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Aus: Ausgabe vom 13.05.2025, Seite 11 / Feuilleton
Nachruf

Ein Platz am Tisch

So hart, wie sie es wollen: Zum Tod des Rappers Xatar
Von Marcus Staiger
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Rastlos. Maßlos. Alles oder nix: Xatar (1981–2025)

Giwar Hajabi ist tot. Die Nachricht erreichte mich am Freitag und zuerst dachte ich, es handle sich um ein Gerücht, wie es so viele gibt, in der HipHop-Welt. Doch schließlich erhielt ich die persönliche Bestätigung: Xatar ist gestorben. Eine der verrücktesten und beeindruckendsten Karrieren in Rap-Deutschland hat ihr vorzeitiges, viel zu frühes Ende gefunden.

Zum ersten Mal begegnete mir Xatar im Dezember 2008 in Köln, als ich ihn für rap.de zum Interview traf. Es war wohl eines seiner ersten Interviews mit einem Deutschrap-Magazin überhaupt, entsprechend imposant wollte er auftreten. Langer Mantel schon damals, ein Markenzeichen, das er später zum Kultstatus erheben sollte, und ein geliehener Ferrari. Extrastress für den Künstler: dass da bloß kein Kratzer reinkommt.

Der Kontakt in der Folgezeit blieb lose, aber beständig. Man traf sich gelegentlich auf Szene- oder F-Prominenten-Partys. Wir kannten uns. Er wollte ein Label gründen und fragte hin und wieder um Rat. Wir waren beim selben Vertrieb. Wir mochten uns.

Irgendwann rief er mich an und erklärte, dass wir unbedingt eine Doku zusammen machen müssten, die wir dann an RTL verkaufen könnten, oder so. Es war eine wilde Geschichte, die von einer Flucht aus den USA nach Mexiko handelte. Er habe alles gefilmt, das würde so richtig knallen. Ich lachte und wimmelte ihn ein bisschen ab. Wer sollte sich für so einen Scheiß interessieren? Semiprominenter Rapper schlägt Frau in der Playboy Mansion von Hugh Hefner bei der Produktpräsentation eines deutschen Energydrinks, wird von Russen mit einem Geldkoffer auf Kaution freigekauft und flieht dann über Mexiko nach Deutschland. Später sollte das Ganze von Fatih Akin verfilmt werden. Bereits da wurde offensichtlich: Xatar wollte rein in dieses Universum aus Ruhm und Erfolg. Dafür war ihm jede Schlagzeile recht. Ich war ihm eindeutig zu langsam.

Die nächste Schlagzeile ließ nicht lange auf sich warten. Offensichtlich lief es mit der Musikkarriere nicht so gut, anders ist es kaum zu erklären, weshalb Xatar sich in einen Goldraub verwickeln ließ, der spektakulärer nicht hätte sein können. Mehrere junge Männer verkleideten sich als Zivilpolizisten, stoppten auf der Autobahn einen Goldtransporter, nahmen die Fahrer fest, setzten sie in einem Wald in der Nähe von Stuttgart aus und machten sich mit dem Transporter aus dem Staub. Die Beute: mehrere hundert Kilo ungereinigtes Zahngold. Wer bitteschön klaut ungereinigtes Zahngold? Erst später verstand ich, dass das fast so gut wie eine Bankkarte ist – eigentlich noch besser. Du gehst mit zwei, drei Zähnen zu einem Goldhändler, lässt dir dafür Bargeld geben, und die Sache ist geritzt. Keine Registrierung, keine Spuren. Für Xatar ging die Sache nicht so gut aus. Die Polizei kam den Gangstern auf die Spur, Xatar musste fliehen. Erst nach Moskau, dann in den Irak. In Irakisch-Kurdistan wurde er festgenommen und von den Peschmerga gefoltert, die wissen wollten, wo er das Gold versteckt hatte. Das deutsche Bundeskriminalamt holte ihn raus und brachte ihn nach Deutschland, wo er zu einer Haftstrafe von insgesamt acht Jahren verurteilt wurde, anscheinend auf der Grundlage eines Paragraphen, der noch aus Kaiserzeiten stammte und sich gegen Wegelagerei richtete.

Zu der Zeit habe ich ihn für einen Artikel im Knast besucht. Xatar war mittlerweile zu einem Mythos geworden, der hinter Gittern heimlich ein Album aufgenommen und sein Label aufgebaut hatte. Der Goldraub machte ihn zu einem echten Gangster inmitten der ganzen Fakerapper. Dieser Nimbus war ihm nicht zu nehmen, mit Witz und Unverfrorenheit schlachtete er ihn aus. So packte er falsche Goldzähne in die Boxen, mit denen er sein Album verkaufte, nicht ohne zu erwähnen, dass in einigen der Boxen auch echte liegen würden. Mit Schwesta Ewa und SSIO brachte er erfolgreich alte Weggefährten ins Rap-Game, mit Mero entdeckte er einen der erfolgreichsten und vielversprechendsten Newcomer der aufkommenden TikTok-Ära. Doch Xatar wollte mehr. Er wollte alles oder nix. So nannte er auch sein Label, das Motto war Programm.

Vielleicht lag es auch daran, dass er trotz der Erfolge immer das Gefühl hatte, ein Außenseiter im Musikgeschäft zu sein. Nicht zu Unrecht. Als Xatar und Gang einmal bei der Echo-Gala aufschlugen und mit Jogginganzügen, Sonnenbrillen und dicken Goldketten protzten, rümpfte mancher Musikmanager die Nase. Zu prollig. Zu kanakisch. Dieselben Leute buhlten später um Xatars Gunst und zahlten irre Vorschüsse, als es bei ihm lief und er drauf und dran war, ein Musikimperium aufzubauen. Doch die Dinge glitten ihm aus der Hand. Zu viele Pferde gleichzeitig reiten zu wollen ist dann auch für einen Menschen von Xatars Statur zu viel. Schließlich ruinierte sein Lifestyle nicht nur seine Gesundheit, sondern auch ihn selbst. In den letzten Jahren musste er Insolvenz anmelden. Sein Goldmann Tower in Köln musste schließen. Xatar war pleite.

Was bleibt, sind zwei Geschichten, die mir immer in den Sinn kommen werden, wenn ich an ihn denke.

Die erste erzählte er mir nebenher, als wir uns einmal mit dem Chef unseres Vertriebs trafen: Xatar wuchs in Bonn Brüser Berg auf, einer Gegend, die man heute als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde. Sie liegt in der Nähe der Hardthöhe, wo das Verteidigungsministerium seinen Sitz hat. Da Xatar relativ gut in der Schule war, sollte er das Gymnasium im besseren Stadtteil besuchen, wo er aber als kleiner Junge aus dem Assiviertel keinen Anschluss fand. Als einziger Ausländer wurde er zu keinem Geburtstag eingeladen, seine Kumpels waren alle auf der Hauptschule. Deutlich ließen ihn die Lehrer spüren, dass auch er eigentlich nicht ans Gymnasium gehörte, die anderen Kinder ließen den stillen, unauffälligen Jungen aus der schlechten Gegend links liegen. Das änderte sich, als Xatar anfing, kleine Päckchen an seine Klassenkameraden zu verkaufen. Es änderte sich, als er sich eine Lederjacke kaufte und bekannt wurde, dass er diese und jene Geschäfte machen würde. Es änderte sich erst, als er zu dem asozialen Kanaken wurde, den die anderen in ihm sahen. Ab da wurde Xatar geschätzt und zu den Partys eingeladen. Ab da war es cool und auch ein bisschen gefährlich, mit ihm rumzuhängen. Das Gymnasium musste er in der elften Klasse verlassen.

Die andere Geschichte: RTL 2 hatte sich eine Scripted-Reality-Show überlegt, in der ein absoluter Volltrottel zum MC ausgebildet werden sollte. Das Ganze hieß »Der Bluff«. Einer der Rap-Trainer war Xatar, der aus einem Lyrikstudenten aus Tübingen einen harten Straßenrapper machen sollte. Der Typ war ein reaktionärer Nerd aus einer Studentenverbindung und konnte mit der Subkultur, die ihm da begegnete, nichts anfangen. Er wollte das Experiment sogar abbrechen, weil er die Leute so unappetitlich fand. Das war die Stunde, da ihn Xatar am Arm packte und fragte, ob er Antonín Dvořák kennen würde. Natürlich kenne er Antonín Dvořák, antwortete Fridolin, oder wie auch immer er hieß. »Nun gut«, sagte Xatar, »dann kennst du auch die Symphonie ›Aus der Neuen Welt‹.« – »Natürlich kenne ich die Symphonie ›Aus der Neuen Welt‹«, sagte Fridolin. »Dann weißt du auch, was Dvořák getan hat, um sie zu schreiben«, fuhr Xatar fort: »Dvořák lebte ein Jahr lang in den USA. Er lebte im Wilden Westen. Er lebte unter Cowboys, Nutten und Indianern. Er lebte mit richtigen Gangstern zusammen, und dann ist er zurückgekommen und hat diese wunderbare Musik geschrieben. Er hat das alles benutzt, was er gesehen hat, und genauso musst du das auch machen. Du musst hierbleiben und dir alles genau anschauen. Du musst das hier jetzt durchziehen, und dann musst du nach Hause gehen, und dann schreibst du deine Symphonie ›Aus der Neuen Welt‹!« Die Augen des Studenten begannen zu leuchten. Er richtete sich auf. Er hob den Kopf. Er schaute in die Zukunft. »Das werde ich machen«, sagte er mit fester Stimme und stand auf: »Genau das werde ich machen.«

Die Szene wurde gefilmt, erzählte Xatar. Sie stand nicht im Drehbuch, aber sie war gut. Die beste Szene in der ganzen Serie, dachte Xatar, die Schlüsselszene der kompletten Staffel. Doch sie wurde nie gesendet. Später am Abend setzte sich die Aufnahmeleiterin der Serie zu ihm und meinte, dass sie die Aufnahmen leider nicht verwenden könnten. Sie würden nicht ins Bild passen. Ein Kanake, der Antonín Dvořák kennt, wo gibt’s denn so was? Xatar ist doch der harte Gangster. Das wollen die Leute sehen. Die wollen doch keinen Ausländer sehen, der irgendwas von Antonín Dvořák erzählt. Glaubt doch kein Mensch.

In diesem Sinne verlässt uns mit Xatar wohl einer der verkanntesten Künstler der jüngeren Rap-Geschichte. Ein Mensch, der wahrscheinlich nie so hart war, wie es seine Umwelt von ihm verlangte, wie sie ihn sehen wollte, und nicht zuletzt, wie auch er selbst sich sehen wollte und inszeniert hat. Ein sensibler Künstlertyp, der immer um seine Anerkennung gekämpft hatte und um das Recht, mit am Tisch sitzen zu dürfen. Ein kleiner Junge mit sehr, sehr großen Träumen. Rastlos. Maßlos. Alles oder nix eben. Bis zum Schluss.

Rest in power, Giwar.

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