»Vorgeschmack auf das, was kommen könnte«
Interview: Thorben Austen
Wir hatten zuletzt zu Beginn der Proteste der Indigenenkonföderation Conaie gegen das Streichen der Subventionen für Diesel miteinander gesprochen. Am 22. Oktober hat Conaie den Streik beendet. Was ist in den vergangenen Wochen geschehen?
Es waren 31 Tage herausfordernder Mobilisierungen. Die Repression war das Schlimmste, was ich in meinem Leben erlebt habe. Auch bei den Protesten 2019 und 2022, als es ebenfalls um die Fortsetzung der Dieselsubventionen ging, gab es Polizeigewalt. Aber dieses Mal war es deutlich schlimmer: Die Polizei hat uns aus Hubschraubern mit Tränengas bombardiert, Polizei und Armee haben scharf geschossen. Es gab drei Tote, Hunderte Verletzte und mehr als 400 Festnahmen.
Medienberichte sprechen von internen Konflikten bei Conaie, die zum Streikabbruch führten. Ist das zutreffend?
Es ist uns nicht gelungen, die Mobilisierung landesweit zu entwickeln. In der Provinz Imbabura in den Anden im Norden Ecuadors und anderen indigenen Völkern und Nationalitäten wurde breit demonstriert, aber nicht im gesamten Land. Die Regierung hat strategisch klug den Zustand der indigenen Bewegung und unsere Schwächen analysiert. Es gab Bonuszahlungen bis zu 1.000 US-Dollar pro Familie in den indigenen Gebieten, die sich nicht am Streik beteiligten. Das funktionierte, wobei es auch den bewussten Teil der Bevölkerung gibt, der sieht, dass diese Bonuszahlungen Teil der Angriffe auf unsere Stabilität und Rechte sind.
Auch zeigt der Protest Schwächen in der Organisation und ein Versagen der Führung von Conaie. Marlon Vargas, Präsident von Conaie, hat das Ende des Streiks ohne Rücksprache mit der Basis bekanntgegeben. Wir sind alle Conaie, aber eine Meinung der Basis wurde nicht eingeholt. Das ist unüblich für unsere Organisation, in der der Grundsatz gilt: Die Versammlungen befehlen und die Leitung gehorcht. Trotz der kontroversen Meinungen sind die Proteste im Moment erst einmal beendet.
Hunderte Menschen wurden in den vergangenen Wochen verhaftet. Was passiert jetzt mit ihnen? Werden sie freigelassen?
Seit Mittwoch gibt es einen Dialog zwischen Anwälten von Conaie und Vertretern von Justiz und Regierung. Tatsächlich wurden am Freitag die ersten Gefangenen freigelassen, unter ihnen auch elf der zwölf von Otavalo, denen der Angriff auf eine Polizeiwache zur Last gelegt wird. Gegen sie wird aber weiter ermittelt, sie dürfen das Land nicht verlassen. Es geht bei diesem Dialog auch darum, inwieweit das indigene Recht zur Anwendung kommt, das laut der gültigen Verfassung anerkannt ist.
Bei den Festgenommenen handelt es sich nicht um »Terroristen« oder Randalierer, sondern um Repräsentanten der indigenen Gemeinden. Während der Proteste konnten aber auch noch weitere Festnahmen verhindert werden. Bei der Demonstration in Otavalo gab es davon mehr als 60. Die meisten Festgenommenen mussten aber durch den Druck am nächsten Tag wieder freigelassen werden. Demonstranten umzingelten Polizeifahrzeuge und verhinderten den Abtransport von Gefangenen.
Am 16. November soll eine Volksbefragung darüber stattfinden, ob Veränderungen in dieser Verfassung möglich werden und ob eine verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Conaie ruft auf, mit Nein zu stimmen. Befürchten Sie, dass diese Mobilisierung durch die Niederlage im Streik schwächer wird?
Im Grunde nicht. Conaie hat sich da klar geäußert. Es geht darum, die aktuelle Verfassung zu bewahren. Diese garantiert den indigenen Völkern kollektive Rechte und definiert die Rechte von Mutter Natur.
Kenner Ecuadors sagen, das Land sei auf dem Weg, eine Drogendiktatur zu werden – in Anspielung auf die autoritäre Politik von Präsident Daniel Noboa, einem reichen Bananenexporteur, und dessen Verbindung zur organisierten Kriminalität. Stimmen Sie dem zu?
Vieles wird von der Abstimmung am 16. November abhängen. Die aktuelle Verfassung schützt uns in vielen Punkten. Setzt sich Noboa durch, wird der Weg der autoritären und neoliberalen Entwicklung fortgesetzt und verschärft. Die Repression bei den Protesten gibt uns hier einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte.
Nelly Colimba gehört zur Volksgruppe der Kichwa-Karanki im Norden Ecuadors und ist leitendes Mitglied der Conaie (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador)
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