Warum vergrößern diese Marschflugkörper die Gefahr?
Interview: Kristian Stemmler
Laut Berichten verschiedener Medien will die Bundesregierung 400 Marschflugkörper aus US-Produktion anschaffen. Worum geht es konkret?
Laut einem vertraulichen Regierungsdokument soll die Bundeswehr drei »Typhon«-Startplattformen von Lockheed Martin und 400 »Tomahawk«-Block-Vb-Marschflugkörper vom Rüstungskonzern Raytheon bekommen. Ein einziger »Tomahawk« kostet bis zu zwei Millionen US-Dollar, insgesamt sind 1,37 Milliarden Euro eingeplant. Die »Tomahawk«-Marschflugkörper sind manchen Menschen noch aus den 80er Jahren bekannt – damals wurde unter dem Stichwort »Cruise Missile« über die Risiken der atomaren Bestückung diskutiert. Die Waffen, um die es heute geht, haben allerdings definitiv keine atomaren Sprengköpfe.
Ihre Kampagne verweist auf die große Reichweite und die Fähigkeit, extrem niedrig zu fliegen. Warum besteht darin eine besondere Gefahr?
Landgestützte »Tomahawks« haben eine Reichweite von mehr als 1.600 Kilometern. Sie sind zwar relativ langsam, lassen sich aber selbst in Flughöhen unter 100 Metern sehr präzise navigieren. So bleiben sie wortwörtlich »unter dem Radar« – ein anfliegender »Tomahawk« ist also erst extrem spät zu orten. GPS-gesteuert können die Marschflugkörper ihr Ziel auf wenige Meter genau treffen und zerstören. Damit sind sie ideal für Überraschungsangriffe auf strategische Ziele – zum Beispiel Flugplätze, Raketensilos oder Flugabwehrsysteme im Westen Russlands. Moskau ist das bewusst. Wir befürchten, dass damit Alarmbereitschaft und Nervosität in den Kommandozentralen deutlich steigen werden.
Sie warnen auch, dass es schlimmstenfalls zu einem Angriff auf Ziele in Deutschland kommen könnte. Warum erhöhen die »Tomahawks« das Risiko für ein solches Szenario?
Zusätzlich zu den Marschflugkörpern, die die Bundeswehr jetzt beschaffen will, sollen im kommenden Jahr auch Mittelstreckenwaffen unter US-Kommando in Deutschland stationiert werden. Zwar planen vermutlich weder die USA noch Deutschland einen Erstschlag. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass allein die Möglichkeit eines solchen Szenarios in Moskau als Bedrohung aufgefasst werden wird. Im schlimmsten Fall genügt eine einzige Fehleinschätzung – kombiniert mit dem Wissen um die kurzen Vorwarnzeiten –, um die militärische Führung in Moskau zu einem Präventivschlag zu bewegen. Ziel eines solchen vorbeugenden Angriffs wären dann wahrscheinlich Wiesbaden oder Grafenwöhr.
Das Wettrüsten zwischen den USA und Russland im strategischen Bereich ist im Gange. Wie sieht das konkret aus?
Das große Eskalationsrisiko, das mit landgestützten Mittelstreckenwaffen einhergeht, ist lange bekannt. Daher hatten die USA und die Sowjetunion im INF-Vertrag den Verzicht auf alle Waffen dieser Art ausgehandelt. Seit der Aufkündigung dieses Vertrages 2019 entwickeln Russland und die USA wieder neue landgestützte Raketen und Marschflugkörper: Die US-Waffen sollen jetzt als Teil von sogenannten Multi-Domain Task Forces in verschiedenen Weltregionen stationiert werden. Russland hat die Serienproduktion seiner nuklear bestückbaren »Oreschnik«-Hyperschallmittelstreckenrakete aufgenommen und will diese bald auch in Belarus aufstellen.
Wer unterstützt Ihre Kampagne, und welche Forderungen erhebt sie?
In der Kampagne »Friedensfähig statt erstschlagfähig. Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen!« arbeiten mehr als 55 zivilgesellschaftliche Organisationen und Gruppen zusammen. Wir klären über die Risiken auf und fordern von der deutschen Politik, sowohl die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen als auch den Kauf und die Entwicklung eigener Marschflugkörper zu stoppen. Wir sind überzeugt: Mittelstreckenwaffen bringen keine Sicherheit, sondern sind eine Gefahr für die Menschen. Daher fordern wir neue Initiativen des Dialogs und der Rüstungskontrolle! Langfristiges Ziel müssen ein Folgeabkommen zum INF-Vertrag und die Abrüstung aller Mittelstreckenwaffen in Europa sein.
Simon Bödecker ist Referent bei der Organisation »Ohne Rüstung leben« und Sprecher der Kampagne »Friedensfähig statt erstschlagfähig. Für ein Europa ohne Mittelstreckenwaffen!«
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