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Aus: Ausgabe vom 22.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Auf der Suche nach Heimat

Eine Veranstaltung im Club Voltaire in Frankfurt am Main widmete sich Leben und Werk der Schriftstellerin Anna Seghers anlässlich ihres 125. Geburtstags
Von Jürgen Reusch
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Anna Seghers (19.11.1900–1.6.1983)

Sie war Dichterin und Schriftstellerin mit Leib und Seele, Kommunistin, Antifaschistin, Jüdin. Und Zeit ihres Lebens war sie auch Migrantin, Geflüchtete: Anna Seghers, 1900 in Mainz geboren, 1983 in Ostberlin gestorben. Der Club Voltaire in Frankfurt am Main und mit ihm ein breites Bündnis hatten ihren 125. Geburtstag zum Anlass genommen für eine bewegende Veranstaltung im Haus am Dom, die – einfühlsam moderiert von Claus-Jürgen Göpfert – der Aktualität von Anna Seghers nachspürte. Von vielen ihrer Werke war an diesem Abend die Rede – so auch von ihrem berühmtesten Roman »Das siebte Kreuz«, 1938 in Paris begonnen, 1942 in Mexiko erschienen, die Geschichte des KZ-Häftlings Georg Heisler, dem als einzigem von sieben Geflüchteten die Flucht in die Freiheit gelingt, dank der Solidarität anderer Menschen. »Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet« – den Satz stellte Seghers damals dem Buch voran.

Flucht, Exil und die Aktualität des antifaschistischen Erbes im Werk von Anna Seghers waren auch das Thema dieses Abends. Dass er – vor völlig überfülltem Saal im Haus am Dom – überhaupt stattfand, war das Werk einer Handvoll Aktivisten wie Jürgen Hinzer aus eben jenem Club Voltaire, in dem Anna Seghers 1962 aus ihren Werken gelesen hatte. Daran erinnerte der Frankfurter DGB-Vorsitzende Philipp Jacks. Und auch damals geschah das zum Verdruss der konservativen Stadtgesellschaft und mit Polizeiwagen vor der Tür. Erst 1981, zwei Jahre vor ihrem Tod, rang sich die Stadt Mainz dazu durch, ihr die Ehrenbürgerschaft zu verleihen. Überhaupt, so unterstrich Helga Neumann vom Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin, sei Anna Seghers mit ihrem Werk in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik dort keineswegs freundlich aufgenommen worden.

1933 hatte sie mit ihrer Familie fliehen müssen, zuerst nach Paris, dann auf Umwegen 1941 nach Mexiko, wo sie willkommen war und bis 1947 blieb. Sie verlebte dort tatsächlich eine schöne Zeit, so beschrieb es Claudia Cabrera, aus Mexiko-Stadt angereiste Germanistin und Übersetzerin vieler Werke von Anna Seghers ins mexikanische Spanisch. Aber die Sehnsucht nach der Heimat sei immer da gewesen. In Mexiko fand sie Freunde, konnte erfolgreich arbeiten, errang weltweite Anerkennung. Aber sie war eben auch im Exil, sie war nicht in Mainz, nicht in Berlin, nicht in Deutschland, dem Land ihrer Sprache, die sie so wunderbar poetisch beherrschte.

Die dritte auf dem Podium, die Frankfurter Schauspielerin Bettina Kaminski, las aus Werken und Briefen von Anna Seghers, so auch aus einem 1946 aus dem Exil geschriebenen Brief an einen Mainzer Kommunalpolitiker, in dem sie ihre Sehnsucht nach der Stadt und dem Land ihrer Geburt ausdrückte.

Anna Seghers wusste, wie sich Flucht anfühlt. So geht es auch heute sehr, sehr vielen, sagte Claudia Cabrera, und nur selten werden sie so gut behandelt wie Anna Seghers in Mexiko. Bettina Kaminski las aus Seghers Roman »Transit« eine Szene, die das Elend derjenigen beschreibt, die fliehen müssen und einer gnadenlosen Bürokratie ausgeliefert sind, die die Verzweifelten auf das Visum und die Aufenthaltsgenehmigung warten lässt. Seghers’ Text hörte sich an wie eine aktuelle Reportage zum Thema Migration.

Die Antifaschistin Anna Seghers hatte sich für die DDR entschieden und blieb dort bis zu ihrem Tod. Wohl wissend, dass dort keine idyllischen Verhältnisse herrschten – ein Lieblingsthema hämischer westdeutscher Kommentare zu ihrer kommunistischen »Linientreue«. Idylle hatte sie auch nicht erwartet, unterstrich Helga Neumann. Sie habe aber darum gerungen, diese sich herausbildende neue Gesellschaft mit ihren zahlreichen Widersprüchen zu verstehen. Davon zeugt ihr 1959 im Berliner Aufbau-Verlag erschienener Roman »Die Entscheidung«. Im Deutschland auf der anderen Seite belegte Marcel Reich-Ranicki das Buch erwartungsgemäß mit dem literaturpäpstlichen Bann. Auch wenn sie aus Mainz stammte und man das ihrer Sprache immer anhören konnte – diese westdeutsche Republik mit ihrer Überheblichkeit, ihrem Antikommunismus, mit ihren nie aufgearbeiteten faschistischen Traditionen, mit ihrem völligen Mangel an einer klaren antifaschistischen Position konnte ihre Heimat nicht sein.

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