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Aus: Ausgabe vom 11.11.2025, Seite 4 / Inland
Evangelische Kirche in Deutschland

Christlicher Pazifismus ade

Kirchengemeinschaft stellt neue »evangelische Friedensethik« vor. Absage an absolute Gewaltfreiheit
Von Max Grigutsch
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»Schwerter zu Pflugscharen«, das war einmal. Nicht alle sind einverstanden (Dresden, 10.11.2025)

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat sich mit einer neuen »Friedensdenkschrift« auf den Kriegskurs des deutschen Imperialismus eingestellt. »Obwohl die Überwindung von Gewalt das oberste Ziel bleibt, verwirft die Denkschrift den absoluten Pazifismus als politische Theorie«, heißt es in einer Zusammenfassung des knapp 150seitigen Dokuments des EKD-Rates. Die Schrift wurde am Montag während der Jahrestagung der evangelischen Kirche in Dresden veröffentlicht. Befunden wird unter anderem, dass der Besitz von Nuklearwaffen angesichts anderer Atommächte »politisch notwendig« und Waffenlieferungen etwa zur »Wiederherstellung« des Friedens »ethisch verantwortbar« sein können. Sogar Präventivangriffe könnten »in Extremsituationen« vertretbar sein. In Sachen Kriegsdienst setzt die EKD auf Freiwilligkeit, hält eine Pflicht allerdings für möglich, »sollte dies unabdingbar sein«.

Damit überschreibt die Gemeinschaft, die über ihre Mitgliedskirchen rund ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands vereint, die bisher gültige Denkschrift von 2007. Der Grund für die Zäsur: »Die Welt ist aus den Fugen geraten.« Sie werde »immer kriegerischer und brutaler«, schreiben die Verfasser. Der russische Einmarsch in die Ukraine 2022 habe »Europa wachgerüttelt«. Westliche, sprich »demokratische« Gesellschaften seien zunehmend der »Destabilisierung durch hybride Kriegführung« ausgesetzt.

Auch der »eskalierende Nahostkonflikt« treibt die Kirchenvertreter um. Terror werde als »Waffe gegen die Demokratie« eingesetzt, so mitunter von der Hamas. »Terrorakte« würden die Grenze zwischen militärischen und zivilen Bedrohungen verwischen, und das mache es »Staaten schwer, angemessen zu reagieren«. Israel kämpfe »gegen Terrorgruppen, die sich selbst nicht ans Völkerrecht gebunden fühlen, während der Staat bei seiner Verteidigung den rechtlichen und ethischen Standards verpflichtet bleibt«, analysiert die EKD.

Als leitend für die neuausgerichtete »evangelische Friedensethik« gilt den Verfassern das Ideal des »gerechten Friedens«. Das heiße, wo sie bedroht wird, könne die »gerechte Ordnung« per »Zwangsmaßnahmen gegen Angriffe geschützt werden«. Nicht zu vergessen: »Jesus Christus lehrte den vollständigen Verzicht auf Gewalt.« Aber: In einer unerlösten Welt brauche es »Gesetze, Gerichte und notfalls Militär, um Eskalationen der Gewalt zu stoppen«. Ein »Balanceakt«, befindet die EKD. »Pazifistische Positionen der absoluten Gewaltlosigkeit würdigt die EKD als ›Ausdruck gelebter Frömmigkeit‹« – dies könne »nur eine persönliche Entscheidung einzelner sein« –, sie distanziert sich aber »von einer Position, die den Dienst ohne Waffe als ›deutlicheres Zeichen‹ christlichen Friedenshandelns wertet«.

Der Vorstellung des Textes war eine Ankündigung der EKD-Ratsvorsitzenden, Bischöfin Kirsten Fehrs, vorausgegangen. Sie bemühte sich am Sonntag um eine passende Sprachregelung, erkennbar im Sinne der Bundesregierung. Man wolle »nicht kriegstüchtig, sondern verteidigungsfähig, friedenstüchtig« werden. Der Abschied von »Frieden schaffen ohne Waffen« habe sie und viele andere aufgewühlt. Es gehe aber darum, »Krieg zu verhindern«, sagte sie.

Gegenüber der AfD erklärte die Hamburger Bischöfin indes »Widerstand«. Die Partei habe »die Würde bestimmter menschlicher Gruppen längst schon für antastbar erklärt« und stelle sich damit »außerhalb der Grundlagen unseres Grundgesetzes«, sagte Fehrs. Die Frage eines Parteiverbots sei in der evangelischen Kirche noch nicht geklärt, ein Nachweis verfassungsfeindlicher Bestrebungen wäre aber ein Verbotsgrund. Ferner diskutiert die EKD auf ihrer Tagung, die seit 1947 geltende Flaggenverordnung zu streichen. Diese verbietet vor Kirchengebäuden alle Flaggen außer der der Kirche. Eine Abschaffung würde es den jeweiligen Gemeinden überlassen, welche sie hissen wollen. Die Tagung der EKD-Synode läuft noch bis Mittwoch.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Hamburg, Manni Guerth (17. November 2025 um 10:46 Uhr)
    Die evangelische Kirche hatte sich irgendwann so um 2000 die Aufgabe gestellt, die eigene politische Rolle bei der Zwangsarbeit und den Konzentrationslagern der Nazis zu untersuchen. Dabei ist nicht viel herausgekommen, wie man sich vorstellen kann. Es ist auch lächerlich, die Täter mit der Untersuchung und Aufklärung der eigenen Untaten zu beauftragen. In der Politik nennt man das Untersuchungsausschuss. Laut der evangelischen Untersuchungskommission ist herausgekommen, dass von ca. 700.000 Zwangsarbeitern nur 12.000 für die evangelische Kirche mit leichten Hausarbeiten und Gartenpflegearbeiten beschäftigt waren. In Berlin hatte die evangelische Kirche ein eigenes Zwangsarbeitslager, in Neukölln, Hermannstraße 84–90. Dort waren mehr als 100 sowjetische Kriegsgefangene untergebracht. Schlechtes Essen und schlechte Behandlung der Zwangsarbeiter waren normal. Die politische Rolle der evangelischen Kirche, was die Denunziation von Menschen angeht, die ins Konzentrationslager gekommen sind, hat man nicht untersucht. Die Untersuchung ist unglaubwürdig, weil Zahlen und Mittäterschaft klein gehalten wurden. Beim Nürnberger Prozess wurde kein Geistlicher angeklagt. Wie sagte der König zum Papst: Halt du sie dumm, ich halt sie klein.
  • Leserbrief von Peter Tiedke aus Golzow (11. November 2025 um 16:42 Uhr)
    Dass es in der BRD keine Trennung zwischen Staat und Kirche gibt, weiß jeder, der seine Steuererklärung selbst erstellt. Das Finanzamt betätigt sich bei der Kirchensteuer quasi als Inkassobüro der Kirchen. Aber »Treusorge « des Staates gegenüber seinen Kirchen (v. a. der evangelischen und katholischen) geht weit darüber hinaus. Stichwort »Dotationen«: So »bekommt ein Bischof […] in der Regel etwa 8000 Euro Brutto-Einkommen im Monat, ein Erzbischof erhält in der Besoldungsgruppe B 11 bis zu 12.000 Euro«, wusste die Süddeutsche.de bereits vor Jahren zu berichten.
    Seit Jahrzehnten wird über die Sinnhaftig- bzw. Sinnlosigkeit dieser umfassenden staatlichen Alimentierung sich unabhängig von weltlichen Mächten wähnenden Glaubensgemeinschaften diskutiert. Ich denke, mit der neuen »Denkschrift« der EKD-Synode hat sich diese Frage zumindest für die Evangelische Kirche in Deutschland erledigt, sie ist ihr Geld wert! Sehr selten, m. W. nach 1945 noch nie, hat sich diese Truppe so eindeutig auf eine geradezu bedingungslose Unterstützung der aktuellen Politik des Staates einbinden lassen, der ganz offen Kurs auf Krieg genommen hat. Was bei der »Neuvermessung« der »bisherigen Friedensethik« herausgekommen ist, kann man auf knapp 150 Seiten nachlesen.
    »Natürlich« wird die geänderte Bedrohungslage bereits im Vorwort geklärt: »Die Welt ist in Unordnung« und Schuld sei der »völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg« und der »Terrorakt der Hamas«. Aber auch das »überhasteten Ende des Einsatzes(!) in Afghanistan« habe die EKD zur »Neuvermessung« angeregt. Kein Wort zu den Kriegsverbrechen in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien, in Palästina. Nichts zu dem NATO-Putsch in Kiew 2014 und dem folgenden Bürgerkrieg gegen die Verteidiger der ukrainischen Verfassung. Das völlige Fehlen eines Bemühens, sich den Ursachen der mörderischen Konflikte anzunähern und sie zum Ausgangspunkt der Suche nach einer wirkenden Friedensethik zu machen, erstaunt doch. (Gar nicht zu sprechen von einer Klarsicht auf die ökonomischen Ursachen von Krieg und Gewalt, wie sie Papst Franziskus besaß, als er zum Kapitalismus urteilte: »Dieses System tötet!«) So wird die »Denkschrift« eine Propagandaschrift zur geistigen Mobilmachung, die aktuelle Diskussionen wie zur Wehrpflicht und zur »Kriegstüchtigkeit« (selbst der Begriff wird nicht nur verwendet, sondern auch positiv untersetzt!) im Interesse einer Militarisierung der BRD beantwortet.
    Besonders klar wird die Entwicklung, wenn man die aktuelle mit der Denkschrift von 2007 oder der Kundgebung der EKD 2019 in Dresden vergleicht.
    In der neuen sind sie in ihr Gegenteil verkehrt. Das Ziel ist klar: Den vielen christlich motivierten Gegnern des Kriegskurses der deutschen Regierung den inneren Halt und Kompass zu nehmen – sie »kriegstüchtig« zu machen. Wie gesagt, aus der Sicht der Kriegstreiber ist der Rat der EKD offensichtlich sein Geld wert. Dumm nur, dass wir die auch noch bezahlen.
  • Leserbrief von Horst Neumann (11. November 2025 um 12:05 Uhr)
    Es gab Zeiten, in denen die EKD die Bewegung »Frieden schaffen ohne Waffen« intensiv unterstützte. Davon ist nichts mehr übriggeblieben. Sogar die Wortwahl unterscheidet sich kaum von der der Regierenden, um die Herstellung der Kriegsbereitschaft zu unterstützen. Die traditionelle Unterstützung der Kirche für die Mächtigen wird sehr deutlich. Es ist sehr bedauerlich, dass sich nach der Linken nun auch die Kirche von den Friedenskräften verabschiedet hat, und das in einem Moment, wo der Kampf um den Frieden höchste Priorität haben sollte, um die Menschheit zu erhalten.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (11. November 2025 um 07:06 Uhr)
    Dass die EKD mit ihrer Erklärung genau das tut, was sie der AfD vorwirft, nämlich »die Würde bestimmter menschlicher Gruppen (…) für antastbar« zu erklären, fällt ihr überhaupt nicht auf. In alter Kirchentradition darf mit Feuer und Schwert beiseitegeräumt werden, was für störend erklärt wird. Früher der heidnische Widerstand, dann die Ungläubigen um Jerusalem, die Aufständischen der Bauernkriege und nun also alle die, die man flugs zu Terroristen erklärt. Fehlt bloß noch, dass Gott aus der Kirche ausgeschlossen wird, weil er ein so unpassendes Gebot verfasst hat wie das fünfte: »Du sollst nicht töten.«
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Oliver S. aus Hundsbach (10. November 2025 um 22:28 Uhr)
    Dass die evangelische Kirche nicht die Hand beißt, die sie füttert, versteht sich von selbst. Dies ist einfach historische Kontinuität, die in dieser Institution seit ihrer Gründung angelegt ist. Wie in »Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945« zu lesen ist, hörte sich Generalsuperintendent Otto Dibelius in der Potsdamer Nikolaikirche am 21.03.1933, in Gegenwart Hindenburgs und aller NS-Größen, wie folgt an: »Ein neuer Anfang staatlicher Geschichte steht immer irgendwie im Zeichen der Gewalt. […] Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet. […] Das muss die doppelte Aufgabe der evangelischen Kirche auch in dieser Stunde sein. Wenn der Staat seines Amtes waltet gegen die, die die Grundlagen der staatlichen Ordnung untergraben, […] – dann walte er seines Amtes in Gottes Namen!«
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (10. November 2025 um 21:59 Uhr)
    Da reiht sich die Kirche, wieder, ein in den Anachronistischen Zug (frei nach F.J. Degenhardt https://www.youtube.com/watch?v=_6VQxVd0s_0). Wenn sie ihn denn jemals verlassen hatte. Es wird Herbst im Land.