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Aus: Ausgabe vom 28.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Eine Xanax und vier Bier

Immer noch rastlos: Scott Coopers Biopic »Springsteen: Deliver Me From Nowhere«
Von Maximilian Schäffer
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Lederjackenstehkragenbrüller: Jeremy Allen White als Bruce Springsteen

Kurz bevor künstliche Intelligenz die Geschichte endgültig unter sich begräbt, bedient sich postmoderne Geschichtsschreibung noch einmal aller möglichen Heldenfiguren, um sie zu versilbern, zu ziselieren und zu verscherbeln. Was noch wahr ist: Pop- und Rockstars, ihre vollen Stadien und elegischen Songs. Einer davon und sogar noch am Leben: Bruce Springsteen (76), der »Boss«. Seines Zeichens Geschichtenerzähler aller verträumten Blue-Collar-Straßenteerer der USA. »Working on the Highway«, bis man im Angesicht seiner eigenen Bandscheiben endgültig »Born to Run« ist. Das Mädchen aus der Highschool im Arm, die erste Liebe nach der vierten Scheidung. Jeder kennt ihn, den Lederjackenstehkragenbrüller aus Asbury Park, New Jersey. Schullehrer sind dankbar für seine Lyrik als Arbeitsblattvorlage: »Ist ›Born in the USA‹ als patriotischer Song zu interpretieren? Erläutern Sie in drei bis fünf Sätzen, warum oder warum nicht.«

Antwort: »Ja, im Sinne seines Kumpels Barack Obama, mit dem er 2021 einen Podcast zum Thema Heimat gestaltete, ist Bruce Springsteen ein stolzer US-Amerikaner. Seine Pronomen sind er/sein.« Gespielt wird er im Biopic »Springsteen: Deliver Me From No-where« vom aufstrebenden Hollywood-Darling Jeremy Allen White, geboren 1991, zuletzt zu sehen im Wrestlerdrama »The Iron Claw« und in der Kochserie »The Bear«. Die Maske hat White braune Kontaktlinsen verpasst, eine Lederjacke, Blue Jeans und ihn mit Fetischobjekten aus dem Warenkatalog des Jahres 1982 dekoriert: Chevrolet Z28 Camaro, TEAC 144 Portastudio. Zur Eröffnungssequenz, gleich nach den Kindheitsszenen in Schwarzweiß, darf er den Nacken anspannen und schwitzen und brüllen vor Zehntausenden im Stadion.

Im Anschluss an die US- und Westeuropatourneen zum Album »The River« zieht sich der Boss, dessen Energie bekanntlich unerschöpflich ist, in seinen Heimatstaat New Jersey zurück. Im Reichenörtchen Colts Neck hat ihm Manager John Landau (Jeremy Strong) ein möbliertes Heim gemietet. Nach der Tour ist schließlich vor der nächsten Platte, und zum Komponieren braucht es Zeit und Ruhe. Springsteen aber wird, gerade mal eine Viertelstunde von der Heimatstadt Asbury Park entfernt, von seiner Vergangenheit eingeholt: der besoffene, gewalttätige Vater, die hilflose Mutter, die Aussichtslosigkeit der Kleinstadt. Buh-huh.

In diesem Film geht es, ganz amerikanisch, also auch um Depressionen. Das wird im Abspann noch einmal deutlich vermerkt: Der Boss kämpft mit ihnen bis heute, aber nicht mehr ohne professionelle Hilfe. Ein gutgemeinter Rat in einem Land, in dem Gesundheitsleistungen, abseits der elementarsten, exorbitant teuer sind. Dann halt eine Xanax, vier Bier und dazu »Nebraska«, Spring-steens düsterstes Album, das er zu jenem Zeitpunkt fast allein im Schlafzimmer in Colts Neck aufnimmt. Zur Entstehungsgeschichte des von Kritik und Liebhabern gefeierten, aber kommerziell (verhältnismäßig) wenig erfolgreichen Folkalbums, schrieb der Musikjournalist Warren Zanes 2023 ein ganzes Buch. Das nahm Regisseur Scott Cooper dankbar zur Vorlage eines Drehbuchs und pitchte erfolgreich bei 20th Century Studios. Cooper schließlich verfilmte 2009 schon einmal die Geschichte eines depressiven Musikers: »Crazy Heart«, frei nach der Biographie des Countrysängers Hank Thompson mit Jeff Bridges in der Hauptrolle, gewann zwei Oscars.

Der Boss ist also nach einem Jahr auf den Bühnen immer noch rastlos. Er spielt nachts im lokalen Musikclub mit den örtlichen Muggern. Er holt sich eine junge Mutter und Kellnerin in den Arm, die fiktionale Faye Romano (Odessa Young), die er schließlich aus Heimattrauma, emotionaler Instabilität, Unfähigkeit – oder weiß der Therapeut warum – verlässt, um sich, stargemäß, nach Los Angeles abzusetzen. Möglichst weit weg von New Jersey und allem, was da lauerte.

In einer weiteren Musikerbiographie lernen wir so erneut etwas über das Allzumenschliche und ein bisschen auch über das Musikbusiness. Es gibt schlimmere Filme und dümmere Künstler: Der Bruce ist ja auch kein Schlechter, hat die Ossis in Weißensee 1988 vor der Stasi gerettet. Alles war grau, bis der Boss kam und befreite. Das wäre mal einen Film wert – Florian Henckel von Donnersmarck anrufen? So oder so ähnlich ist das nämlich mit der postmodernen Geschichtsschreibung: Sie erbricht solange, bis nur noch Galle kommt.

»Springsteen: Deliver Me From No-where«, Regie: Scott Cooper, USA 2025, 120 Min., bereits angelaufen

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