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Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Frankfurter Buchmesse

Wo die blauen Blumen welken

Mit und ohne Wolfram Weimer auf der Frankfurter Buchmesse
Von Peter Merg
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Bücher bilden Bürger

Ich habe es geschafft. Seit Mittwoch ist Frankfurter Buchmesse, und noch immer bin ich nicht Wolfram Weimer begegnet. Gar nicht so leicht, wenn man um den Geltungsdrang des Kulturstaatsministers weiß. Aber ich habe geschummelt. Zur üblicherweise todlangweiligen Messeeröffnung etwa war ich abwesend. Da zog der ehemalige Digitalunternehmer und E-Mailadressenhändler wieder einmal gegen die Big-Tech-Konzerne ins Feld: KI werde die Literatur »zerfetzen«, Novalis’ »blaue Blumen abmähen«, sei »geistiger Vampirismus« und »digitaler Kolonialismus«, den man »einhegen und nötigenfalls zerschlagen« müsse. Was natürlich im Leben nicht passieren wird, aber wenn Weimer etwas kann, dann mit dem großen Besteck klappern. Das klang wohl in den Ohren der gebeutelten Buchbranchenvertreter, doch nicht in denen Richard Grenells. Der US-Botschafter beklagte noch am selben Tag auf X, Kanzler Merz habe seinen »vertrauenswürdigsten Berater« die gesamte US-Digitalindustrie angreifen lassen, um ihr den europäischen Markt zu vermiesen.

Ein Ruf zur Ordnung also, es mit dem wohlfeilen Beweinen der US-amerikanischen Digitalraubzüge nicht zu übertreiben, wenn man im Geschäft bleiben will. Und eine willkommene Ausrede für Weimer, sich – noch immer am Mittwoch – frühzeitig von der Verleihung des Deutschen Verlagspreises zu verdrücken, um unpassende Bilder zu vermeiden. Er wäre wohl gar nicht aufgetaucht, hätte sich nicht Nius auf ihn eingeschossen, weil im Rahmen der Preisvergabe Jahr für Jahr auch ein paar tausend Euro staatliche Förderung an Verlage mit leichtem Linksdrall fließen. Weimer war erst jüngst eingeknickt, als er wegen einer Kampagne des rechten Krawalloportals den Vorzeigeliberalo Jan Böhmermann öffentlich genötigt hatte, ein Konzert des Rappers Chefket im Berliner Haus der Kulturen der Welt abzusagen. Weimer versicherte Böhmermann zwar unlängst bei einem Podiumsgespräch, er würde es wieder tun, aber Lust, sich bei jeder Gelegenheit am Ring durch die Manege ziehen zu lassen, hat er offenbar nicht. Also muss er einmal standhaft bleiben. Ungewohnt, aber vielleicht für alle Beteiligten von erzieherischer Wirkung.

Was übrigens nicht heißt, dass die Vergabe des so attackierten Preises zur Förderung unabhängiger Verlage nicht tatsächlich etwas undurchsichtig ist. Jahr für Jahr werden in verschiedenen Kategorien über 80 Häuser mit zumeist Kleinstbeträgen bedacht, die für Betriebe ihrer Größe dennoch einen großen Unterschied machen können. Die drei Hauptpreise gingen dieses Jahr an den Konkursbuch-, den März- und den Unrast-Verlag. In den Programmen der letzteren beiden lassen sich verdienstvolle linke Publikationen von Fanon-Aufsätzen bis Antifakalendern finden, man gönnt ihnen die jeweils 50.000 Euro ebenso wie der Schweizerin Dorothee Emlinger, die mit ihrer Joseph-Conrad-Reverenz »Die Holländerinnen« den Deutschen Buchpreis einfuhr und nun 25.000 Euro reicher ist.

Julian »Noch wach?« Reichelts Möchtegernbluthund Jens Winter strich derweil zunehmend verzweifelt durch die Gänge der Halle 3.1, um etwa Unrast-Titel über feministische Gegengewalt zu skandalisieren. Stets in Verteidigung der Freiheit, etwa der, eine nichtsahnende Verlagsmitarbeiterin an der U-Bahn abzufangen und mit Fragen zu bedrängen, ob sie sich nicht schäme. Natürlich handelte er sich Abfuhren ein. Auch am jW-Stand, wo ihn ein großes Lenin-Bild sichtlich erschreckte. Sollte es Weimer also ernst sein mit dem Linksradikalismus: Wir wären gesprächsbereit.

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