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Aus: Ausgabe vom 28.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

»Willkommen im Zeitalter der Ermüdung«

Kommt nicht recht aus dem Quark: Mit Egon Erwin Kisch auf Verbrecherjagd im Prag von 1910
Von Sabine Lueken
10 (c) Kathrin Cruz.jpg
Wo bleibt der Kriminalfall? Autorenduo Tabea Soergel und Martin Becker

Mit Angst und Sorge erwartet man im Mai 1910 in Prag die Wiederkehr des Halleyschen Kometen. Die Stimmung in der Stadt ist gedrückt, bei manchen panisch. Das machen sich »finstere Gestalten« zunutze. Mehrere Männer der gehobenen Gesellschaft werden tot aufgefunden. Alle haben ein leeres Glasfläschchen in der Tasche. Selbstmord? Mord? Eine Verschwörung?

»Die Schatten von Prag. Kischs erster Fall«, der Buchtitel zeigt an, dass hier eine neue Krimireihe – der zweite Fall ist bereits unter dem Titel »Die Feuer von Prag« erschienen – etabliert wird. Protagonist ist die Stadt, Egon Erwin Kisch der Ermittler. Eine glänzende Idee, wie wird sie eingelöst?

Zuerst mal sei Kisch nicht Kisch, nicht der historische »Egonek«, wie er von seinen Freunden genannt wurde, sondern eine Romanfigur, betonen die Autoren Martin Becker und Tabea Soergel. Trotzdem stimmen alle historischen Details bis aufs Kleinste. Kisch ist ein junger Gerichts- und Kriminalreporter bei der deutschnationalen Prager Zeitung Bohemia. Er raucht Kette, ist tätowiert, liebt die Frauen, Duelle und Émile Zola und war eine Zeit lang »Ehrenbursch« der schlagenden Verbindung »Saxonia«. Er trifft seinen Freund Kafka, denn der erste Tote ist der Vizesekretär der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Kafkas Vorgesetzter. Er zecht mit Jaroslav Hašek, dem Erfinder des »Švejk« und lebt im »Bärenhaus«, tanzt nachts auf den Kneipentischen den Šlapák, vorzugsweise mit der schönen Revoluce. Er schleust sich ein ins Nachtasyl für Obdachlose (der Roman verwendet mehrfach original Kisch-Reportagen), um realitätsnah darüber schreiben zu können, und wartet auf den großen Scoop, den Solokarpfen, der ihn berühmt machen wird.

Ihm zugesellt als erfundene Figur und »feministischer Sidekick« (Die Welt) ist die abgebrochene Medizinstudentin Lenka Weißbach. Ihr habe die Literatin Lenka Reinerova Patin gestanden, so die Autoren. Lenka kommt gerade aus Berlin zurück, muss sich um die demente Mutter kümmern. Die Stadt mit den Nachtlokalen, »in denen Frauen fast so frei waren wie Männer«, die Orte der Berliner lesbischen Subkultur um 1910 stimmen. Da kommt Kisch gerade recht. Er überredet Lenka zu einer Anstellung bei der Bohemia, damit sie zusammen ermitteln können. Daneben fängt sie mit Jana, dem tschechischen Hausmädchen der Mutter, eine Liebschaft an und will mit ihr und dem Kind, das die unglücklich verheiratete Frau erwartet, zusammen leben. Sie plant eine Scheinehe.

Das Ermittlerduo wechselt sich ab als Erzähler – die beiden Autoren haben die entsprechenden Kapitel getrennt geschrieben. Dazu kommt Karel Novák, der »alte Zöllner«, der nachts an der Franzensbrücke die Maut erhebt. Er fürchtet den Einschlag des Kometen und gräbt sich heimlich ein Erdloch im hintersten Winkel des Kellers seiner Mietskaserne im Arbeiterbezirk Žižkow. Eine geheimnisvolle, nach Flieder duftende Dame in Schwarz spielt eine wichtige Rolle. Sie war Lenka schon im Zug nach Berlin begegnet. »Willkommen im Zeitalter der Ermüdung«, hatte sie gesagt. »Schön, wie alles zugrunde geht, nicht wahr?« Kischs Redakteurskollegen und Vorgesetzte, Polizisten, Honoratioren der Prager Gesellschaft, Else Fanta, die Tochter einer bekannten Prager Salonière, der Gangsterboss Václav Kubitzka und viele andere historische Figuren bevölkern den Roman.

Lenka interessiert sich für die Psychologie von Verbrechern, Kisch nicht: »Das Soziale wiegt schwerer als das Psychologische.« Aber solche Überlegungen sind im Roman eher nebensächlich, wichtiger ist das Lokalkolorit Prags und die »historische Hintergrundstrahlung«, wie es die Autoren nennen. Die Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen, die Feindseligkeit gegen Juden, die Topographie der Altstadt (schön ist der alte Stadtplan auf dem Einband), die Schatten in den düsteren Gassen, Kaschemmen und ambulanten Teestationen, wie dem »Café Kandelaber«, von dem Kisch schrieb, es würde von einer Dogge gezogen.

Man fragt sich zu Recht: Wo bleibt der Kriminalfall? Auf ihn soll hier gar nicht weiter eingegangen werden, die Aufklärung kommt nicht voran, bis sie in einem skurrilen Showdown an der Moldau kulminiert. Eigentlich stimmt alles, aber irgendwie bleibt ein befremdliches Gefühl zurück: Mit dem Wissen von heute einen Krimi über 1910 schreiben, so dicht an realen Personen und dieser Fülle an kulturgeschichtlichem Stoff, das haut irgendwie nicht recht hin.

Martin Becker/Tabea Soergel: Die Schatten von Prag. Kischs erster Fall. Kanon-Verlag, Berlin 2024, 312 Seiten, 24 Euro

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