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Aus: Ausgabe vom 10.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Dokfilm

Was hat dich bloß so ruiniert?

Wo fing das an? Was ist passiert? Die Netflix-Doku »Babo« über den Rapper Haftbefehl spart das Wichtigste aus
Von Emre Şahin
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Ein unterhaltsamer und markenfokussierter Typ: Haftbefehl

In gefühlt jedem deutschen Film gibt Elyas M’Barek »den einen Ausländer«. Beinahe wäre eine weitere schlecht gespielte Rolle dazugekommen, hätte er uns nicht selbst davor bewahrt. Haftbefehl, der größte Name, den die deutsche Rapszene je hervorgebracht hat, wollte sein Leben verfilmen lassen und schickte M’Barek das Skript. Der überzeugte den Rapper, lieber eine Doku zu drehen. Das Ergebnis ist die Netflix-Produktion »Babo – Die Haftbefehl-Story«, laut Produzent M’Barek ein Denkmal für den Rapper. Aber stimmt das auch?

Netflix bedeutet Sensationsgeilheit, bedeutet Filmpremiere mit Promigästen, die kein Haftbefehl hören. Wenn es das war, was der Rapper wollte – die Flut an Rezensionen ist überwältigend –, dann Glück für ihn. Sicherlich ist es eine enorme Arbeit, einen Menschen zwei Jahre lang zu begleiten. Dass der Film interessant geraten ist, liegt hauptsächlich an Haftbefehls Person und an seinen Geschichten. Der Untertitel »Haftbefehl-Story« trifft es allerdings nicht, weil vieles nur oberflächlich, fast schon gehetzt erzählt wird. Es ist vielmehr eine »Wieso ist er so abgestürzt?«-Story.

Im Drehzeitraum von 2022 bis 2024 kämpfte der Rapper mit großen Drogenproblemen, im Film geht es viel darum. Am Ende bleiben vor allem diese Szenen hängen. Haft hat mittlerweile eine deformierte Nase, auch sichtlich zugenommen, und man muss zweimal hinschauen, um zu realisieren: »­Scheiße, das ist er.«

2023 unternimmt er einen Suizidversuch, die Überdosis Kokain verätzt seine Nasenschleimhaut. Im Krankenhaus wird er gerettet. Als er zu sich kommt, ist er wütend, weil er überlebt hat, schreit, schmeißt alles um, geht und zieht direkt wieder zehn Gramm durch die Nase.

Diese Szenen werden nicht gezeigt, sondern, wie viele weitere auch, von Haft und ihm nahestehenden Personen erzählt und nachgespielt. Die filmischen Inszenierungen gehören zu den Highlights. Man merkt die Handschrift von Sinan Sevinç, einem talentierten Werbefilmer, der leider für die falschen Leute arbeitet (Apple, Adidas, Samsung). Sein Regiepartner ist der Spiegel-Journalist Juan Moreno, der bislang keine einschlägigen Erfahrungen mitbrachte und, wie er selbst sagt, »null Interesse« an HipHop hatte. Applaus. Ihm wird es sicher gutgetan haben, mal was anderes gemacht zu haben, als über den Fall Claas Relotius zu sprechen. Für M’Barek war es ebenfalls das erste Mal als Produzent.

Runtergebrochen ist die Story: Der Vater von Aykut Anhan nimmt sich wegen Depressionen, Spielsucht und hohen Spielschulden das Leben, da ist der Sohn 13. Seitdem nimmt der Offenbacher Junge Kokain, schmeißt die Schule, fängt an zu dealen, wird mit Haftbefehl gesucht, was ihm seinen Künstlernamen gibt, klammert sich an Rap. Dank seines Talents schafft er es bis nach ganz oben. Die Vergangenheit aber lässt ihn nicht los, weshalb er immer wieder abstürzt. Sein Umfeld kämpft für ihn, seine Familie leidet. Die beiden Kinder werden von seiner Frau Nina de facto alleine großgezogen. Dass Ninas Sicht miteinfließt, tut der Doku gut, der Film ist sehr männerlastig.

Haft selbst erlebt man als ehrlichen, überraschenden, unterhaltsamen und etwas markenfokussierten Typen, mit einem guten Herzen und viel Liebe für seine Mitmenschen, aber Hass auf sich selbst. Darin erinnert er an Kurt Cobain und Amy Winehouse. Leider wird seine Familiengeschichte wenig beleuchtet. Die Flucht aus Kurdistan hat – wie man aus Songs weiß – einen politischen Grund. Suizid ist unter kurdischen Aleviten im Exil leider kein Randphänomen. Dann: Was war Offenbach damals für ein Ort? Das Wort »Brennpunkt« sagt beileibe nicht alles. Und was ist die Rolle der Musikindustrie – was macht sie mit einem Menschen? Lediglich der in diesem Jahr leider viel zu früh verstorbene Rapper Xatar weist in der Doku auf den enormen Druck hin, der dort herrscht. Die Künstler werden ausgepresst. Netflix und allen anderen kann egal sein, was aus Haftbefehl wird, aus seiner Geschichte lässt sich Geld machen. Aber auch die Künstler vermarkten sich: Haft etwa mit einem Klamottenlabel, einer Eisteemarke und Vapes in der Geschmacksrichtung »Africa«. Was soll man sagen? Vielleicht sehen wir irgendwann eine bessere ­Arte-Doku. Dann aber bitte gedreht von einem Franzosen.

»Babo – Die Haftbefehl-Story«, Regie: Sinan Sevinç, Juan Moreno, BRD 2025, 92 Min., auf Netflix

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