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Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Fotografie

Tafelfreuden

Eine Werkschau der Fotografin Vera Mercer im ZAK in der Zitadelle Spandau
Von Matthias Reichelt
Gastrosophie: Mit vollem Mund in einer untergegangenen Welt
Über den Dächern von Paris
Stilleben von Vera Mercer

Die berühmten Pariser Markthallen – Les Halles – im 1. Arrondissement, verewigt auch in Émile Zolas Roman »Der Bauch von Paris« (1873), wurden 1969 verlegt, das riesige Gebäude zwei Jahre später abgerissen. Alle möglichen Lebensmittel, ob nun Rinderköpfe oder in Reihe hängende Schweinehälften, waren dort von Händlern und Schlachtern zerlegt zum Kauf dargeboten worden. Nach getaner Arbeit setzten sie sich in mitunter blutbefleckter Montur zu einem deftigen Essen und Rotwein frühmorgens zusammen. Dieses Treiben, in wunderbar atmosphärischen Schwarzweißaufnahmen festgehalten, ist nun in einer Retrospektive der 1936 in Berlin als Vera Gisela Margret Mertz geborene und unter ihrem heutigen Namen Vera Mercer bekannten Fotografin zu sehen.

Als die Fotografin diese Bilder der Markthallen in den späten 60er Jahren aufnahm, firmierte sie noch unter dem Nachnamen Spoerri, da sie 1957 den Schweizer Tänzer und Regisseur Daniel Spoerri geheiratet hatte. Der erst kürzlich verstorbene Spoerri wurde als Mitbegründer der Gruppe Nouveau Réalisme und als Eat-Art-Künstler berühmt, hatte aber zuvor unter anderem in den 50er Jahren mit dem Bühnenbildner und -architekten Franz Mertz, dem Vater von Vera Mertz, am Darmstädter Theater zusammengearbeitet. So kam die Verbindung zustande, durch die Vera Spoerri dann etwas später in Paris mit ihrem Mann Teil der französischen Künstlerkreise wurde und diese porträtierte. Bislang völlig unbekannte Aufnahmen der jungen Niki de Saint Phalle oder von Jean Tinguely bieten einen Einblick in deren künstlerischen Alltag. Mit ihrer Kamera beobachtete Vera Mercer Daniel Spoerri im intensiven Gespräch mit Marcel Duchamp. Diese in den frühen 60er Jahren entstandenen Fotos umfassen höchst eindrucksvolle Porträts des passionierten Schachspielers und Begründers der »nichtretinalen« konzeptuellen Kunst. Auch Porträts von Samuel Beckett aus dem Jahr 1965 oder Bilder aus Andy Warhols Factory in New York mit dessen Assistentin, der Redakteurin und Schauspielerin Brigid Berlin, Porträts von Norman Mailer oder Jonas Mekas, alle letztgenannten entstanden 1968, finden sich in der Ausstellung.

Großartig auch die Schwarzweißfotografien aus französischen Restaurants, die Kellner und Gäste in mitunter nicht unbedingt vorteilhaften Posen zeigen. Es sind wichtige Bilder, die der Kultursoziologie Informationen sowohl über Kleidung und Verhalten der Menschen als auch die Interieurs der Gastronomie liefern. Sie künden von einer untergegangenen Welt. Freilich gilt das für viele heute, nicht zuletzt durch die gebetsmühlenhafte Proklamierung des »Rechts am eigenen Bild«, als Tabuverletzung.

Die großartige Ausstellung wurde von dem umtriebigen Kurator, Autor und Herausgeber Jens Pepper für das Zentrum für aktuelle Kunst (ZAK) in der Zitadelle Spandau in Berlin organisiert. Ihre ersten Aufnahmen machte Vera Spoerri mit einer von ihrem Mann Daniel geschenkten Kamera der Marke Yashica. Viel später, sie hatte sich 1966 von Spoerri scheiden lassen, aber den Nachnamen aus beruflichen Gründen noch eine Zeit behalten, konzentrierte sie sich auf die Fotografie von perfekt inszenierten Stillleben mit Blumen, Geflügel, Wild und Meerestieren samt Gläsern und anderen Utensilien, getaucht in warmgelbes Kerzenlicht. Diese Bilder, als großformatige Tableaus gedruckt, stehen im Zentrum der Ausstellung. Die opulente Farbigkeit, die Präzision der Ausleuchtung und die bühnenreife Inszenierung erinnern an barocke Malerei und wirken von weitem auch wie Gemälde.

Es sind Tableaus, die einerseits das Verzehren antizipieren und Genuss zelebrieren, aber die Voraussetzung des Tötens von Tieren nicht aussparen. In diesem Sinne könnte Vera Mercers Arbeit auch als »Gastrosophie« bezeichnet werden. Diesen Begriff führte 1851 Eugen Baron von Vaerst in seinem gleichnamigen Buch als »Lehre von den Freuden der Tafel« in den deutschen Sprachraum ein, mit der Intention, alle Aspekte des Lebensmittelverzehrs zu erfassen, inklusive der vorausgegangenen Gewalt.

Trotz der Feier der Üppigkeit sind Mercers Bilder zugleich Vanitas-Darstellungen, die nicht nur an die Vergänglichkeit der getöteten Tiere, sondern auch die Konsumenten an die eigene Lebensbegrenzung erinnern. In ihren Studios, bis vor kurzem in Paris, jetzt nur noch in Omaha, Nebraska, wo sie heute lebt, arrangiert sie Pflanzen und totes Getier, um die so gestaltete Bühne zu fotografieren. Vera Mercers Fotografie wurde nicht nur von internationalen Hotels und Restaurants zur Dekoration von Innenräumen genutzt, sie brachte zusammen mit ihrem verstorbenen zweiten Ehemann Mark Mercer den französischen Restaurantstil nach Omaha, als sie 1970 mit ihm zusammen Paris verließ. In Omaha eröffneten sie diverse Restaurants, wie zum Beispiel das »French Café«, für das sie nicht nur Vera Mercers Fotografien nutzten, sondern auch eine große Skulptur von Niki de Saint Phalle.

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