Die Sehnsucht des Crooners
Von Andreas Schäfler
Joe Henry ist ein umtriebiger Zeitgenosse: Singer-Songwriter mit einem guten Dutzend markanter Alben, Veteran des verrätselten Kunstlieds, Produzent von Allen Toussaint bis Ramblin’ Jack Elliott, noch dazu ambitionierter Dichter und emsiger Liner-Notes-Schreiber. Doch selbst ein solcher Tausendsassa und Strippenzieher im Popbusiness muss sich stets etwas Neues einfallen lassen, wenn es eine nächste Platte zu lancieren gilt. Warum also die brandneuen Songs nicht mal von einem guten Kollegen singen lassen? Die Wahl fiel auf die Nashville-Fachkraft Mike Reid, ehemaliger Footballspieler und gestandener Countrysänger.
Henrys Zunftbruder Jesse Harris wiederum, einst als Vorsänger der Ferdinandos und dann durch Kollaborationen mit Norah Jones, aber auch mit John Zorn bekannt geworden, fiel ein Angebot des befreundeten brasilianischen Arrangeurs Maycon Ananias in den Schoß: Er sei gerade für eine Arvo-Pärt-Produktion in Estland und habe noch einiges an bereits gebuchter Orchesterzeit übrig. Ob Harris vielleicht ein paar neue Songs zum geschmackvollen Veredeln rüberschicken wolle? Harris hörte sich nicht nein sagen, entwickelte sogleich Crooner-Sehnsüchte und lieferte alsbald Rohmaterial.
Das sind so die Ausfallschritte unserer Musikidole heutzutage, wenn ihre Karrieren allzu eindimensional zu verlaufen drohen. Bei Joe Henrys und Mike Reids »Life and Time« führte das jedoch in die Irre. »Lass uns vom Steg aus in den Nebel hinausfahren und sehen, was wir finden«, soll Reid zu Beginn des Projekts vorgeschlagen haben. Das klingt nach echter Männerfreundschaft, erweist sich aber als klarer Fall von Selbstberauschung. Was ist hier bloß aus der guten alten Klavierballade geworden? Eine oder auch zwei dieser unterkomplexen, aber hemmungslos überproduzierten Gefühlsduseleien hätte man den Herren verziehen, aber das komplette Album besteht aus nichts anderem und ist zudem mit Streichern und Orgel und Pedal Steel Guitar bis obenhin zugekleistert.
Joe Henry hatte schon immer einen Hang zur Weichzeichnerei. Was ihn oft rettete, waren die Beiträge der handverlesenen Mietmusiker (wenn man Ornette Coleman, der 2001 rätselhafterweise auf »Scar« mitwirkte, als solchen bezeichnen darf) und seine unperfekte Stimme, die den drohenden Kunstverdacht einigermaßen in Schach hielt. Wie weit hergeholt auch viele seiner Textmetaphern sind, kommt dank der braven Schwiegersohnaura von Mike Reids Gesang hier erst richtig ans Licht. Und so wabert »Life and Time« wie ein einziges, nie enden wollendes und garantiert keimfreies Klagelied mit ca. 120 Strophen ohne nennenswerten Belang an den bisherigen Fans vorüber, und der letzte bläst das Kerzlein aus.
Jesse Harris weiß genau, dass er seinem Stimmchen am besten nur leise Songs zumutet. Die aber zeigen ihn als raffinierten Geschichtenerzähler, der keinen Szenen- und Kostümwechsel scheut. Auch Harris mag es melancholisch, doch auch Ironie ist ihm nicht fremd. Das hilft insbesondere dann, wenn der Himmel so voller Geigen hängt wie bei dieser Produktion. Den Orchesterwinden aus dem Baltikum trotzt der Barde mit sparsamer Zupfgitarre, wirft sich als Sänger aber auch mal sinatrahaft, ja deanmartinesk in Pose oder bringt einen Touch of Schmilsson in the Night ins Spiel. Außerdem glänzen auf dem Album wieder betörende Helfershelferinnen wie Norah Jones oder die Nouvelle-Vague-Sängerin Marine Quéméré. Und Guilherme Monteiro stiftet, wie aus einer brasilianischen Hängematte heraus, da und dort ein filigranes Jazzgitarrensolo.
Jesse Harris ist ein Ausbund an Ideenreichtum, den er aber nicht prahlerisch zur Schau, sondern wie beiläufig zur Verfügung stellt. »If You Believed in Me«, Anfang November erschienen, ist eine ausschweifende popmusikalische Exkursion, ein frecher kleiner Geniestreich.
Mike Reid & Joe Henry: »Life & Time« (Work Song/Membran)
Jesse Harris: »If You Believed in Me« (Artwork/Integral)
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