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Aus: Ausgabe vom 06.11.2025, Seite 3 / Ansichten

In Feindschaft vereint

EU-Erweiterung unter Vorbehalt
Von Reinhard Lauterbach
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Die Aussage der EU-Erweiterungskommissarin, künftig neue Mitgliedstaaten erst einmal nur auf Probe aufzunehmen, ist institutionell ein Novum. Die EU bricht darin mit ihrer bisherigen Rhetorik, wonach Ausdehnungen des Staatenbündnisses unwiderruflich und die Mitglieder »zu ihrem Glück vereint« seien (und so weiter). Sie offenbaren, dass das Zentrum der EU willens ist, die Feindschaft gegen Russland auf Dauer und weit über den Ukraine-Krieg hinaus als Grundkonsens festzuschreiben: Sie wolle nicht, dass ein Land, das sie aufgenommen habe, sich in zehn oder 15 Jahren als »Trojanisches Pferd Russlands« erweise, so Marta Kos gegenüber der Financial Times. Es soll auch jeder Rückkehr zum »business as usual« ein Riegel vorgeschoben werden. Man kann vermuten, dass der Ausschluss Ungarns schon auf dem Tisch läge, wenn es dafür eine Rechtsgrundlage gäbe. So wird de facto eine Mitgliedschaft erster und zweiter Klasse gefördert: Die einen dürfen mitentscheiden, die anderen werden mit Verfahrenstricks umgangen, so gut es geht und so schlecht es auch nach außen wirken muss, wenn ungarische ­Minister an den Katzentisch gesetzt werden.

Aber es dann einfach sein zu lassen mit der Erweiterungspolitik, ist für die EU auch keine Option. Sie hat sich mit der großen Osterweiterung von 2004 und ihren kleineren Nachfolgeschritten 2007 und 2009 dem Programm verschrieben, sich eine eigene Hegemonialzone entlang ihrer Ostgrenze zu schaffen. Und gegenüber der Ukraine und Moldau ist sie im Wort. Wenn sie sich jetzt zurückzöge und das Expansionsprogramm einstellte, wäre sie politisch blamiert und würde erst recht riskieren, dass sich politische Eliten in den potentiellen Beitrittsländern überlegen, ob es nicht auch andere Bündnisoptionen gibt. Etwa mit Russland oder China. Das kann die EU nicht wollen, also muss eine verkorkste Politik fortgeführt werden, koste es, was es wolle. Dass das aus dem Zerfall Jugoslawiens hervorgegangene Schmugglernest Montenegro heute als der Kandidat mit den besten Aussichten auf Aufnahme dargestellt wird, ist in seiner politischen Ironie kaum noch zu überbieten.

Gleichzeitig ist die EU mit ihrem Kurs dabei, die sozialen Grundlagen für ihre Akzeptanz in den Beitrittsländern selbst zu verspielen. In Polen ist das deutlich zu sehen: Die Sympathie der Gesellschaft für die Mitgliedschaft stützt sich einerseits auf die offenen Grenzen, die das Abwandern erleichtern, andererseits aber auf die massiven Investitionen in die Infrastruktur, die mit Mitteln aus Brüssel finanziert wurden. Drohen sie in der nächsten Finanzierungsperiode zugunsten neuer Mitgliedsländer reduziert zu werden, erodiert die materielle Grundlage dieser »proeuropäischen« Stimmungen. In der Ukraine oder Moldau wird der Mechanismus nicht anders sein. Von Werten wird man nicht satt.

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