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Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Hart an der Grenze

Klassenreport: Christian Barons dritter, nur bedingt überzeugender Roman »Drei Schwestern«
Von Stefan Gärtner
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Alle Figuren in seinem Text sind frei erfunden: Christian Baron im Kulturzentrum Kammgarn, Kaiserslautern

So eitel ist der Rezensent dann doch, dass er gern in seinen alten Rezensionen stöbert, um so lieber, wenn es einen guten Grund dafür gibt, etwa das Unvermögen, in den neuen Roman eines Autors hineinzufinden, den man doch bislang freundlich, ja zustimmend rezensiert hat. »Baron kitscht nicht«, hieß es also vor drei Jahren, als Christian Baron seinen zweiten Roman »Schön ist die Nacht« veröffentlicht hatte, eine dichte, das Milieu des unteren Kleinbürgertums, aus dem Baron stammt, mit jenem Grad Sentimentalität beschreibende Sozialstudie, der noch Respekt und nicht schon Verklärung ist. »Ein Mann seiner Klasse« hatte Barons ähnlich gewirktes, Familiengeschichte erzählendes Erfolgsdebüt geheißen, das der deutschen Gegenwartsliteratur den Sozialrealismus jenseits (oder besser diesseits) aller Popversuche zurückgab: Kleine Leute, harte Arbeit, Feierabend in der Pinte. Baron wusste, wovon er schrieb, und er weiß es garantiert immer noch, und doch stellt sein neuer Roman »Drei Schwestern« die Frage nach der Grenze zwischen Genre und Kitsch. Es ist ja nicht verboten, als Autor sein Thema zu haben, und es sind nicht die schlechtesten, deren Werk aus der ewigen Variation des Immerselben besteht, und der Fehler wäre also nicht, dass es nun um »drei Schwestern aus proletarischen Verhältnissen« (Verlag) geht; das Problem ist eher, dass Baron beginnt, sein Lebensthema zu bewirtschaften.

Der Roman fängt mit einer Totgeburt an. Ein totes Kind zu gebären gehört zu den Dingen, die klassenübergreifend schlimm sind, und dass Baron bei der Geburt dabei war, wird man ausschließen müssen; was also bleibt, ist Konfektion: »Sie hält die Augen geschlossen. Bemerkt, wie sie das Besteck fortlegen. Das Licht dimmen. Den Kreißsaal verlassen. Mira öffnet die Augen. Blinzelt. Sie erschrickt, aber sie schreit nicht. Da liegt dieses Kind. Es liegt da, als müsse es schlafend die Strapazen abstreifen. Als schmiege es sich bewusst an Mamas Brust. Dieses Kind, aus dem das Leben gewichen ist. Dabei fühlt es sich so warm und weich an. Eigentlich, denkt Mira, sehen alle Babys aus wie Greise«, und eigentlich, mag der Leser denken, ist auch an dieser Szene nichts lebendig, Genremalerei, und nicht einmal gute. Ein paar Seiten weiter berichtet die erlebte Rede von einem »eloquenten Biest« und einem »weiten Feld«, und auch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der massenmediale Griff noch etwas weniger würgend war, wird man in proletarischen Verhältnissen nicht Fontane gelesen haben.

Oder doch? Die Großmutter der drei Schwestern Ella, Mira und Juli ist jedenfalls Kommunistin, war im Arbeiterbildungsverein und muss sich von ihrer ältesten Enkelin, die aus der Armut der Kaiserslauterer Berliner Straße hinausgeheiratet hat, feurige Vorträge über Esther Vilar anhören, und als Mira nach Berlin abgehauen ist, duelliert sie sich mit ihrer Freundin und Bettgenossin Lucina, einer Wohlstandsbohemienne aus dem Bilderbuch: »Dann sag mir doch mal, wenn du so links bist: Warum entscheidet allein die Blutsverwandtschaft darüber, in welcher Sicherheit ein Mensch leben kann?« Neid, weicht Lucina aus, führe nicht weiter, und Mira sagt: »Was du Neid nennst, nenne ich Gerechtigkeit«, und an dieser Stelle hört man das sozialdemokratische Schulbuch fordern: Diskutiert!

Man liest sich zwar dann doch hinein in die Geschichte, weil Barons freundlich prätentionsferner, nicht immer ganz unklischierter Stil, in dem arglos »Pläne geschmiedet« werden und CDU-Politiker in erratischer Diktion »Kriegstüchtigkeit« fordern, eine suggestive Aufrichtigkeit verströmt, doch neigt diese Aufrichtigkeit auf der Inhaltsseite dazu, die Grenze zum Holzschnitt zu passieren: Natürlich geht Miras Wohnungssuche nicht ohne Vermieterzudringlichkeit ab, natürlich wird Miras Arbeit in der Wurstbude durch Regelschmerzen und den Umstand erschwert, dass sie kein Schweinefleisch isst (weil sie Schweine so gern hat), natürlich ist Westberlin ein Trümmerhaufen auf Drogen, bevölkert von Zugezogenen, »der Gefühlskälte im Reihenhaus ihrer Nazieltern entflohen«. Überhaupt zeigt sich der Bildungsstolz der jungen Frauen im klaren Urteil über die Vergangenheit, die nicht vergehen will: »Liebchen machte Musik an. Sofort beschallte Bernhard Brink den Raum. ›Du wolltest fliegen. Doch man hielt dich fest, die Fesseln waren noch zu stark.‹ Wieso, fragte Ella sich, musste in Deutschland die Musik immer so klingen, als hätten die Nazis den Krieg gewonnen?« Da tut man Bernhard Brink womöglich zu viel Ehre an, wie der Roman insgesamt kein Geheimnis daraus macht, worum es ihm geht: »Hier unten roch es wie in den Kellern der Berliner Straße. Ein Keller, für den sich jedes einzelne dieser Kinder studierter Eltern daheim in Grund und Boden schämen würde, war hier in den Kontext einer angesagten Diskothek in einer angesagten Großstadt gestellt und sorgte dafür, dass sich oben vor der Tür eine Warteschlange gebildet hatte.«

Man muss kein Freund der Klassengesellschaft sein, um sich von derlei verdünntem Bourdieu behelligt zu fühlen, auch wenn die Analyse die intellektuelle Reifung einer jungen Frau ohne Schulabschluss markiert, deren frischer Blick das falsche Bewusstsein unterläuft, falls Ironie und Camp denn dazugehören. »Dieses Buch ist ein Roman«, heißt es im Vorsatz. »Obwohl ich darin die Lebensgeschichten einiger Familienangehöriger verarbeitet habe, sind alle Figuren in diesem Text frei erfunden«, und das merkt man leider. Das Sympathische an Barons ersten beiden Büchern war ja zumal, dass sich einer, der es aus seiner proletarischen Pfälzer Kindheit auf die Uni, nach Berlin und in den Journalismus geschafft hatte, seiner Herkunft mit nicht mehr Distanz versicherte, als es fürs Schriftstellern nötig ist, und sich in seiner Erzählung, die ja die seiner Leute war, wie der Fisch im Wasser bewegte. »Drei Schwestern« dagegen steckt einen bösen Anwaltssohn nur deshalb vom Gymnasium auf die Gesamtschule, damit er das Proletariermädchen bei der klassistischen, überdies gewalttätigen Lehrerin anschwärzen kann, und selbst wenn das wirklich eine Lebensgeschichte sein sollte, ist sie von Karikatur nicht zu unterscheiden.

So schwankt der Roman zwischen annehmbarem Lehrtheater und einem allzu beflissenen Klassenreport für die Kinder studierter Eltern. »Ein zärtlicher Text über Mut und Aufbruch, über das Fallen und Weitermachen – und immer wieder über die Hoffnung und die Liebe«, schleimt der Verlag, und so schlimm ist das Buch dann wieder nicht: Trotz seiner strengen Arrangiertheit und der im Zweifel steifen Dialoge hat es Atmosphäre, und erscheint das Westberlin der Achtziger auch als Klischee, steht man doch mittendrin. Die »Kaiserslauterer Trilogie« hat Christian Baron jetzt jedenfalls abgeschlossen, und wenn’s am schönsten ist, soll man bekanntlich aufhören. Falls das stimmt, muss der 40jährige weitermachen.

Christian Baron: Drei Schwestern. Claassen-Verlag, Berlin 2025, 349 Seiten, 24 Euro

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