Gegründet 1947 Dienstag, 4. November 2025, Nr. 256
Die junge Welt wird von 3054 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 04.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kulturpolitik

Vereint in den Abgrund

Ostdeutsches Selbstbewusstsein: Eine Konferenz zur Rettung des Theaters Ost in Berlin-Adlershof.
Von Carmela Negrete
10.jpg
Kathrin Schülein, Künsterlische Leiterin des Theaters Ost, im alten Aufnahmesaal der »Aktuellen Kamera«

Das Theater Ost in Berlin-Adlershof ist bedroht. Eine Kündigung und eine Räumungsklage flatterten ins Haus, da der Investor Stefan Klinkenberg für das Gebäude andere Pläne hat. Für Theaterleiterin Kathrin Schülein und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter mehr als 30 Ehrenamtliche, ist das ein Schlag ins Gesicht, der Erinnerungen an die Zeiten der großen Demontage des Ostens durch die Treuhand weckt. Seit 2011 ist das Gebäude ein Ort kulturellen Lebens.

Auch wegen dieses Hintergrunds wurde die Konferenz zur Rettung des Theaters am 1. November im großen Saal des ehemaligen Fernsehstudios der »Aktuellen Kamera« ein Symbol des Selbstbewusstseins ostdeutscher Kultur. Die Botschaft: Schluss jetzt! Dieses Projekt, dieses Theater, lassen wir uns nicht nehmen.

Prominente Unterstützer trafen sich in dem vollen Theater, in dem zusätzliche Säle mit Bildschirmen ausgestattet werden mussten, damit das interessierte Publikum dem Geschehen folgen konnte. Mit dabei: der Politiker Gregor Gysi (Die Linke), der letzte Chef der Plattenlabels Amiga, Jörg Stempel, die Schauspielerin Sonja Hilberger sowie der Sänger und Komponist Tino Eisbrenner.

Die Autorin Daniela Dahn berichtete davon, wie sie und andere, die für das Fernsehen der DDR arbeiteten, das Ende des real existierenden Sozialismus erlebten. Sie schilderte, wie die Abschaltung des DDR-Fernsehens ablief – dieses »einmalige Ereignis in der europäischen Fernsehgeschichte, geeignet, dem Osten vorsätzlich kulturellen Besitzstand zu entziehen«. Das war die Zeit, in der, so Dahn, »zwielichtige Gestalten ihre unverhofft gewonnene Macht in Orgien persönlicher Herabwürdigung auslebten«. Gemeint war insbesondere der ehemalige Fernsehchefredakteur des BR, Rudolf Mühlfenzl, der ab 1990 als Rundfunkbeauftragter für die neuen Bundesländer fungierte.

Für diejenigen, die 1990 noch nicht entlassen worden waren, hieß es, sich für den neu gegründeten MDR zu bewerben. Die Bewerber wurden eines Tages einbestellt und einzeln aufgerufen. »Sie gelangten in ein Vorzimmer mit einer Sekretärin, dann in einen leeren Raum, in dessen Mitte ein Tisch stand, auf dem ein Telefon stand.« Die Mitarbeiter mussten den Hörer abnehmen, ihren Namen nennen – danach wurden sie über ihre Weiterbeschäftigung oder Entlassung informiert.

Geschichten der Entwürdigung des Ostens durch den Westen bestimmten den Abend im Theater Ost. Auch ein Jurist, der damals für einen der sogenannten Liquidatoren arbeitete, berichtete, wie großzügig die Honorare für die Abwicklung im Auftrag der Treuhand ausgezahlt wurden. Der Leipziger Historiker Peter Fellenberg wiederum berichtete, wie sein Institut abgewickelt wurde.

Der Unternehmer Holger Friedrich, der bekanntlich aus Ostberlin stammt, 2019 die Berliner Zeitung gekauft hat und seitdem herausgibt, erzählte, wie er als Investor selbst einmal ein kleines Theater in der Torstraße verdrängte. Das Theater Ost hingegen möchte er unterstützen und plant deshalb eine dauerhafte Kooperation mit seiner Zeitung, die dem Theater auch ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellen soll. Da die Berliner Zeitung nach eigenem Anspruch »weder rechts noch links« ist, fragte jW bei Kathrin Schülein nach, ob diese Kooperation dazu führen könnte, dass in diese Rahmen auch AfD-Vertreter auftreten.

Schülein verneinte das, die künstlerische Leitung behalte sie allein. Kathrin Schülein hat verstanden, dass es sich nicht nur um ein aktuelles Ost-West-Problem handelt: »Freiheit ist wichtiger als Frieden, und natürlich nur, weil alles für die Freiheit zu verlieren auch Freiheit ist«, sagte sie ironisch in ihrer Abschlussrede. »Und so schauen die einstigen DDR-Bürger heute erneut in einen Abgrund aus lautstark proklamiertem Anspruch und trostloser Realität, in den schon die DDR verschwand und in dem wir nun alle gemeinsam, gesamtdeutsch, zu stürzen drohen.«

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Die Bodenreform war prägend für die DDR. Auf einer 1.-Mai-Demons...
    17.10.2025

    Junkerland in Bauernhand

    Vor 80 Jahren führten die Länder der Sowjetischen Besatzungszone eine Bodenreform durch. Großgrundbesitzer mit mehr als 100 Hektar Land wurden entschädigungslos enteignet

Regio:

Mehr aus: Feuilleton