Gut gedacht, schlecht gemacht
Von Sabine Lueken
Cem (Taner Şahintürk) ist ein Sprayer und S-Bahn-Surfer aus Neukölln. Er hat gerade einen Entschluss gefasst: »Allah, ich weiß, du hast viel zu tun, aber ich muss dir was sagen. Das ist mein letzter Tag hier in der Moschee. Ich gehe jetzt und komme nie wieder zurück. Ich dachte wirklich, es wird was mit uns. Aber du redest halt nie.« Seine Mutter Esma (Anastasia Gubareva) ist erleichtert: »Mein Traum war ein Sohn mit Licht in den Augen, nicht ein Mullah mit Spinnweben im Kopf.« Sie gehört zur ersten Generation von »Gastarbeiterinnen«, die mit großen Erwartungen nach Deutschland kamen, sich emanzipieren wollten – so zeigt es das Stück. »Dann habe ich mich an die Fabrik verkauft, weil ich überleben musste … Der Kapitalismus nimmt dir erst die Zeit. Dann deine Sprache. Dann deine Träume. Am Ende weißt du nicht mal mehr, was du wolltest. Nur, dass du müde bist.«
So beginnt »Berlin Karl-Marx-Platz«, der letzte Teil seiner Stadttrilogie, mit der sich Hausregisseur und Autor Hakan Savaş Mican vom Gorki verabschiedet. Das musicalartige Stück wurde 2021 in der Neuköllner Oper uraufgeführt, nun neu bearbeitet und von Peer Neumann auch mit neuer Musik versehen. Die anderen beiden Teile waren 2020 »Berlin Oranienplatz«, die Geschichte des Kleinkriminellen Can, der für das Fälschen von Markenklamotten in den Knast muss, und »Berlin Kleistpark« (2021). Im vergangenen Jahr hatte Mican mit der Inszenierung von »Unser Deutschlandmärchen« zu Recht einen großen Erfolg.
»Berlin Karl-Marx-Platz« erzählt von Liebe, Ost und West, von Träumen und der Freiheit, sie verwirklichen zu können. Es zeigt die Last, die Kindern aufgebürdet wird, wenn sie die Träume ihrer Eltern erfüllen sollen – und wie diese Träume in der Realität scheitern. Zugleich erzählt es vom Kapitalismus und von der DDR. Die Handlung entfaltet sich in den 90er Jahren: als die Mauer fiel, als eine wilde Zeit anbrach und alles möglich schien – eine Zeit, die man später die »Baseballschlägerjahre« nennen wird.
Cem trifft Lisa (Sesede Terziyan), eine selbstbewusste Ostgöre aus Marzahn, die Opernsängerin werden will wie ihr Großvater Paul (Falilou Seck). Cem fragt: »Was singst du so?« Lisa antwortet: »Klassik. Kennst du nicht, weil … du ein Arbeiterkind bist.« Aber dann fügt sie hinzu: »Ich mag dich, Moslem!« Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden verlieben sich ineinander. Lisa wird schwanger, sie bekommen das Kind. Opa Paul ist entsetzt: »Du machst ein Kind mit einem Mohammedaner?«
Cem und Lisa leben sich auseinander. Beide müssen ihre Träume aufgeben: Cem findet keinen Verlag für seine Graphic Novel über Nefes, die freiheitsliebende »muslimische Wonder Woman« mit Kopftuch. Der Galerist rät ihm, lieber »Kunst gegen Rassismus« zu machen. Lisa verlässt die Hanns-Eisler-Musikhochschule, weil sie es mit Kind nicht schafft. Stattdessen steigt sie ein in den Multi-Level-Marketing-(MLM-)Pyramidenvertrieb für Parfüm und Unterwäsche: »Kommt, macht mit. Solidarität heißt nicht nur spenden,« sondern meine Waren kaufen. »Solidarität heißt: Mein Erfolg ist euer Erfolg. Meine Freiheit ist eure Freiheit.« Zuhause wird es ihr zu eng, sie geht nach Paris und wird eine erfolgreiche Businessfrau.
Als sie mit Opa Paul telefoniert, erzählt er ihr, dass er Krebs hat und ihre Mutter damals als »Republikflüchtling« vor Hiddensee ertrunken ist. Ohne DDR-Schelte geht es nicht: »Manchmal denke ich, Marzahn ist wie die DDR. Gut gedacht, schlecht gemacht!« Lisa kehrt am Ende zurück, Cem hat die Scheidungspapiere besorgt. Sie sagt, sie sei wieder da, und beide schauen dem Feuerwerk zu. Das neue Millennium bricht an – Ausgang ungewiss.
Zwischendurch gibt es viele herzzerreißende Lieder – aus Schuberts »Winterreise« über David Bowies »Heroes« bis zu Nick Caves »The Weeping Song«. Immer, wenn es nicht weitergeht, kommt Musik. Neu arrangiert und dargeboten von Ceren Bozkurt, Dima Dawood, Isabelle Klemt, Kristina Koropecki, Ömer-Kaan Özdağ, Cham Saloum und Peer Neumann – an Schlagzeug, Klavier und Cello sowie Oud, Duduk und Kanun.
Die Bühne (Alissa Kolbusch) ist nur ein Laufsteg, der bis ins Publikum führt, darauf spielt sich alles ab. Ergänzt wird die sparsame Bühnengestaltung durch animierte Comiczeichnungen (Steffi Stagge) auf dem Prospekt, darunter Marx als Bauchtänzerin, wenn Cem zu »Sad But True« von Metallica die häusliche Scheinidylle kaputtschlägt. »Kein Wegrennen in die Gemütlichkeit des Geldes. Das hier ist der Beginn unserer persönlichen marxistischen Revolution!« Und Lisa antwortet: »Revolution? Weißt du, wie oft ich dieses Wort schon gehört habe im Osten? Und es klang schon damals hohl.«
Mitreißend sind Taner Şahintürks erster Song »Thunderstruck« und Sesede Terziyans Version von Queens »I Want It All«. Falilou Seck hat einen grandiosen Gesangsauftritt mit »Hurt« von Nine Inch Nails – vielleicht besser bekannt in der Version von Johnny Cash – und als Autohausmoderator, Anastasia Gubareva als Bauchtänzerin. Dass dennoch Langeweile aufkommt, liegt nicht an den Darstellern, sondern an der klischeehaften, vorhersehbaren Konstruktion der Figuren. Den stärksten Satz in dieser an Sprüchen nicht armen Inszenierung liefert Cems Mutter Esma: »Wie mich Deutschland verändert hat? Ich habe Deutschland verändert – nicht umgekehrt.«
Nächste Vorstellungen: 11.11., 25.12.
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