Schlechte Laune
Von Arnold Schölzel
Vizekanzler Lars Klingbeil soll zur Kabinettsklausur in der Berliner Villa Borsig beigesteuert haben: »Im Prinzip ist unser Hauptgegner die Laune.« Putin scheint entlastet.
Aber da sind noch die Ostdeutschen. Der Landstrich, den sie bewohnen, wurde am 3. Oktober nach dem Willen Helmut Kohls und der damals in der DDR regierenden Koalition aus seiner AfD (Allianz für Deutschland) und der SPD aus einem Staat zu einer Zone, insofern dort die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte nur eingeschränkt gültig waren. An die Stelle freier Berufswahl trat die Abwicklung, vor allem aber schickte die Treuhand genannte Kolonialbehörde von den mehr als neun Millionen Beschäftigten der DDR zwei Drittel zumindest zeitweilig in die Arbeitslosigkeit. Krieg gab es Anfang 1991 im Namen der freien Welt im Irak obendrein. Ungefähr seit damals gelten die Ostdeutschen als undankbar und miesepetrig.
Das hat sich westwärts bis 2025 nicht geändert, aber selbst das deutsche Kapital und seine Sprachrohre sind sich nicht mehr ganz einig, woran es liegt: Sozialismus oder Kapitalismus? So durfte in der FAZ vom Donnerstag im Politikteil der frühere Chef des »Forschungsverbunds SED-Staat« an der Freien Universität Berlin, Klaus Schroeder, wieder einmal aus seinem jahrzehntelang gehorteten Stehsatz mitteilen: »Rechtsextremismus aus der Tiefe des sozialistischen Raums. Was die DDR durch Kollektivierung der Jugend und Isolation von Ausländern bewirkte«. Zusammengefasst: Das war die Fortsetzung des Faschismus. In Schroeders Worten: »Die DDR-Sozialisation knüpft an gewisse Werte und Haltungen des Nationalsozialismus, wie etwa das Gemeinschaftspathos und die Ablehnung eines liberalen Lebensstils, an, stellte sie allerdings in einen veränderten ideologischen Rahmen.« Der ideologische Wechselrahmen, in den sich ganze Generationen nach Schroeder hineinzwängen lassen, weist auf eine Menschenverachtung hin, die für ihn und den deutschen Imperialismus spezifisch war und ist – mit der AfD als gegenwärtiger Spitze dieses Eisbergs.
Im FAZ-Wirtschaftsteil schreibt dagegen am selben Tag Redakteur Falk Heunemann, 1977 in Rudolstadt/Thüringen geboren, das Gegenteil zu Schroeder. Unter der Überschrift »Wir sind uns näher als gedacht« analysiert Heunemann, was der hiesige Kapitalismus in 35 Jahren so erbracht hat. Und siehe da: »Die Bruchkante verläuft nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Zentren und Peripherie.« Die Erkenntnis ist nicht ganz neu, entspricht aber einer realen Tendenz. Die Kluft vor allem im Arbeitsangebot und den Lebensverhältnissen zwischen Stadt und Land wird bundesweit tiefer: »Nur dass es im Osten erheblich mehr Peripherieregionen gibt.« Sprich: Mehr und mehr Landkommunen sind pleite – in Baden-Württemberg nicht anders als in Thüringen. Zahlen dazu sind einem weiteren FAZ-Artikel zu entnehmen: »36 der 76 ostdeutschen Kreise sortiert das Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung dem Typ ›Dünn besiedelter ländlicher Kreis‹ zu, 24 Kreise zählen zum Typ ›Ländlicher Kreis mit Verdichtungsansätzen‹, nur 16 Kreise sind städtisch oder großstädtisch geprägt. Im Westen gibt es dagegen mehr Großstädte und dichter besiedelte Gebiete.« Gerade dünner besiedelte Kreise im Osten wie Nordwestmecklenburg, Anhalt-Bitterfeld, Görlitz und Stendal seien aber laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im Vergleich mit ähnlichen Westkreisen »Erfolgsgeschichten«.
Es gibt sie, die blühenden Landschaften: Wo nach Besiedelungskriterien kaum noch oder keine Menschen mehr wohnen und arbeiten, grünt es. Besorgt der ganz normale Kapitalismus von allein. Launen spielen eine geringe Rolle.
Es gibt sie, die blühenden Landschaften: Wo nach Besiedelungskriterien kaum noch oder keine Menschen mehr wohnen und arbeiten, grünt es. Besorgt der ganz normale Kapitalismus von allein. Launen spielen eine geringe Rolle.
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