Was die Menschen denken
Von John Green
Von einer breiteren Öffentlichkeit eher unbemerkt, ist am 23 September 2025 die DDR-Fernsehjournalistin Sabine Katins nach längerer Krankheit in Berlin gestorben. Jüngeren wird sie kaum noch ein Begriff sein, aber in den 70er Jahren drehte sie zusammen mit der von ihr geleiteten Gruppe eine Vielzahl von Filmen, die noch immer Beachtung verdienen.
Katins hatte von 1959 bis 1963 an der Universität Leipzig Journalismus studiert und anschließend zwei Jahre beim DFF in Berlin in der Abteilung »Aktuelle Kamera« gearbeitet. In Leipzig stellte sie 1971 ihre Dissertation »Fernsehjournalistische Formen der Menschendarstellung unter der Einwirkung der dramatischen Kunst« fertig. Danach arbeitete sie ab 1972 wieder beim Fernsehen der DDR in Berlin-Adlershof. Dort lernte sie den aus Bayern stammenden Franz Dötterl kennen, der seit den 50er Jahren im Auftrag der SED ein Korrespondentennetzwerk von Kameramännern in Westeuropa aufgebaut hatte. Offiziell war er akkreditierter Kameramann des DDR-Fernsehens. Die beiden fanden auch privat zueinander.
Gemeinsam gründeten sie in Adlershof die »Gruppe Dr. Katins« – eine quasiselbständige Abteilung mit dem Ziel, für das DDR-Publikum hochwertige Reportagen aus westlichen Ländern zu produzieren, insbesondere aus der BRD. Beispielsweise diagnostizierte der Spiegel im August 1979: »Seit fast einem Vierteljahrhundert versucht das DDR-Fernsehen das Unmögliche: Einerseits muss es im Auftrag der Sozialistischen Einheitspartei einen politischen Kontrast zu ARD- und ZDF-Programmen bieten, die fast überall in der DDR empfangen werden können – und macht sich damit langweilig. Andererseits muss es westliche TV-Formen und -Inhalte nachahmen, um den DDR-Zuschauer überhaupt auf den heimischen Kanälen zu halten – und bringt sich damit um den Anspruch, das ›sozialistische Menschenbild‹ zu formen.«
Katins’ und Dötterls erster gemeinsamer Dokumentarfilm »Der General in Tulle« behandelte das deutsche Massaker am 9. Juni 1944 in der französischen Stadt Tulle und den Waffen-SS-General Heinz Lammerding. Eine Dekade später drehten sie »Eine manipulierte Gesellschaft – Kennen sie Kappler?« (1977) über den Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Rom, Herbert Kappler, der für das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen verantwortlich war. Die Filme legten offen, wie Naziverbrecher nahtlos in die BRD-Gesellschaft eingegliedert wurden. Ein Thema, das für die Katins-Gruppe prägend war. Ab 1972 produzierte sie auch mehrere internationale Reportagen aus anderen Ländern, unter anderem aus Südafrika und Namibia (»Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?«, »Wenn sie mich finden, werde ich nicht weinen«, beide 1976), aus Großbritannien, den USA sowie mehrere über die Nelkenrevolution 1974 in Portugal.
Für Aufsehen in Ost- wie Westdeutschland sorgte 1974 der in Katins Regie gedrehte Film »Was denkt der Bundesbürger über die DDR?«, für den Interviews mit Westdeutschen über deren Wissen über das sozialistische Nachbarland geführt wurden. Die Gruppe Katins setzte mit ihrer Arbeit Maßstäbe: Weg von der großen Politik auf Regierungsebene, statt dessen nah an die gewöhnlichen Menschen. Ihre Filme zeigten, dass Kapitalismus für viele Westdeutsche nicht gleichbedeutend war mit dem von der Werbeindustrie verbreitenden Bild von glänzenden Autos, geräumigen Häusern und allgegenwärtigem Wohlstand. Die vielen Ungerechtigkeiten und sozialen Probleme in der BRD wurden deutlich. Ihre Methode, den kommentierenden Text auf ein Minimum zu beschränken und die Protagonisten selbst zu Wort kommen zu lassen, war zu dieser Zeit ungewöhnlich. Nicht wenige westliche Kollegen zeigten sich beeindruckt. Alle 14 Tage wurde im Fernsehen der DDR die 25minütige Sendung »Alltag im Westen« gesendet, zwischen 1977 und 1987 über 300 Filme. Regisseure aus der Bundesrepublik lieferten das Material, Katins verarbeitete es.
1979 kam es zu einem erbitterten Streit zwischen dem Paar Katins/Dötterl und Heinz Adameck, dem Vorsitzenden des staatlichen Komitees für das Fernsehen der DDR. Die Filmemacher wurden kurzerhand entlassen. Die Leitung ihrer bisherigen Gruppe übernahm Günther Herlt, der ihre Arbeitsweise beibehielt.
Auch wenn der Einfluss der Gruppe Katins auf die deutsche Fernsehreportage heute kaum noch gewürdigt wird und die Sendekopien ihrer meisten Filme in den Archiven der RBB Media GmbH verstauben: Zumindest die Sendungen über die »vergessene Kolonie« Namibia und Portugal sind zuletzt auf neues Interesse gestoßen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martina D. aus 15306 Vierlinden (31. Oktober 2025 um 08:05 Uhr)Ich sah mir den verlinkten Film von 1974 zweimal an und bin erstaunt über das positive Bild, das viele »normale« Bundesbürger von der DDR hatten. Vor allem die soziale Seite der DDR-Politik wussten sie zu schätzen: niedrige Preise für Lebensmittel und Mieten, bessere Ausbildung, Chancengleichheit, kostenlose Krankenbehandlung, Mitsprache auf Arbeit. »Die Leute haben was geschaffen und sind stolz drauf«, sogar gute (auch marxistische) Bücher und Theater fanden Anerkennung. Ein etwa 12jähriger Junge äußerte nach einem Ferienlageraufenthalt, »die Mädchen in der DDR würden keinen Wert auf finanzielle Dinge legen, sondern auf menschliche Qualitäten«. Die Fußballfans waren voll des Lobes über die Sportförderung in der DDR. Wir als DDR-Bürger waren »arbeitsam und tüchtig«, während man uns nach der »Wende« doch das Arbeiten angeblich erst beibringen musste … Auch Menschen anderer Ansichten kamen zu Wort: natürlich »opferten« sich Großaktionäre für die »Arbeitnehmer« und waren als »Demokraten« voll gegen die DDR, die nur »durch Terror« noch existiere. Die NPD-Demonstration durch Würzburg für ein einheitliches Deutschland in den Grenzen von 1938 wurde damals schon durch die Polizei der BRD geschützt. Kaum einer palaverte über »Freiheit« und »Reisefreiheit«, und wenn, dann relativierte sich das schnell durch Arbeitslose, Kinderreiche, von Mieterhöhungen Betroffene. Das Wissen über die Ursachen des »Mehr-Tuns-für-die-Menschen« im »Ostblock« war (und ist) natürlich gleich null, aber einen Klasseninstinkt gab wegen eigener sozialer Sorgen noch. Diese positiven Erfahrungen sind inzwischen weitgehend durch Dauerdiffamierung der DDR weggewischt. Und ich frage mich wieder: »Warum haben wir das aufgegeben? Und wo fangen wir heute neu an?« An die Filme von Dr. Sabine Katins und ihrem Lebensgefährten erinnere ich mich leider nicht. Ich hätte gern die Ursache des Zerwürfnisses zwischen Adameck und den beiden Dokumentarfilmern erfahren.
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