Wenn die Decke einstürzt
Von Matthias Reichelt
Gekippte und zerborstene Säulen, Ziegelsteine, abgestürzte Deckenbalken und Gipsteile, herausgebrochene Verstrebungen und umgefallene Torbögen. Eine Szenerie wie nach einer Explosion oder einem Erdbeben. Die Besucher müssen sich durch das sorgfältig arrangierte Chaos ihren Weg bahnen. Die früheren Gewissheiten sind einem tiefen Gefühl der Bedrohung und Angst gewichen – das spiegelt diese Installation auf frappierende Weise. Eine Havarie oder gar Krieg … es könnte beides sein. Und ist zugleich eine metaphorische Visualisierung einer psychischen Reaktion auf zerstörte soziale Bindungen, die berühmten Risse in Familien, Freundschaften, der gesamten Gesellschaft.
Gleich nach dem Eintreten stoßen die Besucher auf ein einseitig gewölbtes Teil, das sich von der Decke gelöst hat und nun umgekehrt auf dem Boden liegt, umgeben von Ziegelsteinen und Schutt. Vorsicht ist geboten. Die Künstlerin Katrin Glanz bietet den Besuchern des Berliner »Projektraumes« unter dem Titel »aus den Fugen« ein desaströses Bild, das als Metapher für Zeiten des Umbruchs in einer Welt der zunehmenden Unsicherheit und Regellosigkeit dient.
Die alte Feuerwache in Friedrichshain wurde 1880 erbaut. Zwischen 1995 und 1998 erhielt das Gebäude durch die Architekten Wörle & Partner (München) ein neues Antlitz mit einem gewölbten Dach, das ihm die Form eines Eisenbahnwaggons gibt. Heute ist die Alte Feuerwache ein vom Kulturamt Friedrichshain-Kreuzberg verwaltetes Kulturhaus mit Studiobühne und dem »Projektraum« für Wechselausstellungen.
Katrin Glanz (1967 geboren in Berlin/DDR) studierte 1988 bis 1995 Bildhauerei und Freie Kunst an der Kunsthochschule Weißensee sowie 1992/1993 Film und Fotografie an der École nationale supérieure des beaux-arts de Paris. In ihrem Werk stellt sie mit Performances, installativen und partizipatorischen Arbeiten Fragen nach der Zukunft, dem sozialem Leben, Ökonomie und Arbeit. 2012 ließ sie zusammen mit Petra Spielhagen am Richardplatz in Neukölln Menschen mit Rollkoffern kreuz und quer laufen. Ein so humorvolles wie kritisches Bild für globalisierte Arbeitsmigration und Tourismus, die letztlich zu Gentrifizierung, Airbnb und Verdrängung führen. 2019 fragte Katrin Glanz im Rahmen eines Projektes zu 100 Jahre Bauhaus die Bevölkerung in der Berliner Gropiusstadt »Wie wünschen Sie sich das Leben und Wohnen im Jahr 2100?« – und wertete die Antworten öffentlich aus.
Ihre aktuelle Rauminszenierung entspricht dem vagen Gefühl der Angst und des Verlustes gewohnter Sicherheiten und Überzeugungen vieler Menschen. So wie während der Coronajahre Zweifel an den »Schutzmaßnahmen« und der Wirksamkeit der Impfstoffe als »verschwurbelt« und rechtslastig verunglimpft wurden, wird heute die Erörterung der komplexen Ursachen des Ukraine-Krieges unterbunden. Jeder Kritiker des »Wertewestens« wird zum russischen Propagandisten erklärt. Mit dem haltlosen Szenario eines drohenden russischen Angriffs auf die NATO-Staaten wird auf allen Kanälen Angst geschürt, derweil Kritik an Israel und Solidarität mit den Palästinensern schnell als antisemitisch verurteilt. Die Positionen krachen unversöhnlich aufeinander. Diese Brüche durchziehen alle gesellschaftlichen Ebenen, was bei vielen Menschen das Gefühl auslöst, sich in die innere Emigration begeben zu müssen, ihre Meinung nicht offen sagen zu können.
Katrin Glanz formuliert all das nicht aus. Doch das desolate Bild einer zersplitterten Gesellschaft vor dem Hintergrund von Mobilmachung, Militarisierung und Kriegspropaganda spricht eine deutliche Sprache.
»Katrin Glanz: aus den Fugen«, Projektraum, Alte Feuerwache, Berlin, bis 21. Dezember 2025
Gespräch zwischen Ferial Nadja Karrasch und Katrin Glanz, 23. November 2025, 12 Uhr, Marchlewskistr. 6, 10243 Berlin
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