Nietzsche und die Biologie
Von Helmut Höge
Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht«, meinen die antidarwinistischen Denker Deleuze und Guattari. Sie haben dieses »Werden« von Nietzsche übernommen, der es von Heraklits »Fluss des Werdens« her begriff, in dem »nichts mit sich selbst identisch bleibt«. Und der sich »ab dem Sommer 1876 mit nichts anderem mehr beschäftigt hat als mit Naturwissenschaften, Medizin und Physiologie«, wie die französische Philosophin Barbara Stiegler in ihrem Buch »Nietzsche und das Leben« (2025) schreibt. Zwar hat Nietzsche dabei auch intensiv die Evolutionstheorie von Darwin studiert, aber sie reichte ihm nicht aus, »um das Leben einzufangen«, das eine weitere Aktivität voraussetzt: die Ernährung – »Einverleibung« im weitesten Sinne. »Evolution und Einverleibung sollten [ihm] fortan als die zentralen Probleme der Philosophie gelten«, die keine Metaphysik mehr ist. Ähnliches hat dann der Dichter Ossip Mandelstam unternommen: »Ich habe mein Schach auf die Biologie gesetzt, damit das Spiel ehrlicher werde.«
Nietzsche ging dazu vom damals beginnenden Industriezeitalter aus, das zu einer »Beschleunigung der Lebensrhythmen sowie in der zunehmenden Auflösung aller Eingrenzungen« führte. In seinen nachgelassenen Fragmenten 1884 heißt es: »Die ehemaligen Mittel, gleichartige dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroenglaubens als der Ahnherren). Jetzt gehört die Zersplitterung des Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz: eine Zeitung (anstelle der täglichen Gebete), Eisenbahn, Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu stark und verwandlungsfähig sein muß.«
Was sie aber nicht ist. Noch weniger konnten die Individuen sich die vervielfältigten Anforderungen der zweiten industriellen Revolution einverleiben. Erst recht fühlen sich die meisten jetzt bei der dritten nicht mehr in der Lage, sie zu verdauen. Es mangelt jedoch nicht an Beruhigungsmitteln und an aufmunternden Slogans für sie: Der bayerische CSU-Ministerpräsident verkündet, »Hightech und Heimat« seien in seinem Bundesland »vereint«. Neuerdings heiße es auch noch »Laptop und Lederhose«, »Rosenkranz und Raumfahrt«, »Leberkäs und Laser«, »Gigabit und Gamsbart«, »WLAN und Weißbier«, »KI und Knödel«, ergänzte der Herausgeber des bayerischen Unternehmermagazins. Der bayerische Filmemacher Herbert Achternbusch hatte bereits 1981 den Eindruck: »Früher ist hier Bayern gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Die Welt vernichtet uns, das kann man sagen.«
Um sich zu entwickeln, muss man sich an die sich verändernden Umstände anpassen, das heißt, sich passiv durch die Anforderungen der Umwelt formen lassen, aber für Nietzsche setzt Entwicklung im Gegensatz zu den Anhängern der Anpassungstheorie (Darwin/Spencer) die Fähigkeit voraus, sich selbst aktiv und tiefgreifend zu verändern. Das ist keine Frage des Bewusstseins, sondern des Leibes. Nietzsches Bündnispartner ist dabei der Mediziner Rudolf Virchow und dessen Zelltheorie, die Dezentralisierung des lebendigen Subjekts, die es ihm erlaubt, jegliche Zentralisierung zu verwerfen: laut Stiegler »das Gehirn (das zentrale Nervensystem) und das Herz (das Zentrum des Blutkreislaufs)« – doch auch und »vor allem die Illusion einer Zentralisierung durch das Bewusstsein« oder den »Genzentrismus«. Die Zellen, das sind für Nietzsche »jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituieren«. Wir sind jeder für sich ein Wir. »Wo Leben ist«, da ist für Virchow »eine genossenschaftliche Bildung«, Nietzsche: »Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen« – das sind seine 36 Billionen Körperzellen, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit kommen und gehen und auch schon Ich sagen.
Für die Mikrobiologen ist das heute schon fast ein alter Hut. Denn für sie sind wir keine Individuen mehr, sondern Holobionten. Zwei Embryologinnen am Pariser Institut Pasteur konstatierten: »Bei der Geburt eines Menschen entsteht ein neuer Staat, beim Krebs bricht die Anarchie aus.« Man muss (mit Nietzsche/Stiegler) die Anpassungsthese der Biologen umkehren: Jedes Mal, wenn sich ein Lebewesen von der äußeren Wirklichkeit ernährt, ist es das Wirkliche, das sich dem Lebendigen anpasst, und nicht umgekehrt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich Hopfmüller aus Stadum (29. Oktober 2025 um 00:18 Uhr)Erstens: Es soll Leute gegeben haben, die Tausende von Leichen seziert, aber keine Seele darin gefunden haben. Zweitens: Die Zersplitterung von Grundbesitz hat massenhaft neue/zusätzliche Eingrenzungen zur Folge. Das gilt auch für alles, was »in Wert gesetzt« (kommodifiziert) wird. Alte Eingrenzungen verschwinden vielleicht, aber neue entstehen massenhaft. Drittens: »Beschleunigung der Lebensrhythmen« fand und findet statt. Schon die alten Griechen (Sokrates, Platon, Aristoteles) haben sich über die »Jugend von heute« geklagt, waren aber nicht die ersten: »Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte. Ca. 3000 v.u.Z, Tontafel der Sumerer).« Was ist interessant daran, dass 36 Billionen Körperzellen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit kommen und gehen? Für eine gewisse Zeit kooperieren sie auf äußerst komplexe Weise (»holobiontisch«) und erfolgreich miteinander, dann vergehen einzelne und »junge« entstehen. Irgendwann verlieren sie die Fähigkeit zum Entropieexport (ob durch Alter oder Krankheit), und alle sterben ab – mehr oder weniger gleichzeitig. Da ist die Physik gnadenlos und passt alles Lebendige der Wirklichkeit an. Die Biologen haben gegen die Physik auch keine Chance. Frage am Rande: Im Gastrointestinaltrakt leben ein- bis dreimal soviele Zellen als im umgebenden Restmensch. Ist womöglich der Darminhalt intelligenter als das Zentralnervensystem? Lebensfähiger vermutlich ja.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz Schoierer (28. Oktober 2025 um 09:43 Uhr)Man tut sich schwer, die Botschaft des Artikels zu verstehen. Wird da etwa der Biologismus gepredigt? Wesentlich klarer und verständlicher schreibt Franz Mehring in »Aufsätze zur Geschichte der Philosophie«: »Nietzsche ist nicht, wie Herrn Lindaus ›Nord und Süd‹ glauben machen will, der ›Sozialphilosoph der Aristokratie‹, sondern der Sozialphilosoph des Kapitalismus. (…) Aus der Relativität der Moral, welche im Keime schon bei Hegel vorhanden ist, folgert Nietzsche nun aber nicht, wie Engels und Marx, die historische Bedingtheit der Moral, sondern die unbedingte Nichtigkeit jeder Moral. (…) Nietzsche kennt zwar auch einen Klassenkampf und eine ihm entsprechende ›Herren-‹ und ›Sklavenmoral‹, aber er kennt ihn nicht als einen dialektischen Prozeß der Weltgeschichte, in welchem sich eine Entwicklung von Niederem zu Höherem vollzieht, sondern als ein unerschütterliches und unverrückbares Naturgesetz. In diesem Kampfe besitzen die Herrscher und Unterdrücker, die ›freien Geister‹, immer die Macht und also auch das Recht, während die Beherrschten und Unterdrückten, das ›Herdenvieh‹, immer zur Ohnmacht und also auch zum Unrecht verurteilt sind.«
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