschäftlich mit dem Lager von Präsident Zuma verbundener Unternehmer, ihren politischen Einfluss in monetäre Gewinne umzuwandeln. Weil sie dazu vor allem bei der Vergabe staatlicher Aufträge zugreifen oder zumindest in eine Vermittlerrolle zwischen Regierung und internationalen Konzernen schlüpfen – die Grenze zwischen »Berater« und »Schmiergeldempfänger« ist hier fließend –, beschreibt nicht nur die South African Communist Party (SACP) dieses Vorgehen als »parasitäre Unterwanderung des Staates«.

    Diese steht jedoch nicht nur der von den Kommunisten angestrebten demokratischen Kontrolle der Wirtschaft im Wege, sondern schmälert auch die Gewinnmargen des etablierten Kapitalflügels, also der internationalen Konzerne nebst lokaler Partner. Letztere Fraktion hatte nach dem Ende der Apartheid versucht, die neue politische Elite mit Unternehmensbeteiligungen einzubinden. Der Mitte Dezember zum neuen ANC-Präsidenten gewählte Exgewerkschafter und bisherige Parteivizepräsident Cyril Ramaphosa ist dafür ein ideales Beispiel: Mit zahlreichen Konzernengagements, darunter beim Platinriesen Lonmin, an dessen Marikana-Mine im Jahr 2012 während eines Streiks 44 Menschen getötet worden waren, wurde er zum Milliardär. Sein Aufstieg an die Parteispitze untermauert den Einfluss des prowestlichen Kapitals, da aber auch das Zuma-Lager mindestens die Hälfte des neugewählten Personals der Parteispitze stellt, ist der Ausgang des ANC-Wahlparteitags eher als Kompromiss zwischen den Fraktionen zu werten. Auch wenn die Vorzeichen und Verhältnisse andere sind, findet in Südafrika ähnlich wie in Simbabwe eher eine Festigung des alten Systems als ein Umbruch statt.

    Kleines Übel

    Sowohl Mnangagwa als auch Ramaphosa stehen dabei für eine unternehmensfreundliche, neoliberale Politik und werben offen um internationale Investoren. Der Einfluss linker Kräfte ist dabei in Simbabwe kaum noch wahrnehmbar und auch in Südafrika ist er stark geschwächt. Die SACP, bisher stets im Bündnis mit dem ANC, beschloss dort infolge einer nicht abgesprochenen Kabinettsumbildung durch Zuma in der ersten Jahreshälfte, künftig eigenständig zu Wahlen anzutreten, und hat diese Ankündigung bei ersten kommunalen Nachwahlen bereits umgesetzt. Sie bleibt jedoch wie auch der Gewerkschaftsbund COSATU Teil der Regierungsallianz. Deren Zerbrechen wurde nun auch mit der Wahl Ramaphosas verhindert, den sowohl SACP als auch COSATU gegen die Kandidatur von Zumas Exfrau unterstützt hatten – wenn auch eher als geringeres Übel denn aus programmatischen Gründen.

    Ruhe dürfte damit dennoch nicht einkehren. Denn die Allianzpartner, die bisher offen und deutlich Zumas Rücktritt gefordert haben, werden dies auch künftig tun. Noch am 24. Dezember kritisierte die SACP, dass der Präsident Einspruch gegen eine Gerichtsentscheidung eingelegt hatte, mit der die Einberufung einer Untersuchungskommission zur Unterwanderung des Staates durch politisch vernetzte Unternehmer durchgesetzt worden war. Zuma, so argumentieren die Kommunisten, wolle den Prozess verschleppen, weil er selbst in den Skandal verwickelt sei. Der Druck der Justiz und der Allianzpartner allein hat bisher freilich nicht ausgereicht, um den Staatschef aus dem Amt zu drängen. Da der ANC mit seinem Skandalpräsidenten allerdings Gefahr läuft, bei den Wahlen 2019 seine absolute Mehrheit zu verlieren, könnten künftig auch bisherige Zuma-Loyalisten zur Wahrung ihrer eigenen Machtinteressen umschwenken. Wie schnell das gehen kann, hat sich in der ZANU-PF gezeigt. Nicht ausgeschlossen also, dass Derek Hanekom, der Anfang des Jahres übrigens als Tourismusminister entlassen worden war, nachdem er Zumas Rücktritt gefordert hatte, am Ende doch recht behält mit seiner »Botschaft aus Simbabwe«.

  • · Hintergrund

    Gesprengte Ketten

    Tansania ist ein Land der Gegensätze, doch die Ideale der Gleichheit leben an der »Wiege der Menschheit« fort
    Jenny Farrell
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    Auch in Daressalams Stadtbezirk Kisutu gehören ambulante Verkäufer zum Straßenbild. Hier leben viele Menschen indischer Abstammung. Bei den beiden Frauen in der Bildmitte ist das an der Kleidung erkennbar

    Die meisten Europäer reisen gewiss vor allem hierher, um auf einer Safari mit der Kamera Jagd auf Elefanten, Giraffen oder Löwen zu machen. Solche Exkursionen habe auch ich eingeplant, in erster Linie aber möchte ich in das ostafrikanische Land am Kilimandscharo, um seinen Menschen zu begegnen. Schon als die aus Los Angeles kommende Maschine vom irischen Dublin abhebt, sind die Weißen unter den Passagieren bereits klar in Unterzahl. Nach dem Umstieg in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt ihr Anteil an Bord endgültig etwa auf dem an der Weltbevölkerung. Die Proportionen des Nordens, des reichen Europas, haben wir hinter uns gelassen.

    Für mich ist es auch ein Wiedersehen nach Jahrzehnten mit Orten aus meiner Kindheit. Zwei Jahre lang, von 1969 bis 1971, habe ich in Tansanias größter Stadt, der am Indischen Ozean gelegenen Metropole Daressalam, gelebt. Seit 1974 ist das in der Landesmitte gelegene Dodoma die offizielle Hauptstadt, doch die Regierung hat bis heute hier ihren Sitz. Dass es mich nach Tansania verschlug, lag an meinem Vater Jack Mitchell, einem Schotten. Er war einem Ruf an die Universität von Daressalam gefolgt, um dort Literatur zu unterrichten. Mein Vater übernahm die Stelle von Professor Arnold Kettle (1916-1986), einem legendären marxistischen Literaturkritiker aus England. Dessen Arbeit setzte er unter anderem dadurch fort, dass er den Studenten Bertolt Brecht nahe und mit ihnen sogar dessen »Tage der Commune« an der Hochschule zur Aufführung brachte. Zu seinen Kollegen zählte auch der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (geb. 1934) von der Humboldt-Universität in Berlin, der in Daressalam als Gastprofessor wirkte.

    Meine Mutter Renate war DDR-Bürgerin und meine beiden jüngeren Brüder Robin und Colin und ich selbst konnten daher die Schule besuchen, die zur Botschaft des sozialistischen deutschen Staates gehörte. Im Schnitt nur etwa drei Dutzend Kinder lernten dort von der ersten bis zur sechsten Klasse nach DDR-Lehrplan und absolvierten das Pionierleben mit allem Drum und Dran. Sie gehörten zu Diplomatenfamilien oder denen von Lehrern und Ausbildern, vor allem in technischen Bereichen und aus dem Gesundheitswesen, die nach Tansania entsandt worden waren. Auch die Kinder des damaligen tansanischen Außenministers Stephen Mhando, der mit einer Leipzigerin verheiratet war, und ein Mädchen aus Mosambik waren unter meinen Mitschülern. Meine Mutter gab während unseres Afrikaaufenthaltes Englischkurse für die Angehörigen der DDR-Diplomaten.

    Ganz reibungslos verlief meine schulische Reintegration nach unserer Rückkehr nach Berlin dennoch nicht. Ich, damals 14, hinterfragte im Biologieunterricht die Beschreibung der Ethnien. Warum hatten andere dicke Lippen statt wir Europäer dünne? Waren wir denn nicht alle im Grunde Afrikaner, und wären diese nicht eher berechtigt, als Prototyp zu gelten? Meine Lehrerin war davon nicht so angetan.

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    Hofpause am Mittag: Drei Grundschulen teilen sich einen Hof in der Nähe von Arusha im Norden Tansanias. Jede hat ihre eigene Uniform. Der Besuch der Volksschule für alle Kinder bildete das Fundament einer neuen Bildungspolitik

    Neue Wege

    Es war eine Zeit des Aufbruchs für die Völker Afrikas. Erst wenige Jahre zuvor, 1961 und 1962, hatte die britische Kolonie Tanganjika schrittweise ihre Unabhängigkeit erlangt. Drei Jahre später vereinigte sich das Land, das bis 1918 zum sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika gehört hatte, mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Bis zu seinem Rücktritt 1985 stand mit Julius Nyerere (1922-1999) ein sozialistisch orientierter Lehrer und Katholik an der Spitze des jungen Staates. Er war eine wichtige Symbolfigur für den antikolonialen Kampf in ganz Afrika. Die aus einer Vereinigung der von ihm 1954 gegründeten Tanganyika African National Union (TANU) und ihrer Schwesterpartei auf der autonomen Insel Sansibar ASP 1977 hervorgegangene CCM (»Revolutionäre Staatspartei«) ist bis heute, mittlerweile deutlich pragmatischer orientiert, die bestimmende politische Kraft im Land. Seit 1992 gibt es ein Mehrparteiensystem.

    Dass Nyerere noch immer als »Lehrer (auf Suaheli: Mwalimu) der Nation« in Ehren gehalten wird, ist nicht zuletzt seinen Verdiensten um das Bildungswesen zuzuschreiben. Die Daressalamer Hochschule, 1961 als Ableger der Universität von London entstanden, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nach Aufspaltung der Ostafrikanischen Universität erfolgte 1970 die Gründung der University of Dar es Salaam. Die Bildungsstätte sollte die angestrebte auch akademische Unabhängigkeit des Landes voranbringen.

    Gut an jene Zeit erinnern kann sich Dennis Shio. Vor dem Nationalmuseum nahe des Botanischen Gartens kommen wir zufällig ins Gespräch. Der etwa 70jährige frühere Ökonom erlebte die Universität noch als ein intellektuelles Zentrum der afrikanischen Revolution. Dozenten aus der Sowjetunion, der DDR und Westdeutschland, aus Großbritannien, Irland und Kanada sind ihm im Gedächtnis geblieben. Vor allem linke Wissenschaftler aus aller Welt hätten an der Hochschule gewirkt, berichtet er. Der Lehrkörper hätte damals noch fast ausschließlich aus Weißen bestanden.

    Wie sehr sich das geändert hat, kann ich in diesen Sommertagen des Jahres 2017 bei einem Besuch der Universität beobachten. Der riesige Hauptcampus liegt etwas außerhalb der Stadt. Mittendrin auf einem Hügel liegen Wohnhäuser für die Angestellten. Hier haben auch wir gewohnt. Alles sieht noch so aus, wie ich es in Erinnerung behalten habe. Bei dem einzigen Weißen, der mir auf dem Gelände der Uni begegnet, scheint es sich um einen Studenten zu handeln. Vor der Unabhängigkeit gab es so gut wie keine im Land selbst ausgebildeten Hochschulabsolventen mit einheimischen Wurzeln. Ärzte waren so gut wie nicht vorhanden. Erst unter Nyerere wurde mit internationaler Beteiligung die erste tansanische Akademikergeneration herangebildet.

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    Die Hölle auf Erden: Sansibar war einer der wichtigsten Umschlagplätze im Sklavenhandel. Ein Denkmal erinnert dort an die grausamen Schicksale seiner Opfer

    Das Fundament der neuen Bildungspolitik bildete die allgemeine Volksschulpflicht. Die Kinder sollten von Anfang an gemeinsam, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Glaubensgruppe oder Stammesverband, zu gleichberechtigten Bürgern erzogen werden. Das ist Realität geworden, Schulklassen, die uns begegnen, sind bunt gemischt. Einheitliche Schuluniformen machen die sozialen Unterschiede unsichtbar. Muslimische Mädchen tragen dazu ein standardisiertes Kopftuch und ihre Uniformröcke sind länger. Eine Unterweisung in Religion gibt es nicht im staatlichen Rahmen, sondern die vielen verschiedenen Gemeinschaften pflegen diese in eigenen Schulen an den Sonnabenden. Am weitesten verbreitet sind Islam, Hinduismus und das Christentum in vielen Spielarten, daneben existieren diverse Naturreligionen. In allen Volksschulen findet der Unterricht in der alle mehr als 120 Volksgruppen, mit noch mehr eigenen Sprachen, verbindenden Nationalsprache Suaheli statt.

    In der Sekundarstufe, die nicht mehr unter die Schulpflicht fällt, wird ausschließlich auf Englisch unterrichtet. Englisch ist weiter wichtige Umgangssprache in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika und eine gute Voraussetzung, um sich im Rest der Welt zurecht zu finden. Viele hier sprechen neben ihrer Stammessprache und Suaheli auch etwas Englisch. Abgänger der höheren Schulen, die sich um einen Studienplatz bewerben oder in den Staatsdienst aufgenommen werden wollen, müssen zuvor Militärdienst leisten. Ihre Stammeszugehörigkeit soll hingegen keine Rolle spielen. Anders als in vielen afrikanischen Staaten stehen Unruhen und Konflikte zwischen den Ethnien in Tansania seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung.

    Historische Zeugnisse

    Ich unternehme einen Abstecher nach Sansibar. Vor allem die Küsten der Insel mit ihren Traumstränden und Hotels sind ein touristischer Hotspot. Mit dem Flugzeug ist es von Daressalam aus nur ein kurzer Hüpfer, und der Anflug über den Indischen Ozean bietet eine traumhafte Aussicht auf das Eiland. In der Inselhauptstadt, die selbst auch Sansibar heißt und auch sonst wenige besondere Merkmale aufweist, stehen auch einige Plattenbauten. Vor fast einem halben Jahrhundert wurden diese mit Hilfe von Experten aus der DDR errichtet, die hier einheimische Bauleute ausbildeten. Der eine deutsche Staat, der solidarisch auf der Seite der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand, hat auch in der Literatur, die den Aufbau des neuen Tansania thematisiert, Spuren hinterlassen. In dem Roman »By the Sea« des bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus dem Jahr 2001 bricht ein junger Sansibari nach Leipzig auf, um sich in der DDR beruflich fortzubilden.

    Sansibar, vor allem als Gewürzinsel bekannt, war früher ein wichtiger Umschlagplatz des muslimischen Sklavenhandels – und der letzte des Kontinents. Wo einmal der größte Markt war, im Stone Town genannten, arabisch geprägten historischen Teil von Sansibar-Stadt, steht seit 1873 die Alte Anglikanische Kirche. Die Sklaven mussten in finsteren Kellern hausen, bis sich die portugiesischen Aufkäufer ihrer bemächtigten. Einige Verliese sind noch zu besichtigen. Auch ein in einer Versenkung installiertes Denkmal erinnert an die unmenschlichen Schicksale. Die Skulpturen von Sklaven darin sind mit originalen Eisenketten aneinander gefesselt. Inoffiziell lief das Geschäft mit der menschlichen Ware trotz Verbots durch die Briten 1873 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts weiter. Die jahrhundertelange arabische Herrschaft über Sansibar beendete erst 1964 eine Revolution endgültig.

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    Bei den Luguru sind die Frauen die Familienoberhäupter. Mit der Herstellung von Muddy-Cake-Stäben aus mineralstoffreicher roter Erde, als Nahrungsergänzung vor allem bei Schwangeren gefragt, verschaffen sie sich ein eigenes Einkommen

    Die Leitideen für das unabhängige Tansania waren von Beginn an Freiheit (auf Suaheli: uhura) und Einheit (umoja). Beide Begriffe untertiteln auch das Staatswappen. Ein eigener Weg zu einem afrikanischen Sozialismus (ujamaa), wie ihn der damalige Staatspräsident Julius Nyerere 1967 in der Arusha-Deklaration umriss, sollte beschritten werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bildete das gemeinsame Eigentum an den natürlichen Ressourcen und den Produktionsmitteln bei den Stammesverbänden, was auch auf nationaler Ebene verwirklicht werden sollte.

    Tansania unterstützte aktiv andere afrikanische Befreiungsbewegungen und die sogenannten Frontstaaten, die in militärische Auseinandersetzungen mit dem Apartheidstaat Südafrika und dessen Vasallen verwickelt waren. Im Land befanden sich Sitze und Radiosender von Organisationen wie der mosambikanischen Frelimo, von ANC und PAC aus Südafrika oder der namibischen Swapo. 1979 marschierten tansanische Truppen in Kampala, der Hauptstadt des Nachbarstaates Uganda, ein und beendeten die blutrünstige Diktatur des »Schlächters von Afrika« Idi Amin (1928-2003), der sich ins Exil absetzen konnte. An diesen Krieg erinnern an vielen Orten Denkmäler. Tansania ist stolz auf seine fortschrittlichen Traditionen, was auch in vielen Gesprächen mit Einheimischen spürbar wird. Die heutige Politik hat viele Konzessionen an den Westen gemacht, der Privatisierungen als Vorbedingung sogenannter Entwicklungshilfe fordert. Ein neues Gesetz untersagt auch den Saatgutaustausch zwischen den Bauern, eine bewährte, jahrhundertealte Tradition. Nur noch patentierter Samen der Konzerne soll in den Boden gelangen dürfen.

    Verwobene Zeitalter

    Nach der Rückkehr aus Sansibar führt mein Weg von Daressalam landeinwärts. In den Siedlungen herrscht ein reger Handel und Wandel links und rechts der Straße. Verkäufer bieten an, was man so braucht: vor allem Trinkwasser in Flaschen. Fließendes oder wenigstens sauberes Wasser sind rar, vor allem auf dem Land fehlt es an Infrastruktur. Im Angebot sind auch Nüsse, Obst und alles mögliche, bis hin zu Autoreifen und Scheibenwischern. Frauen und Männer transportieren Waren, und das stets auf dem Kopf. Mehr als 200 Kilometer östlich der Metropole liegt die Region Morogoro mit dem Uluguru-Gebirge, an dessen Hängen der Stamm der Luguru siedelt. Hier liegt der Mikumi-Nationalpark, der viertgrößte des Landes. Die meisten weißen Touristen unternehmen ihre Safaris weiter nördlich, sie zieht es vor allem in den Serengeti. Zehntausenden Angehörigen der Masai droht dort die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten, weil diese an reiche Ausländer als Jagdreviere vermarktet werden sollen. Populär sind auch Trips zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, oder an die Ausgrabungsstätten früher Menschheitszeugnisse am Ostafrikanischen Grabenbruch.

    Die Luguru praktizieren noch heute eine matriarchale Lebensweise. Die Frauen sind die Oberhäupter ihrer Familien, Besitz wird über die mütterliche Linie vererbt. Großer Besitz ist hier, wie in ganz Tansania, allerdings selten. Ich besuche das Anwesen eines Familenclans am Rande des Mikumi-Parks. Die Frauen sind beim Kochen. Über Holzkohlefeuern hängen große Töpfe. Zubereitet werden meist Gerichte aus Kassava – Süßkartoffeln –, Kochbananen und Fleisch vom Huhn oder Rind. Schnell kommen wir ins Gespräch. In ihrer dominanten Rolle sehen sie keinen Widerspruch zu dem von ihnen praktizierten Islam. Sie seien eben diejenigen, die die Kinder gebären und aufziehen, alles zusammenhalten würden. Und nähme sich ein Ehemann eine zweite Frau, erfahre ich, habe seine erste das Recht, sich ein heimliches Double zu nehmen. Auch an mich haben sie Fragen. Ob es denn stimme, dass bei uns Männer ihre Schwestern heiraten dürften? Wer hält um die Hand des oder der Zukünftigen an? Wie steht es um eine Mitgift? Die auf dem Hof herumlaufenden Kinder haben immer wieder das Bedürfnis, die helle Haut der europäischen Besucher anzufassen und auf ihre Echtheit zu überprüfen. Einer der Väter erzählt lachend, dass er selbst als Kind Weiße in der Nacht für Gespenster hielt, weil deren Gesichter in der Dunkelheit zu sehen waren.

    Meine letzte Station führt mich an den zerklüfteten Südhang des Kilimandscharo. Unterhalb der Baumgrenze gedeiht auf roter Erde inmitten üppiger Vegetation ein hervorragender Kaffee. Nahe der Stadt Moshi besuche ich eine Kooperative, die der Stamm der Chagga betreibt. Neben der Produktion der Bohnen ist man auch am Projekt Kiliman Cultural Tourism beteiligt. An Touristen werden Unterkünfte vermietet und Führungen angeboten. Das schafft für die lokale Bevölkerung mehrerer Gemeinden wichtige zusätzliche Einnahmen. Traditionen werden fortgeführt und kollektiv neue Wege zum Vorteil aller beschritten. Der »Lehrer der Nation« wäre mit seinen Schülern wohl zufrieden.

  • · Berichte

    Afrika im Visier

    Frankreich und Deutschland eskalieren Krieg in der Sahelzone – nebenbei gewinnen salafistische Reaktionäre aus Saudi-Arabien an Einfluss
    Jörg Kronauer
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    Ein Minusma-Konvoi auf dem Weg von Gao nach Kidal in Mali (Februar 2017)

    Natürlich sind sie verlängert worden, die Mandate für die Bundeswehr-Einsätze in Nordmali, Sudan und Südsudan, als der Bundestag vor den Weihnachtsfeiertagen über sie und vier andere abstimmte. Und natürlich hat es eine breite Mehrheit dafür gegeben, dass deutsche Soldaten in den drei Ländern stationiert bleiben. Über drei weitere Einsätze in Afrika wird im Frühjahr abgestimmt: Die Mandate für die EU-Trainingsmissionen (EUTM) in Mali und Somalia und für die Marineintervention am Horn von Afrika laufen zur Zeit noch. Auch sie werden aller Voraussicht nach verlängert. Die nördliche Hälfte des afrikanischen Kontinents ist zu einem Schwerpunktgebiet deutscher Militäroperationen geworden, und das wird sie wohl bleiben.

    Zentral für die deutsche Afrika-Politik ist derzeit der Einsatz in Mali, der letztlich die gesamte Sahelzone im Visier hat. Begonnen hat er 2013, offiziell mit dem Ziel, die Unruhen im Norden des Landes, die zum Teil dschihadistisch geprägt sind, unter Kontrolle zu bekommen. Das ist – nach immerhin fast fünf Jahren – nicht gelungen. Nicht nur Nord-, auch Zentralmali sei »quasi außer Kontrolle«, hat kürzlich der frühere französische Diplomat Laurent Bigot konstatiert, der sich im Sahel bestens auskennt: »Noch nie gab es ein derartiges Niveau an Gewalt in Mali wie heute.« Der UN-Einsatz in Nordmali (Minusma), an dem die Bundeswehr aktuell mit fast tausend Soldaten beteiligt ist, gilt denn auch als gefährlichste »Blauhelm-Intervention« weltweit: Bis September 2017 waren 133 Todesopfer zu verzeichnen.

    Das bisherige Scheitern des Einsatzes ist der Grund dafür, dass im Sahel größere militärische Umgruppierungen bevorstehen. Sie betreffen den Bestand der beiden Einsätze, in deren Rahmen deutsche Soldaten in Mali stationiert sind, zwar nicht unmittelbar; Minusma wird mit ihren gut 11.000 Soldaten und rund 1.600 Polizisten weitergeführt, und auch EUTM Mali wird mit etwa 600 Soldaten, darunter fast ein Drittel Deutsche, das malische Militär weiterhin trainieren. Frankreich will allerdings langfristig Ersatz für seine »Opération Barkhane« schaffen, die mit rund 3.000 Mann im Prinzip in fast der gesamten Sahelzone operiert – und auf Dauer viel Geld kostet. Paris und Berlin haben deshalb die Gründung einer Eingreiftruppe (Force conjointe) der sogenannten G5 Sahel vorangetrieben, auf die sich die Opération Barkhane erstreckt: Neben Mali sind dies Mauretanien, Burkina Faso, Niger und Tschad.

    Offiziell ist die Aufstellung der »G5 Sahel«-Eingreiftruppe, die langfristig die Kriegführung in der Sahelzone von der Opération Barkhane übernehmen soll, Anfang Juli beschlossen worden. Sie soll letzten Endes 5.000 Soldaten umfassen – 1.000 aus jedem der beteiligten Länder. Aktuell wird die Truppe aufgebaut, und das mit deutscher Hilfe: Im Rahmen von EUTM Mali trainieren auch deutsche Militärs schon seit einiger Zeit immer wieder Soldaten aus den Staaten der »G5 Sahel«. Zuletzt fanden »Beratungsmaßnahmen« und ein zweiwöchiger Ausbildungskurs für »G5 Sahel«-Stabspersonal bei EUTM Mali statt. Berlin hat darüber hinaus versprochen, den Aufbau einer Verteidigungsakademie (»Collège de défense du G5 Sahel«) in Mauretanien zu fördern. Am 8. Dezember hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, dass in Zukunft Minusma-Einheiten die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe punktuell unterstützen sollen, etwa bei der Versorgung mit Treibstoff und Wasser sowie bei der Evakuierung von Verletzten. Auf diese Weise geriete die Bundeswehr ein weiteres Stück in den sich ausweitenden Sahelkrieg hinein.

    Dabei bekommt dieser nun eine neue Dimension. Mitte Dezember ist auf einem Gipfeltreffen in Paris, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel teilgenommen hat, die Finanzierung der Truppe festgeklopft worden. Der Bedarf wird offiziell auf 500 Millionen US-Dollar pro Jahr, inoffiziell auf weniger als 300 Millionen US-Dollar geschätzt. Die »G5 Sahel«-Staaten haben jeweils zehn Millionen Euro zugesagt, die EU 50 Millionen, Frankreich acht, die USA jüngst 60 Millionen US-Dollar. In Paris haben die Vereinigten Arabischen Emirate 30 Millionen sowie Saudi-Arabien 100 Millionen US-Dollar in Aussicht gestellt. Die Emirate wollten sich am Aufbau der Verteidigungsakademie in Mauretanien beteiligen, hieß es. Insbesondere Riad, in gewissem Maß aber auch Abu Dhabi sind seit einiger Zeit dabei, außenpolitisch in die Offensive zu gehen und ihre Aktivitäten jenseits der Arabischen Halbinsel zu intensivieren, etwa in Ägypten und in Libyen. Sie nutzen dies auch, um ihre Stellung im regionalen Machtkampf gegen Iran zu stärken. Um Irans Einfluss zurückzudrängen, führen beide zudem einen blutigen Krieg im Jemen, in dem zahlreiche Zivilisten bei Luftschlägen der von Riad geführten Kriegskoalition zu Tode kommen. Zudem hat Saudi-Arabien eine mörderische Hungerblockade gegen den Jemen initiiert.

    Auf dem Pariser Gipfeltreffen hat Saudi-Arabiens Außenminister Adel Al-Dschubeir mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel vereinbart, dass Riad sich auch militärisch an der Kriegführung im Sahel beteiligen wird. Als Instrument dazu soll ein von Saudi-Arabien im Dezember 2015 gegründetes Militärbündnis dienen, das unter dem Namen »Islamic Military Counter Terrorism Coalition« (IMCTC) firmiert und offiziell rund 40 Staaten Afrikas und Asiens umfasst, die sunnitisch geprägt sind oder zumindest einen großen sunnitischen Bevölkerungsanteil aufweisen. Die Gründung des Bündnisses gilt als Teil der saudischen Bestrebungen, die Dominanz über die islamische Welt zu erlangen und Irans Einfluss zu schwächen. Laut Al-Dschubeir wird die IMCTC die »G5 Sahel«-Eingreiftruppe mit Logistik, Aufklärung und Ausbildung unterstützen. Die dazu notwendigen Schritte sollen in Kürze auf einem IMCTC-Treffen in Saudi-Arabien eingeleitet werden. Kann Saudi-Arabien, die Speerspitze der salafistischen Reaktion, tatsächlich seinen Einfluss im Sahel ausweiten, dann wird man daran erinnern dürfen, dass es dies auf wohlwollende Einladung aus Berlin und Paris getan hat.

  • · Berichte

    Kein Konflikt von Interesse

    Sudan und Südsudan: Sezession mit Beifall des Westens. China präsentiert sich als Alternative
    Jörg Kronauer
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    Chinesische Friedensmission: Soldatinnen in Zhengzhou vor ihrer Verabschiedung in den Südsudan (September 2017)

    Die Einsätze im Sudan und im Südsudan gehören inzwischen zum Altbestand der Bundeswehr. Im April 2005 beschloss der Bundestag zum ersten Mal, deutsche Soldaten in einen UN-Einsatz im damals noch nicht geteilten Sudan zu entsenden: Die Blauhelmtruppe UNMIS sollte das am 9. Januar 2005 im kenianischen Naivasha geschlossene »Umfassende Friedensabkommen« zwischen der Regierung des Sudan und dem südsudanesischen Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) überwachen; die Bundeswehr nahm daran teil. Vor dem Abschluss des Friedensabkommens hatte die Bundesregierung jahrelang die südsudanesischen Separatisten unterstützt. Es ging damals im Westen allgemein gegen die arabische Welt, der sich die ohnehin nicht kooperationswillige Regierung des Sudan zuordnete. Zur Strafe förderte der Westen die Abspaltung des Südens. Kritische Beobachter warnten schon früh, im sudanesischen Bürgerkrieg seien mehr Menschen bei Kämpfen zwischen unterschiedlichen Fraktionen im Süden zu Tode gekommen als in Gefechten zwischen Süd- und Nordsudan, was befürchten lasse, dass es nach einer Abspaltung des Südens zu fürchterlichen Gemetzeln kommen könne. Argumente halfen jedoch nicht; Berlin bejubelte die Sezession im Juli 2011 als geostrategischen Erfolg – und entsandte deutsche Militärbeobachter in die umbenannte UNMISS (United Nations Mission in South Sudan).

    Es kam, wie es kommen musste: Mitte Dezember 2013 begannen heftige Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen im Südsudan, die binnen weniger Monate zu einer fünfstelligen Anzahl an Todesopfern führten und mehr als eine Million Menschen in die Flucht trieben. Schätzungen über die Zahl der Menschen, die in dem Bürgerkrieg seit Ende 2013 ihr Leben verloren, belaufen sich inzwischen auf bis zu 300.000. Von den zwölf Millionen Südsudanesen sind weit mehr als drei Millionen auf der Flucht. Die deutschen Militärbeobachter beobachten weiter; weil’s aber keinen Staat mehr von einem arabischen Land abzuspalten gilt und die Weltlage sich ohnehin geändert hat, interessiert der Westen sich nicht für den Konflikt. Obwohl es nicht dabei bleiben muss. China, das bedeutende ökonomische Interessen im Südsudan hat, hat erstmals begonnen, in einem Krieg in Afrika zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln, Friedensgespräche zu führen, auch einmal Druck auszuüben, um ein Ende des Krieges herbeizuführen. Ob dies klappt, weiß niemand. Im Sommer beurteilte die International Crisis Group, ein prowestlicher Thinktank, die chinesischen Bemühungen durchaus positiv. Die Frage ist aber, ob das auch so bleibt, sollte Beijing in Juba erfolgreich als Ordnungsmacht auftreten und sich damit – gewollt oder ungewollt – als Alternative zum Westen präsentieren. Denn der duldet bekanntlich freiwillig keine Konkurrenz.

  • · Interviews

    »Alles musste ganz mutig raus«

    Gibt es linkes Weihnachten? Ein Gespräch mit Dr. Seltsam über Jesus, Che, Kartoffelsalat und Handauflegen
    Christof Meueler
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    Dr. Seltsam prüft die Bühne (auf der Rosa Luxemburg Konferenz 2016)

    Dr. Seltsam ist ein Berliner Kabarettist, Historiker, Conferencier und Marxist. Am 13.1.2018 moderiert er zusammen mit Gina Pietsch in Berlin die XXIII. Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung

    Lieber Doktor, mit 66 Jahren sind Sie jetzt als Berliner Godfather of Lesebühne in Rente gegangen.

    Was heißt schon Rente? Ich krieg jetzt 920 Euro vom Amt, Grundsicherung. So viel als Rente zu kriegen, ist für mich unmöglich. Ich war ja mal fünf Jahre lang Lehrer, dafür gibt es 350 Euro Rente. Hätte ich das gewusst, hätte den Job nicht so lange durchgehalten. Die Durchschnittsrente bei Männern in Westdeutschland beträgt übrigens 1.100 Euro. Ich guck’ mir das immer genau an.

    Wenn wir schon beim Nachrechnen sind: Sie stehen auch schon ein halbes Jahrhundert auf der linksradikalen Seite, wie fühlen Sie sich?

    Ich halte es weiterhin mit der Offenbarung aus der Bibel, Kapitel 11, Vers 18 in der Fassung von Martin Luther: »Und die Heiden sind zornig geworden; und es ist gekommen dein Zorn und die Zeit der Toten, zu richten und zu geben den Lohn deinen Knechten (...) und zu verderben, die die Erde verderbt haben«. Das ist mein Ziel, das will ich erleben, egal, von wem, von Jesus oder von der Revolution.

    Von Jesus?

    Ich war vorgestern in der Bolle-Moschee in Kreuzberg, die ihren Namen von dem Supermarkt hat, der da vorher stand. Da geh’ ich gerne zum Friseur, das ist ein syrischer Flüchtling. Da saßen ein paar Moslems, während ich den Bart gemacht bekam. Einer sagte, er verstehe nicht, dass man gläubig sein kann, ohne religiös zu sein. Ich: »Grummel, grummel, grummel«. Mehr ging nicht, weil ich gerade rasiert wurde. Danach sagte ich ihm: »Junger Mann, das geht durchaus, man kann zum Beispiel gläubiger Kommunist sein und überhaupt nicht religiös.« Und der fragte mich daraufhin, ob ich denn Jesus toll finde? Und ich sagte: »Ja, so toll wie Che Guevara«.

    Und deshalb feiern Sie als Marxist auch Weihnachten?

    Natürlich. Letztes Jahr musste ich abends um neun schon wieder alle nach Hause schicken. Die waren stinksauer. Meine Süße hatte angerufen: schlimme Migräne, ich musste unbedingt zu ihr, bin auf dem Weg an der katholischen Matthias-Kirche vorbei gekommen und dachte: Na, guckste mal rein. Die Kirche war knallvoll, alle sangen, ich hab’ mir noch den Segen angehört und bin dann zu meiner Freundin, hab’ ihr die Hand aufgelegt – und die ­Migräne war weg!

    Wie bitte?

    Ich dachte schon, ich kann jetzt eine Karriere als Wunderheiler beginnen, aber die nächsten Male funktionierte es nicht mehr.

    Weil Sie nicht vorher im Gottesdienst waren.

    Ist doch egal, die Gefühle sollen reichen.

    Sie kommen doch auch aus einer sehr christlichen Familie?

    Ja, aus einer Sekte: aus einer katholisch-apostolischen Gemeinde. Da war es besonders an Weihnachten ganz schlimm. Es ging vormittags zur Kirche, nachmittags zur Kirche und zwischendurch auch noch mal. Die haben das alles sehr ernst genommen. Und dann hat mich meine Mutter Weihnachten immer vermöbelt, das war so schlimm, dass ich Weihnachten immer zur evangelischen Bahnhofsmission in Lübeck gegangen bin, statt zu Hause zu bleiben. Da kamen dann die Ostrentner aus Rostock und Parchim, und wir haben denen Kaffee gemacht.

    Allerdings habe ich später, als ich Materialist geworden bin, gemerkt, dass das, was Jesus und die Urchristen praktiziert haben, reiner Kommunismus war, es ging richtig zur Sache beim Abendmahl, das wurde täglich abgehalten. Dafür mussten die Reichen ihre Häuser verkaufen, davon wurde dann das Essen für die Armen gekauft. Doch das hat Paulus, dieser römische Spitzel, alles umgedreht und das Abendmahl auf das rein Geistliche reduziert – man bekommt eine olle Oblate, von der kein Mensch satt wird. Und nur einen Schluck Wein. Das ist doch lächerlich.

    Gibt es ein linkes Weihnachten?

    Ja. Das schönste Weihnachtsfest habe ich 1969 in der Hamburger Uni erlebt: Der AStA hatte ein revolutionäres Weihnachten organisiert. Vor vollem Haus sang Franz Josef Degenhardt seine Lieder und Peter Schütt trug Gedichte vor: »Kiek eens, wat is de Himmel so rot! Dat sünd Marx und Engels, de backt dat Brot! De backt all de lütten lekker Stuten, för all de lütten Meckersnuten«. Da hatte ich Träne in den Augen, das war so wahnsinnig schön, dass ich dachte: So ein Weihnachten will ich wieder haben. Das habe ich aber nie wieder hingekriegt. Als ich später dann selber Shows veranstaltet habe, habe ich regelmäßig versucht, die auch an Heiligabend stattfinden zu lassen. Aber da kommt keiner, denn die Leute sind so knallfest in ihren Familien festgezurrt. Ganz schlimm war es in der Westberliner Hausbesetzerzeit in den 80ern. Da sind wirklich alle Hausbesetzer zu Mami nach Hause gefahren, und ich war ganz allein zurückgeblieben. Ich dachte: Mann, sind die Bullen blöd, die müssen jetzt nur mit vier Leuten rumfahren und können alle 160 besetzten Häuser räumen. Aber wahrscheinlich waren die Polizisten auch unterm Weihnachtsbaum.

    Und was taten Sie dann so einsam?

    Ich hatte depressive Gedanken, aber Freunde luden mich in eine Kneipe in Kreuzberg, in den Bierhimmel ein, wo es eine Weihnachtsgans gab – und sie spielten den ganzen Abend ein Lied: »Hasta Siempre Che Guevara« von Jan Garbarek. Das war natürlich wieder sehr schön und seitdem meine Lebensrettungslieblingsmusik, die haben wir zu Beginn Dr. Seltsams Frühschoppen immer abgespielt.

    Stimmt es, dass Sie in Berlin die erste Lesebühne gegründet haben?

    Ja, das stimmt – zusammen mit anderen. Die wirklichen Gründer sind Wiglaf Droste und sein Freund Cluse Krings. Wiglaf war ja in den 80er Jahren Medienredakteur bei der Taz und hat da immer seine schützende Hand über mich gehalten, weil ich denen zu links schrieb. Schließlich durfte ich aber gar nicht mehr schreiben ...

    Warum?

    Da gab es einen linken Autor, von dem es hieß, er habe eine Frau vergewaltigt. Da haben die Frauen in der Taz Alarm geschlagen, und die männlichen Autoren sollten eine Stellungnahme abgeben. Ich sagte: »Einer Frau, die Karate kann, wird man ihr deutliches Nein niemals missverstehen.« Zwei Wochen später formulierte das Alice Schwarzer ganz ähnlich. Aber mir wurde vorgeworfen, ich würde mit meinen Texten zur Militarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen. Und ich sagte: »Danke für das Lob, genau das will ich ja«.

    Obwohl ich zwei linke Hände habe und nicht bei der Bundeswehr war. Da bin ich drum rum gekommen, weil ich bei der Musterung gesagt habe: »Ich will bitte zu den Panzern. – »Wieso das denn?« – »Ja, wenn wir einen erobern, muss den ja auch jemand fahren können.« Das war’s. Danach habe ich von denen nie wieder was gehört. Auch die Taz musste ich deshalb letztlich verlassen. Aber da war ich nicht der einzige, und verschiedene Autoren haben dann im Frühjahr 1989 gesagt: Eine Zeitung zu machen ist uns einfach zu doof, statt dessen lesen wir unsere Texte einfach vor. So entstand die »Höhnende Wochenschau« mit Droste, Krings, Michael Stein und anderen. Sie fand einmal die Woche im Kino Eiszeit statt und war von Anfang an ein unglaublicher Erfolg. Ich habe mir dann gesagt: Das ist ja toll, das mache ich jetzt immer. Michael Stein hatte gefordert: Jeder Text muss einen Angriff enthalten, das halte ich immer noch für eine großartige Maxime eines linken Autors.

    Sie waren von Anfang an Conferencier?

    Nein, zu Beginn war jeder Conferencier und hat den folgenden Autor angesagt. Es gab wunderbare Texte. Cluse Krings ist nach Barcelona gefahren und hat live von den Olympischen Spielen berichtet, nämlich, dass die Stadt im Dreck erstickt, damals war das noch nicht so touristisch. Frank Fabel hat darüber geschrieben, wie er sich bei einem Mercedes Thinktank beworben hat und was die ihm für blöde Fragen gestellt haben. Ich ließ mir live auf der Bühne die Haare schneiden und erzählte dabei, was mir gerade so durch den Kopf gegangen ist – wie beim echten Friseur eben. Ohne Rücksicht auf mein Unbewusstes. Alles musste ganz mutig raus: Dass mich keine Frau mehr angucken wird, wenn ich meine langen Haare abgeschnitten bekomme.

    Sie hatten Ende der 80er Jahre noch lange Haare?!

    Ja, ich fand das schöner. Aber meine heutige Freundin sagt: »Damit sahst du total scheiße aus.«

    Kurzhaarig haben Sie dann »Dr. Seltsams Frühschoppen« begonnen?

    Ja, 1990 lag ich im Krankenhaus und machte eine sechswöchige Abmagerungskur, das bekam ich damals noch von der gesetzlichen Versicherung bezahlt. Und weil ich auch eine Krankenhaustagegeldversicherung hatte, war das meine Spardose. Also ich lag da rum, und dann besuchten mich Hans Duschke und Horst Evers und fragten mich, ob ich nicht mit ihnen so eine Lesebühne machen wollte? Ich hätte doch damit Erfahrung, und sie hätten jetzt auch damit angefangen, an der FU während des Studentenstreiks. Ich sagte: Okay, ich mache mit – unter einer einzigen Bedingung: Wenn die Veranstaltung so heißt wie ich. So kam es zu dem Namen »Dr. Seltsams Frühschoppen«. Damit haben wir viel Geld verdient. 14 Jahre lang, erst im besetzten Haus und dann in der Kalkscheune. Die Leute standen Schlange bis auf die Straße. Die Veranstaltung stand sogar im Baedeker-Reiseführer. Viele, die später was geworden sind, waren bei uns zu Gast, zum Beispiel Eckart von Hirschhausen.

    Nur Weihnachten funktionierte das nicht.

    Nein, nie. Ich habe statt dessen am 24. alle einsamen Herzen zu mir nach Hause eingeladen. Das war oft auch ganz lustig. Einmal hatte ich einen italienischen Verleger zu Gast, der wollte gerne Deutschland kennenlernen, besonders seine Feste. Für Heiligabend hatten sich mehrere Gäste angekündigt. Die einen wollten den Braten mitbringen, die anderen den Wein. Leider sagten alle ab, außer dem Verleger. Und ich saß da mit meiner Notration: Würstchen für 1,90 und Kartoffelsalat für 1,50 und drei Flaschen Bier. Wir teilten alles brüderlich. Als er ging, sagte der Verleger, es sei sehr nett gewesen, und vor allem stimme das ja wirklich, dass die Deutschen zu Weihnachten Wurst, Kartoffelsalat und Bier zu sich nehmen. Das war wirklich ein interkultureller Austausch: alle Vorurteile bestätigt.

    Fast schon ein Brechtsches Lehrstück. Aber »Dr. Seltsams Frühschoppen« scheiterte doch nicht an Weihnachten?

    Nein, an persönlichen Fragen. Und an politischen: Ich war der einzige, der die Politik reingebracht hat. Als 1999 der NATO-Krieg gegen Jugoslawien begann, wurde ich Sonntag morgen von den anderen empfangen: »Du Doktor, wir haben einstimmig beschlossen, dass die Wörter ›Uran‹, ›Joschka Fischer‹ und ›Kriesgsverbrechen‹ auf der Bühne nichts mehr verloren haben.« Die habe ich dann natürlich extra gesagt, und der Eklat war da.

    Es kam letztlich zur Spaltung.

    Irgendwann haben wir schließlich getrennte Veranstaltungen gemacht und dafür den Namen geteilt: Die Spaßmacherfraktion hieß »Frühschoppen« und die politische Fraktion, also ich, hat wieder den Begriff »Wochenschau« benutzt: »Dr. Seltsams Wochenschau« – auch das 13 Jahre lang. Da hab’ ich mir immer Leute eingeladen und mit denen geredet, was ich auch viel besser fand: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Hans-Christian Ströbele zum Beispiel. Ich habe all die Leute, die keiner richtig persönlich kennt, nach den persönlichen Dingen gefragt, die sie sonst nicht sagen sollten.

    Und die ihnen dann auch geglaubt, obwohl sie von Medienprofis erzählt wurden?

    Lafontaine hatte mir gegenüber behauptet, dass er nach einem halben Jahr aus der Schröder-Regierung ausgetreten sei, weil er gewusst habe, die wollten Krieg führen, und da wollte er nicht mitmachen. Nun weiß man nie, was davon stimmt, aber ich hab’s ihm geglaubt. Auf mich hat er einen offenen Eindruck gemacht. Ich hab’ ihn nämlich gefragt, wie er es als moralisch gefestigter Mensch überhaupt bei diesen Pappnasen im Parlament aushalten könnte? Er hat geantwortet: »Da haben Sie recht, ich würde auch lieber mit meinem Sohn Maurice im Garten Korbball spielen, da hab’ ich immer was zu tun.«

    Übrigens hatte Hans Duschke beim »Frühschoppen« mal eine Nummer gemacht, die fand ich sehr gut. Er stand auf der Bühne und sagte, er könne Gedanken lesen. Dann bat er jemand aus dem Publikum auf die Bühne und sagte ihm: »Ich weiß, was sie jetzt denken: Was ist das für ein Idiot, der da sagt, er könnte Gedanken lesen!«

    Waren Sie eigentlich mal Schauspieler?

    Nur als Schüler, einmal in einem Stück von Pirandello. Da war ich in einen Krug eingemauert und musste auf Kommando lachen. Das habe ich knapp hingekriegt. Und dann im »Autobus S« von Raymond Queneau gespielt, das war wunderschön, aber ich hab’ den Text nicht verstanden. Muss man ja auch nicht als Schauspieler, das ist ja das Irre. Als Moderator muss man auch schauspielern, den Beifall herauslocken, das ist die Hauptaufgabe. Obwohl ich anfangs sehr schüchtern war, habe ich das gelernt über die Jahre.

    Und das Singen haben Sie sich auch noch draufgeschafft.

    Nur ein bisschen, ich dachte immer: Ich kann es nicht, aber jeder kann es, wirklich wahr. In Neukölln hatte ich in den Neunzigern mal den »Amüsiersalon«, wo ich auch singen und tanzen musste, zusammen mit einer alten Tänzerin: »Neukölln, Neukölln, du Blume der Stadt, wo jeder Mensch zwei Arme und vier Räder hat!« In erster Linie aber habe ich die Künstler eingeladen, die das auch perfekt beherrschen und zwar in meinen »Club Existentialiste« in den Nuller Jahren im Keller der Wabe. Da gab es tolle Jazzsessions. Nach meinen Erfahrungen mit den Frühschoppen-Leuten habe ich mir von den Künstlern immer gewünscht, dass die auch was Politisches singen. Und die sagten dann: »Nein, das können wir nicht, wir singen nur schöne Lieder!« Aber die Franzosen konnten zumindest »Le Déserteur« von Boris Vian. Das hatten die alle im Kindergarten gelernt. Aber die kannten nicht die Originalstrophe, die dann verboten war: »Monsieur le Président, Sie können die Gendarmen schicken, doch ich kann gut schießen!« Statt dessen hieß es: »Monsieur Le Président, Sie können Ihre Gendarmen schicken, aber ich werde mich nicht wehren.« Das wusste ich dann wiederum.

    Singen könnten Sie ruhig öfter. Eine wohltönende Stimme haben Sie doch. Und laut ist die außerdem.

    In den 70ern stand ich in dem kleinen Lübeck auf der Durchgangsstraße und rief den Arbeiterkampf aus, die Zeitung des Kommunistischen Bundes, mit einer so kräftigen Stimme, dass es von einem Stadttor zum anderen geschallt ist, wie mir berichtet wurde. Vom Burgtor bis zum Holstentor. Wenn bei der RLK, der Rosa-Luxemburg-Konferenz, die ich regelmäßig moderiere, das Mikrofon ausfällt, könnte ich die 1.500 Leute im Saal auch so unterhalten. Überhaupt kein Problem. Das habe ich gelernt.

    Was ist Ihr Trick bei der RLK? Wie bleiben Sie den ganzen Tag als Moderator fit?

    Kaffee, Unmengen von Kaffee. Hinter der Bühne ist es überhaupt nicht langweilig, weil du nie weißt, was einer auf der Bühne tun wird. Und wenn er fertig ist, musst du sofort da sein und etwas sagen oder jemand interviewen.

    Aus der Lamäng?

    Ich bin da unheimlich wach.

    Wann war Ihre erste RLK?

    2005, da habe ich Alfred Hrdlicka interviewen müssen ...

    weil ich im Stau steckte. Ich sollte das ja ursprünglich machen, aber schaffte es nicht mehr rechtzeitig.

    Tja, Planung ist alles. Als 2005 einer vom ZK der KP Kubas sprach, sagte Mag Wompel von Labournet zu mir: »Komm, wir gehen raus, eine Zigarette rauchen.« Ich meinte: »Das geht leider nicht, ich muss hier als Moderator auf dem Sprung sein.« Doch sie beruhigte mich: »Keine Sorge, der Mann kommt aus Kuba, der fängt bestimmt bei Adam und Eva an.« Wir gingen raus, rauchten zwei Zigaretten, und als wir wiederkamen, war der tatsächlich erst bei Batista! Und ich machte auf der Bühne dann den Witz: »Das ist die alte Fidel-Schule, keine Rede unter sechs Stunden.«

    Die Kubaner sprechen regelmäßig auf der RLK, und immer ließ ich Grüße an Fidel ausrichten. Da war ich sehr stolz, das tun zu können. Das Schöne an der Konferenz ist ja: Das sind Linke, die verstehen das, was ich sagen will. Das war sonst oft ein Problem: für meine Schüler, als ich noch Lehrer war, für die Taz-Redakteure, als ich Fernsehkritiken schrieb, und für meine Frühschoppen-Kollegen, die nur Spaß machen wollten.

    Und Sie sind sogar so politisch, dass Sie auch aus politischen Gruppen rausgeflogen sind, oder?

    Ich bin aus der IG Druck rausgeflogen, weil ich in Lübeck am 1. Mai eine Rede für den KB gegen den DGB gehalten habe. Wegen des Unvereinbarkeitsbeschlusses der Gewerkschaft mit den Maoisten. Später bin ich in Westberlin aus der GEW rausgeflogen, mit dem ganzen Landesverband, weil man sich genau gegen diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse wandte. Aus dem KB bin ich dann aber auch zweimal rausgeflogen: einmal, weil ich es mehrmals versäumte bei einem Werftarbeiterstreik ganz früh morgens Flugblätter zu verteilen – da kam ich einfach nicht aus dem Bett raus. Und später noch einmal, weil ich gegen eine andere maoistische Gruppe, die KPD/AO kämpfen wollte, als die die Sowjetunion zum Hauptfeind erklärt hatten, also auf CDU-Linie eingeschwenkt waren. Dagegen wollte ich eine Aktionseinheit gründen, was mir vom KB als »Provokation« ausgelegt wurde. Es wurden Stellungnahmen eingeholt, alle durften was sagen, und als ich dran war, hieß es: »So, danke, wir haben alles vernommen«. Es gab dann ein Umgangsverbot – meine damalige Freundin musste sich von mir trennen. Wir haben uns natürlich heimlich weiter getroffen. Aus dem KB ist nichts geworden, kein Wunder, wenn man so miteinander umgeht. Das war noch nicht mal richtig stalinistisch, nur blöd.

    Oft waren die K-Gruppen, die kommunistischen Kleinparteien der 70er, so streng wie kurios.

    Ich kann da nur mit Mao sagen: Ohne die Massen sind wir bis zur Schonungslosigkeit lächerlich. Na gut, die Massen feiern eben Weihnachten.

  • · Blog

    Ressourcen für Aufklärung

    Warum die Rosa-Luxemburg-Konferenz überhaupt stattfinden kann, und was Sie dafür tun können
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    »... können wir nur selber tun«: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2016 singen die »Internationale«

    Auch dieses Jahr endet für die junge Welt bekanntlich nicht am 31. Dezember, sondern mit dem gemeinsamen Singen der Internationale zum Abschluss der Rosa-Luxemburg-Konferenz am Samstag, den 13. Januar 2018, um genau 20 Uhr. Unmittelbar zuvor erfolgt unsere ganz spezielle Jahresbilanz: Leserinnen und Leser treffen sich und diskutieren mit Gleichgesinnten aus dem gesamten europäischen Raum. Spannende Vorträge von Linken aus aller Welt können ohne Sprachbarrieren verfolgt werden.

    Diesmal erwarten wir Philosophen, Umweltschützer, Politiker und Künstler aus Afrika, aber auch Gäste aus China und Kuba. Venezuela wird eine große offizielle Delegation entsenden: Neben Vladimir Acosta und Luis Britto García, die zu den führenden marxistischen Intellektuellen des Landes gehören, sind hochrangige Vertreter der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei sowie des Außenministeriums angekündigt. Adel Amer, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Israels, wird ebenfalls da sein.

    Wer mit uns über den europäischen Tellerrand hinausblicken will, sollte sich rasch entscheiden. Zwar können wir im Berliner MOA-Konferenzhotel gut 3.000 Teilnehmende unterbringen. Doch wurden bereits über 1.300 Eintrittsbänder verkauft. Eingerechnet aller Helfer und geladener Gäste sind damit schon vor Weihnachten deutlich mehr als die Hälfte der Plätze vergeben. Wir empfehlen deshalb unseren Leserinnen und Lesern, sich rechtzeitig in jW-Ladengalerie oder auf rosa-luxemburg-konferenz.de die Eintrittsbänder zu besorgen. Sie ersparen sich damit langes Schlangestehen am Veranstaltungstag. Uns hilft das bei der Vorfinanzierung der sehr teuren Konferenz.

    Um die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz ressourcenmäßig abzusichern, genügen allerdings die Eintrittsgelder allein bei weitem nicht. So wäre diese Veranstaltung ohne eine kontinuierlich wachsende Zahl von jW-Print- und Onlineabonnenten nicht durchführbar. Zum einen entstehen die notwendigen internationalen Kontakte erst durch unsere tägliche journalistische Arbeit, die wiederum fast ausschließlich durch Abonnements finanziert wird. Von der inhaltlichen Konzeption der Konferenz bis zur konkreten Umsetzung absolvieren die Kolleginnen und Kollegen von Verlag und Redaktion zudem etliche Sonderschichten. Ihre Kraft reichte aber nicht aus, würden sie nicht von zahlreichen Helferinnen und Helfern unterstützt. Nur so kann dieses wichtigste und größte jährlich stattfindende Symposium der deutschsprachigen Linken (als welches der ehemalige IBM-Chef Deutschland, Hans-Olaf Henkel die Konferenz einstufte) überhaupt stattfinden.

    Abonnieren sollten Sie die junge Welt allerdings vor allem für sich selbst (oder für Ihre Freunde): Präzise Informationen und Analysen der Zeitung helfen zu verstehen, was in der Welt geschieht. Noch nie war das ursprünglich bürgerliche Ideal der Aufklärung so bedroht wie in diesen Zeiten: Rechte Rattenfänger nutzen Unwissenheit und Halbwissen, um weitere Anhänger für ihre reaktionären bis faschistoiden Programme zu gewinnen. Imperialistische Kriege werden als legitimes Mittel verkauft, weltweit die Interessen des europäischen und damit vor allem des deutschen Kapitals durchzusetzen, auch und gerade in Afrika. Um solche Strategien erfolgreich zu bekämpfen, müssen sie zunächst durchschaut werden. Die Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz und die Tageszeitung junge Welt sind hervorragende Instrumente dafür.

    Verlag und Redaktion

    Hinweise zu Programm und Vorverkauf: rosa-luxemburg-konferenz.de

  • · Hintergrund

    Wettlauf um Afrika

    Bis auf wenige Ausnahmen ist die deutsche Wirtschaft auf dem Kontinent kaum präsent. Die Investitionen sind gering – das könnte sich zukünftig ändern
    Jörg Kronauer
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    Ein »Migrationszentrum« ist schon da und für die Investitionen deutscher Firmen in Ghana soll es bald vorwärts gehen – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 12.12.2017 in der Hauptstadt Accra

    »Bleibt zu Hause!« So fasste die Deutsche Welle durchaus zutreffend den Tenor der öffentlichen Stellungnahmen zusammen, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am ersten Tag seines Besuchs vor zwei Wochen in Ghana abgab. Zunächst hatte er in einem Interview mit der ghanaischen Tageszeitung Daily Graphic mit Blick auf die zahlreichen in die EU strebenden Menschen aus Westafrika erklärt, die Reise durch die Wüste und über das Mittelmeer sei viel zu gefährlich: »Sie kann mit Gefangenschaft, Misshandlung oder sogar Tod enden.« Das wolle er eindrücklich »den Leuten bewusst machen und sie warnen«. Anschließend eröffnete der Bundespräsident in Accra ein »Migrationszentrum«. Dessen Zweck: Es soll Menschen, die auf dem Weg nach Europa aufgegriffen werden, mit der Aussicht auf Hilfe bei der Jobsuche zur Rückkehr bewegen – und ausreisewillige Ghanaer über Möglichkeiten zur Auswanderung nach Deutschland informieren, die freilich fast nicht existieren. Bei so viel Migrationsabwehr wäre der Hauptanlass für Steinmeiers Westafrikareise fast untergegangen: die Unterzeichnung einer Vereinbarung für die »Reformpartnerschaft«, die es deutschen Unternehmen künftig erleichtern soll, in Ghana zu investieren und damit ihre Stellung in Afrika punktuell wieder zu stärken.

    Sinkende Absatzzahlen

    Ein Blick auf die wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Firmen auf dem afrikanischen Kontinent zeigt rasch: An dem alten kolonialen Verhältnis – die Bundesrepublik bezieht Bodenschätze und setzt dort weiterverarbeitete Waren ab – hat sich im Kern nichts geändert. »Industrieprodukte für Rohstoffe«: So überschrieb das Statistische Bundesamt im Jahr 2015 eine trockene Analyse dieser Handelsströme. In der Tat bestanden die deutschen Afrika-Exporte damals zu mehr als 90 Prozent aus Industrieprodukten, während gut die Hälfte der Importe auf Erdgas und vor allem Erdöl entfiel, weitere fünf Prozent auf Bergbauprodukte. Elf Prozent setzten sich aus unterschiedlichen Agrargütern zusammen, ein Drittel davon Kakao, ein Sechstel Tee und Kaffee. Dabei ist es bis heute – abgesehen von geringeren Verschiebungen, die sich aus Schwankungen der Rohstoffpreise und gelegentlichen Wechseln bei den Erdöllieferanten ergeben – geblieben. Im Süden nichts Neues, könnte man meinen.

    Allerdings muss man, um die Bedeutung etwas genauer einzuschätzen, die Afrika heute für die deutsche Industrie besitzt – als Rohstofflieferant und als Absatzmarkt –, ein paar weitere Aspekte hinzufügen. Nummer eins: Der Kontinent hat für hiesige Firmen relativ an Gewicht verloren. Es gab eine Zeit – das war 1954 –, als Afrika sechs Prozent der BRD-Exporte kaufte. 1970 waren es immerhin noch 4,3 Prozent; 1990 war der Anteil auf 2,4 Prozent gesunken, um bis 2000 weiter auf 1,8 Prozent zu schrumpfen. Seitdem hat er sich bei zwei Prozent konsolidiert. Damit habe der Kontinent »für die deutsche Exportwirtschaft nur eine marginale (…) Bedeutung«, konstatierte das Münchener Ifo-Institut im Dezember 2015 kühl in einer Studie, die es im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angefertigt hat. Gegenüber der internationalen Konkurrenz hat die deutsche Wirtschaft in Afrika dabei nicht nur stagniert, sie ist sogar zurückgefallen: Hielt sie mit ihren Ausfuhren 1992 noch einen Anteil von 14 Prozent am dortigen Absatzmarkt, so kam sie 2013 nur mehr auf fünf Prozent.

    Aspekt Nummer zwei: Die Bedeutung afrikanischer Bodenschätze für die Rohstoffversorgung der Bundesrepublik darf man im großen und ganzen nicht überbewerten. Die Öl- und Gaslieferungen, die vor allem aus Nigeria, Algerien und Ägypten kommen, inzwischen auch aus Angola und, sofern die Milizen vor Ort es zulassen, noch aus Libyen – machen nur ein Zehntel der entsprechenden deutschen Einfuhren aus. Der größte Teil kommt aus Russland (40 Prozent des Öls, 31 Prozent des Gases), aus Europa (Norwegen, Niederlande, Großbritannien), aus Kasachstan und aus Aserbaidschan. Nicht viel anders sieht es etwa bei den Metallerzen aus. Von den deutschen Einfuhren des Jahres 2014, die sich auf 7,3 Milliarden Euro beliefen, stammten nur 14,7 Prozent (1,1 Milliarden Euro) aus Afrika. Die größten Mengen kommen aus anderen Weltregionen, weshalb die Bundesregierung beispielsweise sogenannte Rohstoffpartnerschaften mit der Mongolei, mit Kasachstan und mit Peru abgeschlossen hat, aber mit keinem afrikanischen Land. Und als der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kürzlich Alarm schlug, die Ressourcen, die man für Zukunftstechnologien benötige, würden knapp, da ging es zum großen Teil um Bodenschätze, die vor allem außerhalb Afrikas zu holen sind: Um Lithium für Elektroautobatterien, das zu rund 75 Prozent in Australien und Chile gefördert wird und in großen Mengen in Bolivien zu finden ist; daneben um Graphit, bei dem ein einziges Land 70 Prozent des Weltmarkts beherrscht – China.

    Freilich sind die Bodenschätze einiger afrikanischer Länder aus unterschiedlichen Gründen immer noch extrem begehrt. Südafrika beispielsweise spielt eine Sonderrolle. Von dort stammten im Jahr 2014 fast 70 Prozent der gesamten deutschen Erzeinfuhren von dem Kontinent; sie hatten einen Wert von 740 Millionen Euro. Hinzu kamen Metallimporte im Wert von einer weiteren dreiviertel Milliarde Euro. Südafrika besitzt unter anderem 42 Prozent der globalen Chrom- und mehr als 90 Prozent der weltweiten Platinreserven; entsprechend bezieht die Bundesrepublik gut zwei Fünftel ihres Platins und zwei Drittel ihres Chroms von dort. Zu den Platinkäufern gehört unter anderem der BASF-Konzern, der einen Teil des erworbenen Rohstoffs direkt in Südafrika weiterverarbeitet. BASF ist Hauptkunde von Lonmin, einem Platinminenbetreiber, dessen Arbeiter vor fünf Jahren in Marikana gegen miserable Arbeits- und Lebensbedingungen protestierten – bis 34 von ihnen am 16. August 2012 erschossen wurden. Eine Untersuchungskommission gab Lonmin eine Mitschuld daran. Eine Entschädigung haben die Familien der Opfer bis heute nicht erhalten – auch nicht von BASF; das schmälerte schließlich den Profit.

    Auch das Bauxit aus Guinea ist in Deutschland sehr begehrt. Das westafrikanische Land, das mit seinen mehr als zwölf Millionen Einwohnern auf Platz 183 von 188 des Human Development Index (eines »Wohlstandsindikators«) liegt, verfügt über die größten Reserven der Welt. Auch in Guineas Bergbauregionen herrschen miserable Verhältnisse: Bergarbeiter klagen über niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und dadurch verursachte Gesundheitsschäden; Anwohner leiden unter drastischer Verschmutzung von Luft und Wasser. Häufig kommt es zu Protesten, zuletzt im April und im September dieses Jahres; beide Male wurde mindestens ein Demonstrant erschossen. Deutsche Unternehmen beziehen mehr als 95 Prozent des Rohstoffs, den sie zur Herstellung von Aluminium benötigen, von dort. Kobalt wiederum, das zur Produktion von Handys oder Autobatterien benutzt wird, kommt zu einem erheblichen Teil aus der Demokratischen Republik Kongo, die über fast die Hälfte der weltweiten Reserven verfügt. Die Arbeitsbedingungen in den kongolesischen Abbaugebieten sind ebenfalls katastrophal. Laut Angaben von Amnesty International schufteten dort im vergangenen Jahr 40.000 Kinder unter miserabelsten Umständen. Laut Amnesty zählen Volkswagen und Daimler zu den Konzernen, die bislang nur völlig unzureichende Bemühungen unternommen haben, wenigstens Kinderarbeit aus ihren Lieferketten fernzuhalten.

    Sonderrolle Südafrika

    Zurück zu Südafrika. Das Land hat für die Bundesrepublik nicht nur mit seinen Rohstoffen eine Sonderrolle inne. Es ist ihr mit Abstand größter Handelspartner auf dem gesamten Kontinent und ihr wichtigster dortiger Investitionsstandort. Rund ein Drittel des deutschen Afrika-Handels wird mit dem Land abgewickelt, das zudem laut Angaben der Bundesbank zwei Drittel der unmittelbaren und mittelbaren deutschen Direktinvestitionen in Afrika absorbiert hat. Zu den Investoren zählen die großen Autokonzerne VW, Daimler und BMW, die alle schon zu Zeiten der Apartheid beste Geschäfte mit dem Land machten, Daimler übrigens auch mit der Lieferung von mindestens 2.500 Unimogs an die südafrikanische Armee – trotz des UN-Waffenembargos. Damals wurden in den deutschen Werken nicht nur die rassistischen Apartheidpraktiken penibel befolgt; schwarze Gewerkschafter mussten auch damit rechnen, bei Streiks festgenommen und auf den Polizeiwachen gefoltert zu werden. Rheinmetall lieferte neben Munition gleich auch noch eine ganze Munitionsabfüllanlage. Entschädigung für Apartheidopfer haben die deutschen Konzerne natürlich nie gezahlt. Dafür hat Rheinmetall im Jahr 2008 die Mehrheit an der südafrikanischen Rüstungsfirma Denel übernommen. Seitdem beliefert »Rheinmetall Denel Munition« (mit Sitz in Cape Town) Staaten, bei denen die deutschen Rüstungsexportvorschriften zu Komplikationen führen könnten. So hat der südafrikanische Rheinmetall-Ableger den Bau einer Munitionsfabrik im saudischen Al-Khardsch organisiert; er betreut das Werk weiterhin.

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    Neben dem Export setzt die deutsche Wirtschaft in Afrika vor allem auf maximale Ausbeutung – Protestveranstaltung im südafrikanischen Marikana, wo 2012 während eines Streiks bei dem vor allem an BASF liefernden Platinminenbetreiber Lomnin 34 Arbeiter erschossen wurden (Aufnahme vom 16.4.2014)

    Deutsche Unternehmen produzieren in Südafrika, dem am stärksten industrialisierten Land des Kontinents, das sich zudem im Rahmen des BRICS-Staatenbundes an einer eigenständigen Politik versucht, zum einen unmittelbar für den dortigen Markt, zum anderen für den Export in weitere afrikanische Länder. Das bringt viel Geld: Im Jahr 2012 konnten die über 350 deutschen Firmen in Südafrika einen Umsatz von knapp 18 Milliarden Euro erzielen. Ableger deutscher Firmen gibt es in nennenswerter Anzahl sonst nur in Nordafrika – in Ägypten sowie im Maghreb. Dort haben die Investitionen allerdings zumeist einen anderen Charakter: Es geht darum, die niedrigen Löhne zur Produktion für den europäischen Markt auszunutzen. Klassisches Beispiel dafür ist Tunesien. Dort beträgt der Mindestlohn aktuell mit 140 Euro im Monat weniger als die Hälfte desjenigen in Rumänien (320 Euro); zugleich ist der Warentransport per Schiff über das Mittelmeer genauso problemlos möglich wie der Landtransport aus Südosteuropa. In Tunesien gehören – so beschreibt es das Auswärtige Amt unverändert bereits seit vielen Jahren – »Textilien (Vorerzeugnisse)« zu den Hauptimporten aus Deutschland; »Textilien (Enderzeugnisse)« zählen zu den wichtigsten tunesischen Exporten in die Bundesrepublik. Der deutsche Kabelhersteller Leoni, der Kfz-Konzernen zuliefert, ist nach eigenen Angaben größter Arbeitgeber in Tunesien, produziert inzwischen aber auch in Marokko und Ägypten, ebenfalls zu niedrigsten Löhnen. Rund 250 deutsche Firmen lassen zur Zeit etwa 55.000 Menschen in Tunesien schuften. Die bekannteste von ihnen ist Steiff, die in Sidi Bouzid Kuscheltiere produziert. Nur einige hundert Meter vom Firmengelände entfernt steckte sich am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen die unerträglichen Lebensbedingungen im Land der 26jährige Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in Brand – und löste damit die Revolten zunächst in Tunesien, dann auch in weiteren Staaten aus, die als »Arabischer Frühling« bezeichnet werden.

    Waren die Lebensverhältnisse in den Ländern Afrikas, die Rohstoffe liefern und billige Arbeitskraft stellen, ansonsten höchstens noch deutsche Autos und Maschinen kaufen sollen, dem deutschen Establishment eigentlich immer herzlich egal, so hat sich das in den letzten Jahren etwas verändert: Die Massenflucht nicht nur aus dem Maghreb, sondern vor allem auch aus den Staaten südlich der Sahara macht der Bundesregierung zunehmend Sorgen. Die Zeiten, in denen man Reichtum anhäufen konnte, ohne damit rechnen zu müssen, dass die Opfer der neokolonialen Verhältnisse nicht nur für den deutschen Wohlstand schuften, sondern sich auch über Grenzen hinwegsetzen, um in bescheidenstem Maß an ihm teilzuhaben, sind vorbei. Entsprechend hat die deutsche Migrationsabwehr Hochkonjunktur. Nicht nur das Mittelmeer wird abgeriegelt. Schon seit Jahren werden die Polizeien insbesondere der Sahelstaaten hochgerüstet und trainiert – unter anderem mit einem »Polizeiprogramm Afrika« der bundeseigenen Entwicklungsorganisation GIZ –, werden Länder wie Äthiopien, Eritrea und Sudan über die EU mit Grenztechnologie und mit Mitteln zum Bau von Lagern versorgt, um Flüchtlinge schon möglichst weit im Süden zu stoppen. Doch wird das ausreichen, um Europa abzuschotten? Laut aktuellen Schätzungen wird sich die Bevölkerung Afrikas von derzeit 1,2 Milliarden Einwohnern bis zum Jahr 2050 auf 2,5 Milliarden mehr als verdoppelt haben. »Weit über eine Milliarde Menschen werden künftig einen rationalen Migrationsgrund haben«, erklärte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, am 13. November auf einer Veranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU): »Der Migrationsdruck auf Europa wird zunehmen.« Reicht nun aber bloße Repression auf Dauer wirklich zur gewünschten Abwehr aus?

    Zukunftsstrategien

    Hier kommen Überlegungen ins Spiel, die im Dezember 2015 das Münchener Ifo-Institut geäußert hat. Sie müssen vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums südlich der Sahara sowie der geringen Präsenz deutscher Unternehmen in den Ländern zwischen den nordafrikanischen Küstenstaaten und Südafrika verstanden werden. Der Anteil West- und Ostafrikas am deutschen Export ist seit 1990 recht deutlich geschrumpft, derjenige Zentralafrikas ist genauso vernachlässigbar geblieben, wie er es bereits damals war. Der Grund: Die Mittel- und Oberschichten in den dortigen Ländern, die das Geld haben, um teure deutsche Waren zu kaufen, sind zu schmal, als dass sich der Ausbau breiterer Handelsbeziehungen lohnen würde. Doch wenn die Gesamtbevölkerung sich vergrößert, dann wachsen voraussichtlich auch die Mittelschichten; um künftig von ihren Käufen zu profitieren, sollten die deutschen Exporte »von heute circa zwei Prozent des Gesamtvolumens auf drei Prozent im Jahr 2025 und auf fünf Prozent im Jahr 2050« erhöht werden, rät das ifo Institut. Hinzu komme noch ein weiterer Faktor: Mit dem Bevölkerungswachstum nehme auch die Zahl der Erwerbsfähigen zu; bis 2050 könne sie von heute mehr als 400 Millionen Menschen auf gut eine Milliarde steigen. Gleichzeitig sei damit zu rechnen, dass die Lohnkosten »in allen anderen Weltregionen« deutlich stärker stiegen als südlich der Sahara: »Daher ist mit einer deutlichen Zunahme der relativen preislichen Wettbewerbsfähigkeit Afrikas zu rechnen.« Soll heißen: Wer in den 2020er, vor allem aber in den 2030er und den 2040er Jahren weiterhin Niedriglohnproduktion betreiben will, muss sich rechtzeitig in den zuletzt von der deutschen Wirtschaft vernachlässigten Gebieten des Kontinents festsetzen.

    Dazu sollte zuletzt die Reise von Bundespräsident Steinmeier nach Ghana beitragen. Die »Reformpartnerschaft«, die die Bundesrepublik – in Umsetzung der Beschlüsse des G-20-Afrika-Gipfels vom Juli 2017 in Berlin – mit dem Land eingegangen ist, soll vor allem Investitionen erleichtern und damit deutschen Unternehmen den Weg bahnen. Ghana ist keines der wirtschaftlichen Schwergewichte, von denen es südlich der Sahara nur zwei gibt – Südafrika und Nigeria. Es wird allerdings in Wirtschaftskreisen neben etwa der Côte d'Ivoire, Kenia, Äthiopien und Angola zur »zweiten Reihe« afrikanischer Staaten gezählt, in denen sich trotz begrenzter Märkte immer noch attraktive Geschäfte machen lassen. Aber auf der Rangliste der deutschen Handelspartner taucht es erst auf Platz 89 auf – nach Jordanien und knapp vor Honduras, mit Ein- und Ausfuhren in Höhe von jeweils dürftigen 300 Millionen Euro. Das zeigt, wie sehr hiesige Unternehmen afrikanische Staaten südlich der Sahara in ihren Planungen vernachlässigt haben. Dabei hat Ghana – abgesehen von einer kurzen, heftigen Finanzkrise in den Jahren 2014 und 2015 – seit 2006 ein erstaunliches Wachstum erzielt und wird zu den »African Lions« gezählt, einer Gruppe von Staaten wie Äthiopien und Ruanda, deren Wirtschaft rasch wächst. Ghana böte dem deutschen Kapital neben dem viel größeren, aber als eher schwierig geltenden Nigeria wohl gute Chancen.

    Konkurrenten: Frankreich und China

    Ghana ist nicht das einzige Land, in dem Berlin sich bemüht, die deutsche Wirtschaftspräsenz mit Blick auf den künftig wohl wachsenden Markt zu stärken. Einen Vertrag über eine »Reformpartnerschaft« hat die Bundesrepublik nicht nur mit ihm und mit ihrem traditionellen Niedriglohnstandort Tunesien, sondern auch mit der Côte d’Ivoire geschlossen. Das Land, im Westen an Ghana grenzend, gilt als Wirtschaftszentrum des frankophonen Westafrika. Deutschland bezieht zwar Produkte in einem Wert von fast einer Milliarde Euro aus dem Land – überwiegend Rohkakao –, kann aber nur wenig exportieren, so dass die Côte d’Ivoire in der deutschen Außenhandelsstatistik nicht über Platz 75 hinauskommt, ganz knapp vor Liechtenstein. Der Grund? Frankreich verfügt in der Françafrique, seinen ehemaligen Kolonien, trotz aller PR-Behauptungen von Präsident Emmanuel Macron noch immer über enormen Einfluss (siehe junge Welt vom 18.12.2017, S. 12 f.). Berlin kämpft dagegen an, hat den erhofften Durchbruch aber noch nicht erzielt. Das soll nun mit Hilfe der »Reformpartnerschaft« gelingen. Steht das anglophone Ghana im meist französischsprachigen Westafrika ein wenig isoliert für sich, ist – so formuliert es die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest – die ivorische Hauptstadt Abidjan mit ihrem wichtigen Hafen »gerade dabei, ihre alte Rolle als industrieller Hub für das frankophone Westafrika wiederzuerlangen«: »Von Abidjan aus lassen sich die Länder Burkina Faso, Mali, Niger, Togo und Benin versorgen«. Das passt – in Mali und Niger ist Berlin ja auch anderweitig präsent: mit der Bundeswehr.

    Ob es der Bundesrepublik gelingt, in die Franç­afrique einzubrechen, wird man sehen. Viel Zeit lassen kann sie sich wohl nicht. Im vergangenen Jahrzehnt, in dem die deutsche Wirtschaft allen Appellen zum Trotz nicht so recht in die Gänge kam, ist China zur Nummer eins auf dem Kontinent aufgestiegen. Es ist heute der mit Abstand bedeutendste Handelspartner Afrikas und sein aktuell wichtigster Investor – und es intensiviert seinen Handel und seine Kapitalanlagen weiter. So liefert die Volksrepublik inzwischen etwa 17,3 Prozent der ghanaischen Importe; Deutschland liegt bei 3,9 Prozent. Chinas Investitionen in Ghana wurden zuletzt mit 1,3 Milliarden US-Dollar beziffert, während die deutschen laut Angaben der Bundesbank im mittleren zweistelligen Millionenbereich verharrten. Beijing will im nächsten Schritt den Bau einer 1.400 Kilometer langen Eisenbahnstrecke quer durch Ghana finanzieren, die erstens gewaltige Bauxitvorkommen infrastrukturell erschließen und zweitens das nördliche Nachbarland Burkina Faso anbinden soll. Geplant ist zudem die Errichtung von Wasser- und Solarkraftwerken. Tut China sich mit gewaltigen Infrastrukturprojekten hervor, so haben deutsche Unternehmen in Ghana zuletzt von sich reden gemacht, als sie – eine vom IWF erzwungene Schutzzollsenkung ausnutzend – in großem Stil Hühnerfleisch zu Dumpingpreisen nach Ghana verkauften. Viele einheimische Geflügelzüchter konnten mit den deutschen Fleischkonzernen nicht mithalten und mussten letztlich ihre Betriebe schließen. Dem deutschen Export hat’s genutzt.

  • · Hintergrund

    Welthandelsmacht

    Chinas milliardenschweres Megaprojekt einer »maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist weit vorangeschritten. Diesem Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen hat die EU wenig entgegenzusetzen
    Burkhard Ilschner
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    Chinesische Waren, chinesische Schiffe, chinesische Häfen. Der Welthandel ist ohne Beteiligung der Volksrepublik undenkbar geworden (Riesenfrachter am Hafen von Qingdao, am Gelben Meer im Nordosten Chinas)

    Die Volksrepublik investiert viele Milliarden, die Bundesrepublik ist in Sorge. Die chinesische »Belt and Road«-Initiative (BRI) veranlasst den deutschen Chefdiplomaten in Beijing, Michael Clauss, zu scharfen Tönen: Das Konzept sei »sinozentrisch«, kritisierte der Botschafter und verlangte im Namen Deutschlands und Europas mehr Mitsprache. Das wirft die Frage auf: Mit welchem Recht?

    Mit der Initiative strebt die Volksrepublik China seit 2013 die Schaffung eines wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks von der eigenen Pazifikküste über Zentralasien, Arabien, Ostafrika und Nahost bis Westeuropa an, dessen Namensgebung eine bewusste Referenz an die alte »Seidenstraße« darstellt: Auch damals schon waren chinesische Waren – darunter eben auch die in Europa begehrte Seide – nicht nur über Land (auf der eigentlichen »Seidenstraße«) durch die Mongolei und Iran bis nach Syrien, sondern auch auf verschiedenen Seewegsrouten über den Indischen Ozean gen Westen bis nach Arabien und Ägypten gelangt. Einzig die bis 1869, dem Jahr der Eröffnung des Suezkanals, ja noch nicht durchgängig bestehende Verbindung zwischen dem Roten und dem Mittelmeer verhinderte eine durchgehenden Transport der Waren per Schiff.

    Im Sommer dieses Jahres hat das »Internationale Maritime Museum Hamburg« in einer eindrucksvollen Sonderausstellung an die kommerziellen und kulturellen Beziehungen zwischen China und Europa entlang der »Maritimen Seidenstraße« zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert erinnert. Die Schau ist eine Leihgabe des chinesischen Guangdong-Museums aus Guangzhou, der Metropole am Perlflussdelta: Es heißt, die vorangegangene Forschungsarbeit habe maßgeblich zur Entwicklung der BRI und zur Wiederbelebung der frühneuzeitlichen Idee eines überseeischen Netzwerks beigetragen.

    In der Volksrepublik erwuchs daraus 2015 ein offizielles Konzept der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission. Es trägt den Titel »Vision und Aktionen zum gemeinsamen Aufbau des Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtels und der Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« und prägt damit auch die aktuellen Begriffe: Der »Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtel« soll das neue Netzwerk transkontinentaler Landverbindungen sein, der Begriff »Maritime Seidenstraße« meint ein Netzwerk von Schiffahrtslinien und Häfen, an denen chinesische Unternehmen beteiligt sind. Hinter diesem Terminus steht auch, wie es in dem von der Kommission erarbeiteten Papier heißt, die Absicht, »strategische Triebkräfte für die Hinterlandentwicklung« zu fördern, also Kooperationen mit anderen Ländern zum Aufbau einer an den Anforderungen der Hafenwirtschaft orientierten Infrastruktur anzustreben.

    Beide Netze zusammen bilden die besagte »Belt an Road«-Initiative, die in den aktuellen Fünfjahresplan der Volksrepublik integriert wurde. Folgerichtig gilt sie damit als strategische Zielsetzung eigenen politischen Handelns, auch in der Absicht, andere Staaten in ein solches Netzwerk zu integrieren. Sie beschwört den »Geist der Seidenstraße« als historisches und kulturelles Erbe: »Frieden und Zusammenarbeit, Offenheit und Inklusivität, gegenseitiges Lernen und gegenseitiger Nutzen.« Daran wird sich China messen lassen müssen.

    Von der Realität eingeholt

    Der Umstand, dass Züge Container aus China bis nach Duisburg, Hamburg und Rotterdam transportieren, überrascht schon lange niemanden mehr. »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will« – das formulierte ein Bremerhavener Logistikexperte in den späten 1980er Jahren: An der dortigen Hochschule wurde damals – die Sowjetunion befand sich in der Ära Gorbatschow im Umbruch – aus der Sicht westeuropäischer Hafenbetreiber über die Wiederbelebung der »Transsib«-Eisenbahn zwischen Moskau und Wladiwostok diskutiert. Dabei wurden auch die Möglichkeiten einer Verlängerung der Schienentrasse bis nach China oder eine Beschleunigung der Transporte über den Seeweg geprüft: von Fernost per Großschiff bis ins Mittelmeer und von dort entweder via »Short Sea Shipping« über Gibraltar oder über transalpine Trassen auf dem Landweg nach Nordwesteuropa.

    Etliche dieser 30 Jahre alten Ideen sind heute – zu Lande wie zu Wasser – längst verwirklicht, andere von der Realität längst überholt worden, und das nicht immer zum gesellschaftlichen Nutzen: Erinnert sei hier beispielhaft an den oft beschriebenen, steuerlich hoch subventionierten Gigantismus westeuropäischer und nicht zuletzt deutscher Reeder, den China- bzw. Fernosthandel mit immer größeren Schiffen bis Nordwesteuropa zu organisieren und dabei hiesige Hafenstädte unter Druck zu setzen, ihre Terminals und Wasserwege diesem Vorhaben anzupassen. »Short Sea Shipping« zwischen mediterranen und hiesigen Häfen dagegen ist heute inzwischen meist dem intrakontinentalen Warenaustausch vorbehalten.

    Im Frühjahr dieses Jahres prophezeite der Chef des halbstaatlichen norddeutschen Hafenlogistikers Eurogate, Thomas Eckelmann, der interkontinentale Warenverkehr von Ostasien nach Europa werde sich zunehmend auf den Mittelmeerraum konzentrieren. Daraus sprachen sehr wohl eigene Interessen. Denn für das »Transshipment« genannte Umladen vom Riesenfrachter mit 22.000 Standardcontainern (TEU) auf kleinere »Feeder« im Zuge von »Short Sea Shipping«-Konzepten – verfügt Eurogate über sieben ideale mediterrane Standorte zwischen Zypern und Gibraltar.

    Schon während des Suezkanal-Ausbaus wurden Ausweichoptionen um die Südspitze Afrikas geprüft. Heute, im Zuge des Klimawandels, wird über Routen durch die nicht mehr ganzjährig vereiste Arktis geredet. Nur eines fand nicht statt: eine breite Debatte über neue Konzepte zur Vernetzung einzelner Abschnitte der Ostasien-Europa-Verbindung – zur gegenseitigen Entlastung, zum gegenseitigen Nutzen. Dafür mussten erst die Chinesen ihre Initiative präsentieren.

    Seither wird über die neue »Maritime Seidenstraße« zwar gesprochen, aber noch immer wird das Projekt der Volksrepublik überwiegend nur partikular, aus dem Blickwinkel der eigenen Interessen wahrgenommen, statt es als das zu sehen, was es ist: der Entwurf eines globalen Netzwerks. Und längst geht es dabei nicht mehr nur um Visionen. Das Konzept befindet sich bereits in Umsetzung. »Sinozentrik«-Kritik ist da ebenso fehl am Platze wie der Ruf nach »Mitsprache«. China begreift das Netzwerk der »Maritimen Seidenstraße« als ein Angebot zur Partizipation. Nur die Praxis kann daher zeigen, wie ernst Beijing seinen Hinweis auf die vermeintlichen historischen Werte friedlicher Zusammenarbeit meint.

    Zaudern bei EU und BRD

    Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hatte bereits 1998 die (historische) Seidenstraße ein Beispiel für die gelungene Verbindung »grenzüberschreitender Verkehrssysteme mit kultureller Eigenständigkeit und regionalem Selbstbewusstsein« genannt. Daraufhin ging kein Ruck durch die Unternehmer, erfolgte keine eigenständige Initiative von deutscher (oder europäischer) Seite. Die musste erst 15 Jahre später von China ergriffen werden, um die Europäer zu einer Reaktion zu veranlassen.

    Im Juni 2015 beschlossen die EU und China auf ihrem Gipfel in Brüssel, die Kooperation mit der Gründung einer »Konnektivitätsplattform« zu festigen. Damit sollten die »Investitionsoffensive der EU« und die chinesische Seidenstraßen-Initiative verbunden werden. Während allerdings die Volksrepublik die Infrastruktur Zentralasiens und jene für die Schiffahrtslinien auf dem Indischen Ozean für Transporte bis nach Europa im Blick hat, und diese Investitionen in Asien, Mittel- und Osteuropa begehrt sind, beschränkt die EU ihre »Offensive« auf den eigenen Wirtschaftsraum. Offen bleibe, heißt es in einem Papier des in Hamburg ansässigen Deutschen Asien-Instituts vom Dezember 2015, »wie divergierende Interessen zusammengeführt werden können«.

    Brüssel hat sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass China bereits vor Ausrufung der BRI mit der sogenannten 16-plus-1-Initiative einen regionalen Kooperationsansatz gestartet hat, der elf EU-Mitgliedsländer und fünf Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa einschließt. Ein Problem wird darin offiziell nicht gesehen.

    Die EU hat zwar den Charakter der BRI als »Entwicklungsstrategie und Rahmenaufgabe«, die auf Zusammenarbeit fokussiert sei, erkannt – aber über die erwähnte »Konnektivitätsplattform« hinaus bleibt es bislang bei floskelhaften Appellen, eine »blaue Partnerschaft« zwischen China und der Europäischen Union zu etablieren. Aktive Partizipation am längst wachsenden Netzwerk ist nicht wahrnehmbar.

    Auch die Bundesrepublik übt sich in Zurückhaltung. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping am 5. Juli in Berlin führte Bundeskanzlerin Angela Merkel lediglich aus, Deutschland habe »positiv die Anstrengungen zu der sogenannten Seidenstraßen-Initiative begleitet«, und äußerte die vage Hoffnung, dass bei einer Beteiligung eine »transparente Ausschreibung« gewährleistet sei. Auf der vom Bundeswirtschaftsministerium ausgerichteten 10. Nationalen Maritimen Konferenz im April dieses Jahres in Hamburg war von Chinas Plan keine Rede, und das, obwohl dort die maritime Wirtschaft versammelt war, um sich über globale Aktivitäten ihrer Branche zu verständigen.

    Derweil pumpt China längst Geld entlang der »Maritimen Seidenstraße« in Häfen, Infrastruktur und punktuell auch in die militärische Absicherung in den Küstenstaaten. Es gibt unterschiedliche Schätzungen über die finanziellen Größenordnungen, letztlich dürfte der Betrag deutlich über der Marke von umgerechnet einer Billion US-Dollar liegen. Finanziert wird dies unter anderem über die 2015 gegründete »Asian Infrastructure Investment Bank« (AIIB), die ihren Sitz in Beijing hat. Der chinesische Staat hält an der Entwicklungsbank, die in Konkurrenz zu den von den USA dominierten Institutionen Weltbank, IWF und Asiatische Entwicklungsbank gegründet wurde, einen Anteil von 26,1 Prozent und besitzt damit ein Vetorecht. Auch die Bundesrepublik und andere EU-Staaten sind daran beteiligt.

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    Die Hauptroute für Frachter auf der »maritimen Seidenstraße«

    China investiert nicht nur über die AIIB, sondern stellt Mittel für ausländische Infrastrukturprojekte auch auf direktem Wege bereit. So hat Beijing etwa den staatlichen »Seidenstraßen-Fonds« mit umgerechnet 20 Milliarden US-Dollar ausgestattet, staatliche Banken sagten weitere 55 Milliarden US-Dollar zu. Im Zentrum von Hongkong, im »China Overseas Building«, residiert mit der »Maritime Silk Road Society« eine Art PR-Agentur mit Vereinsstruktur, in der im Prinzip jeder Mitglied werden kann. Deren besonderes Augenmerk gilt vor allem jungen Berufstätigen und Studenten aus den ASEAN-Staaten, die ermutigt werden sollen, die entwicklungspolitischen Chancen der BRI zu unterstützen. Bislang scheint Beijing sehr genau darauf zu achten, die Kontrolle zu behalten – nicht nur in der AIIB.

    Große Fortschritte

    So oder so, das Projekt der »Maritimen Seidenstraße« zwischen Ostasien und Europa ist inzwischen weit gediehen, wie ein Blick auf die bisherigen Aktivitäten entlang der Route verrät.

    Die Straße von Malakka, eine Meerenge zwischen Sumatra und Malaysia, ist nautisch und wirtschaftlich eine unverzichtbare Verbindung zwischen Südchinesischem Meer und Indischem Ozean, aber auch ein Nadelöhr, das es strategisch abzusichern gilt. Rund um Singapur – der Stadtstaat an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel verfügt über den zweitgrößten Hafen der Welt, an dem Chinas Staatsreederei Cosco bereits Anteile besitzt – bauen chinesische Investoren im südostmalaysischen Johor Baru eine riesige Trabantenstadt für wohlhabende Chinesen, Dienstleister und Händler einschließlich einer Bahnverbindung bis Beijing.

    Weil zu einer effektiven Absicherung auch Alternativen gehören, hat China einerseits Indonesien vorgeschlagen, den Bau von knapp 30 modernen Häfen entlang seiner diversen Küsten zu finanzieren. Andererseits soll in Kuantan im Osten Malaysias sowie in Malakka im Westen des Landes und zusätzlich in Kyaukpyu, an der Küste von Myanmar, in weitere Häfen investiert werden. Im benachbarten Bangladesch baut die Volksrepublik den Hafen von Chittagong aus sowie einen neuen Tiefwasserhafen in Sonadia.

    Im Süden Sri Lankas hat China im Juli 2017 den Hafen von Hambantota zu 70 Prozent übernommen, er soll zum Knotenpunkt des künftigen Warenverkehrs zwischen Südostasien und Afrika werden. Indien verfolgt die Aktivitäten mit Skepsis – wegen Sicherheitsbedenken und aus Sorge, ein Aufschwung in Hambantota könne eigene Häfen ins Abseits drängen. Prompt war Indiens Regierungschef Narendra Modi dem erwähnten BRI-Gipfel im Mai ferngeblieben.

    Im Südwesten Pakistans hat die Volksrepu­blik in Gwadar einen Tiefwasserhafen errichtet, der zwar abseits der »Maritimen Seidenstraße«, aber nahe der strategisch wichtigen Zufahrt zum Persischen Golf liegt. Er wird über eine Eisenbahnlinie an Chinas Südwestprovinz Xinjiang angebunden – Gesamtkosten beider Projekte umgerechnet 54 Milliarden US-Dollar – und soll Drehkreuz zwischen Ostasien, Arabien, Afrika und Europa werden. Via Bahnlinie können zudem chinesische Ölimporte transportiert werden, die derzeit noch per Schiff durch die Straße von Malakka müssen. Zur Deckung des eigenen Energiebedarfs investiert China übrigens in Pakistan in die Kohleverstromung.

    Einen kleinen Brückenkopf leistet sich Beijing auf den Malediven, obwohl die Inselgruppe in der globalen Schiffahrtspolitik eher keine Rolle spielt: Der Ausbau des Flughafens und seine Anbindung an die Hauptstadtinsel Malé mittels einer riesigen Brücke wird von China sowohl finanziert als auch technisch realisiert.

    Im tansanischen Bagamoyo, dem die Insel Sansibar vorgelagert ist, entstehen ein supermoderner Tiefwasserhafen, eine Satellitenstadt, ein Flugplatz und ein Industriegebiet. Das Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt wird von China und Oman finanziert. Bagamoyo, etwa 60 Kilometer nördlich von Dar-essalam gelegen, soll nach Fertigstellung dieser Projekte mit dem Landesinneren vernetzt sein, von Mosambik bis Kenia sowie bis zur DR Kongo.

    Mit chinesischem Kapital wurde auch ein Schienen- und Straßennetz vom Hafen im kenianischen Mombasa ins Binnenland und zur Hauptstadt Nairobi finanziert. China hat sich im Gegenzug das Recht einräumen lassen, für geschätzte 25,5 Milliarden Dollar nordöstlich von Mombasa den sogenannten Lamu-Komplex zu bauen – einen Megaport mit 32 Liegeplätzen samt angrenzender Industrieareale und neuen Verkehrskorridoren bis in den Südsudan und nach Äthiopien. Auch hier wird die Energieversorgung durch ein Zwei-Milliarden-Dollar-Kohlekraftwerk gesichert.

    Auf dem Weg zum Mittelmeer hat China seit Sommer 2017 auch einen militärischen Stützpunkt – in Dschibuti am Golf von Aden, direkt neben den Marinehäfen anderer Großmächte. Offiziell soll die Militärbasis nur der Pirateriebekämpfung sowie der Unterstützung von UN-Missionen in Afrika dienen.

    Im Mittelmeer selbst hatte China vor einiger Zeit vergeblich versucht, auf Kreta Fuß zu fassen und in Timbaki einen großen Containerhafen zu bauen. Das dürfte sich erledigt haben, seit die Troika die Griechen unter Alexis Tsipras gezwungen hatte, der chinesischen Reederei Cosco den Hafen von Piräus zu überlassen, sozusagen als Brückenkopf im Mittelmeer. Die Chinesen investieren, der Umschlag nimmt zu – aber die Hafenarbeiter sehen sich gezwungen, »grundlegende Rechte« sowie »Arbeitsrechte und Tarifverträge gegen den Investor« zu verteidigen, wie es im Juni dieses Jahres auf einer von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hamburg organisierten Diskussionsveranstaltung unter Hafenarbeitern hieß.

    Anfang November hat Portugals Ministerin für Meeresangelegenheiten, Ana Paula Vitorino, in Begleitung von drei Dutzend ­Schiffahrtsmanagern in China über eine Beteiligung Portugals an der »Maritimen Seidenstraße« verhandelt. Umgerechnet etwa 2,5 Milliarden US-Dollar soll Beijing unter anderem in den Ausbau der Containerhäfen von Sines, Lissabon und Leixoes investieren: Portugal wolle sich »als globales logistisches Drehkreuz im Atlantik« aufstellen, sagt Vitorino – für China wäre das ein weiterer Brückenkopf auf der Route nach Nordwesteuropa.

    Dort haben chinesische Firmen heute bereits etliche Beteiligungen, so etwa Cosco neben der in Piräus auch in Rotterdam, die SIPG als Hafenbetreiber von Shanghai im belgischen Zeebrügge; und CK Hutchison – ein privater in Hongkong ansässiger Konzern mit engen Bindungen an die KP-Führung in Beijing – sitzt in Rotterdam, Venlo, Duisburg, Felixstowe, Gdynia und Barcelona. Der Versuch eines chinesischen Konsortiums, in Hamburg Fuß zu fassen und einen fünften Containerterminal zu bauen und zu betreiben, ist zwar spontan auf breite Ablehnung gestoßen – erledigt ist die Sache damit aber längst nicht.

    Laut einer Studie der Londoner Investmentbank Grisons Peak stellt China aktuell vier der zehn größten Hafenbetreiber der Welt sowie vier der 20 größten Schiffahrtslinien. Zudem sind fast zwei Drittel der 50 größten Häfen der Welt entweder in chinesischem Besitz oder abhängig von chinesischen Investitionen; 2010 habe das nur für ein Fünftel von ihnen gegolten.

    »China kommt schneller, als manch einer es wahrhaben will.« Wer heute die chinesische BRI als Bedrohung thematisiert, hat eine Entwicklung verschlafen und frühzeitige Prognosen hiesiger Experten nicht ernst genommen. Wenn gegenwärtig über den chinesischen Plan einer »Maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts« geredet werden muss, dann nur, weil Beijing die Chancen einer derartigen Strategie schneller und klarer erkannt und angepackt hat als hiesige Politiker und Logistiker.

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