Wer singt denn da?
Von Kerstin Cornils
Kurz bevor heftiger Schneefall einsetzt, fährt eine Frau mit ihrem Auto durch eine Januarnacht. Sie befindet sich fernab von Metropolen, in der Nähe einer Kaliabraumhalde. Plötzlich erhält sie einen Anruf auf ihrem Handy. Obwohl sie den Mann am anderen Ende nur bruchstückhaft versteht, wird klar, dass sie mit einem berühmten Theaterregisseur spricht. Er, der für ambitionierte Projekte und seine Beschäftigung mit Hannah Arendt, Werner Herzog und Francis Ford Coppola bekannt ist, möchte sie, die Autorin, für eine Theaterrecherche gewinnen. Im Prinzip kann ihr nichts Besseres passieren. Gerade hat sie einen ihrer Texte »gegen die Wand gefahren«. Bedrückt von den aktuellen »Verhältnisse[n], die fraglos und im vielfachen Sinne schlecht, ja tödlich seien«, ist sie in eine veritable Schreibkrise geschlittert: Der »Hinweis auf das Schöne, das Mögliche« in der Literatur scheint sich im Licht der angespannten Weltlage in einen lachhaften Anachronismus verwandelt zu haben. Die Einladung in den Dschungel von Panama, um vor Ort zu protokollieren, wie ein Theaterkollektiv einen möglichen True-Crime-Fall rekonstruiert, mutet befreiend an. Noch bevor die Autorin zusagt, setzt eine Verwandlung ein. Als sie aus dem Schneegestöber in ihre Frankfurter Wohnung zurückkehrt, wirken ihre Bücher und Wassergläser bereits so fremd wie die Requisiten einer Verschwundenen.
In einer dunkel brausenden Symphonie des Verschwindens sind dies nur die allerersten Takte. Auch das Zentrum des wie tropisches Blattwerk verknoteten Romans »Die Holländerinnen« der 1985 geborenen Dorothee Elmiger wird von einem Verschwinden, ja einer monströsen Auslöschung markiert: Zwei junge Rucksacktouristinnen aus Leiden, die titelgebenden Holländerinnen, sind von einer gemeinsamen Wanderung im panamaischen Regenwald nicht mehr wiedergekehrt. Die örtliche Polizei kann keine befriedigende Aufklärung schaffen, internationale Medien wie die Daily Mail spekulieren lustvoll und im Internet werden gierig die letzten digitalen Spuren auf den Handys der Verschollenen ausgeleuchtet. Der Theatermacher, dessen Werk zwischen Christoph Schlingensief und Milo Rau oszilliert, verfolgt einen anderen Weg. Zusammen mit seinem Team, zu dem neben der Autorin unter anderen auch ein Dramaturg, eine Bäuerin und ein Mädchenchor aus Leiden gehören, tauscht er zunächst Geschichten über tote Zicklein im St. Galler Rheintal und zwei durch männliche Gewalt bedrohte panamaische Schwestern aus. Anschließend unternimmt das Theaterteam einen Marsch an exakt jenen Orten, an denen einst die Holländerinnen wanderten. Statt um die Inszenierung eines Schauspiels oder gar die Lösung des Falls soll es um die Verkörperung der Verschwundenen am eigenen Leibe gehen. Tatsächlich wird die Extremtour in die pechschwarze tropische Nacht »durch tausend Vorhänge aus Regen« zu einer verstörenden Grenzerfahrung, die am Ende kriechend und durchnässt absolviert wird.
Was sich durch Elmigers flaschengrüne Dschungellandschaft wie ein roter Faden zieht, sind verwirrende Doppelbilder, Wiederholungen und Déjà-vus. Das Eindringen des Theaterteams in den lateinamerikanischen Dschungel ist als Spiegel in einem Spiegel lesbar, wiederholt es doch die filmische Expedition von Klaus Kinski als »Aguirre«, die ihrerseits die territoriale Aneignung der spanischen Konquistadoren kopiert. Schier jedes Detail verwandelt sich im Zug der Lektüre in eine Spur, die eine Bedeutung verspricht, aber nicht preisgibt. Die wohl grellste Doppelung sind Elmigers Holländerinnen selbst: Wer die Verschollenen im Roman im Internet recherchiert, entdeckt schnell, dass die jungen Frauen aus Leiden fast unterschiedslose Kopien von Kris Kremers und Lisanne Froon aus Amersfoort sind, die 2014 im panamaischen Hochland verschwanden. True Crime und Fiktion vermischen sich, wobei Elmiger klarstellt, dass es »hier keine Pointe geben« wird. Anders als im konventionellen Kriminalroman steht nicht Enträtselung auf der Agenda, vielmehr mutet die Rekonstruktion von Bruchstücken der Realität wie eine Archäologie der Gegenwart an. Elmiger sichtet Scherben mit tödlichen Kanten, Schauplätze latenter Gewalt.
Obwohl der Roman in seinen Requisiten sehr gegenwärtig anmutet, wirkt er anrührend altmodisch in seinem Misstrauen gegenüber der Sprache. Fast fühlt man sich an Hofmannsthals »Worte wie modrige Pilze« und Musils »Möglichkeitssinn« erinnert, wenn Elmiger das vor einem Publikum präsentierte Dschungelprotokoll der schreibblockierten Frankfurterin beharrlich in den Konjunktiv setzt. Manch ein Leser mag das anstrengend, ja überkandidelt finden. In einer Zeit allerdings, in der Thesen reißerisch wie Wahrheiten und Lügen wie unumstößliche Tatsachen präsentiert werden, kommt der Gebrauch des umständlich anmutenden Konjunktivs einer Rebellion gegen den Zeitgeist gleich.
Wie aber steht es um die Angst der Frankfurter Autorin, »der Hinweis auf das Schöne, das Mögliche« könne heute obsolet sein? Auf der strapaziösen Wanderung geraten plötzlich einige »Mädchen mit fliegendem Haar« in den Blick. Ob es die Holländerinnen sind? Oder die Chormädchen aus Leiden? Handelt es sich gar um eine Reinkarnation der Schülerinnen, die in Peter Weirs Film »Picknick am Valentinstag« (1975) verschwanden? Nur eines steht fest: Als der Mädchenchor seine »klaren Stimmen« erhebt, als würden »Strahlenbüschel« das Dunkel durchdringen, stehen Schönheit und Möglichkeit für eine Weile greifbar im Raum.
Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen. Hanser-Verlag, München 2025, 160 Seiten, 23 Euro
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