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Aus: Ausgabe vom 11.11.2025, Seite 4 / Inland
Anschlag von Magdeburg

Angeblich unpolitische »Amokfahrt«

Anschlag auf Weihnachtsmarkt Magdeburg 2024: Prozessauftakt gegen angeklagten Arzt mit AfD-Sympathien
Von Kristian Stemmler
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Wird ins Gericht geführt: Taleb A. am Montag in Magdeburg

Knapp elf Monate nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg mit einem Pkw als Waffe hat am Montag vor dem Landgericht Magdeburg der Prozess gegen Taleb A. begonnen. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg wirft dem Angeklagten unter anderem sechsfachen Mord, versuchten Mord in hunderten Fällen sowie gefährliche Körperverletzung in mehr als 300 Fällen vor. Der aus Saudi-Arabien stammende und seit 2006 in der BRD lebende Arzt war am 20. Dezember 2024 mit einem angemieteten SUV über den stark besuchten Weihnachtsmarkt gefahren und hatte zahlreiche Menschen erfasst. Dabei starben ein neun Jahre alter Junge und fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren. Mehr als 300 Marktbesucher wurden verletzt.

Da es in Magdeburg keinen Gerichtssaal gibt, der groß genug gewesen wäre für die 177 Nebenkläger und ihre Anwälte sowie Hunderte Journalisten und Zuschauer, wurde für das Verfahren eine Halle gebaut. Sie hat Platz für rund 700 Menschen und wird nach dem Prozess wieder demontiert. Der Angeklagte wurde mit dem Hubschrauber aus der Haftanstalt Burg zum Gericht gebracht. Er sitzt, flankiert von zwei maskierten Justizbeamten, in einem schusssicheren Glaskasten. Für den Prozess sind vorerst 46 Verhandlungstage bis März kommenden Jahres festgesetzt.

Noch vor der Verlesung der Anklage wurde die Verhandlung am Montag unterbrochen, weil die Verteidigung zwei Anträge gestellt hatte. Zum einen kritisierten die beiden Anwälte von Taleb A., dass sich das Mikrofon in dem Glaskasten nicht abschalten lasse, so dass Zuschauer und Presse jedes Wort mithören könnten. In dem zweiten Antrag forderte die Verteidigung, dass der Angeklagte nicht in dem Glaskasten sitzen solle, weil dies unverhältnismäßig sei. Der Vorsitzende Richter Dirk Sternberg wies beide Anträge zurück. Der Glaskasten solle den Angeklagten schützen, etwa vor möglichen Racheakten.

Nach der Unterbrechung wurde die Anklage verlesen. Oberstaatsanwalt Matthias Böttcher erklärte, der Angeklagte habe in der Absicht gehandelt, »eine unbestimmte große Zahl von Menschen zu töten«. Zu diesem Zweck habe er den zwei Tonnen schweren, 340 PS starken Wagen »zielgerichtet gegen eine Vielzahl von Passanten gelenkt«. Laut Anklage hat Taleb A. im wesentlichen »aus vermeintlicher Kränkung und Frustration« über den Ausgang eines Gerichtsverfahrens und die Erfolglosigkeit eigener Strafanzeigen gehandelt. Er habe willkürlich Opfer gesucht, um Aufmerksamkeit für die »von ihm empfundene Ungerechtigkeit« zu erzielen, befand Böttcher.

Da die Behörden den Anschlag früh als »Amokfahrt« eingestuft haben, war von der politischen Komponente der Tat keine Rede. Dabei war schon relativ schnell klar gewesen, dass Taleb A. sich in den sozialen Medien immer wieder islamophob geäußert und Sympathien für die AfD gezeigt hatte. Darauf hat auch der Sozialforscher Hans Goldenbaum in einem Gutachten hingewiesen, wie der Landtagsabgeordnete Andreas Henke (Die Linke) in der vergangenen Woche gegenüber jW erklärte. Demnach trifft die kriminalpolizeiliche Definition für politisch motivierte Straftaten auf den Anschlag zu, und dieser sollte nicht als rein psychologisch motiviert gewertet werden. Laut dem Gutachten sind zum Beispiel 90 Prozent der Posts auf der Plattform X, die Taleb A. seit 2016 abgesetzt hat, eindeutig islamfeindlich.

In der Anklageschrift werden die Folgen der Tat detailliert geschildert, wie Bild berichtete. Böttcher verlas die Namen der Opfer, schilderte ihre Verletzungen, die jeweiligen Unfallorte auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt sowie die Genesungszeiten. Viele der Betroffenen erlitten schwere Knochenbrüche, innere Verletzungen und teils bleibende gesundheitliche Schäden.

Nach der Mittagspause wollte sich der Angeklagte äußern. Nachdem die Anklage verlesen worden war, erklärte Taleb A., er werde »stundenlang, vielleicht auch tagelang« zu den Vorwürfen aussagen. Außerdem zeigte er kryptische Hinweise auf seinem Laptop, darunter »#MagdeburgGate«, »Sept. 2026« sowie den Satz »Der Wahrheit geht es nicht gut« mit Verweis auf die »Tageszeitung nd, 14. Oktober 2025, Ausgabe Berlin«. Dem Attentäter drohen lebenslange Haft und eine anschließende Sicherungsverwahrung, wenn die besondere Schwere der Schuld festgestellt wird, wie Gerichtssprecher Christian Löffler gegenüber dem MDR erklärte.

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