Das Prinzip Auflösung
Von Frank Schwarzberg
Was schön ist, ist auch wahr.« War es Heiner Müller, der das sagte? »How can beauty that is living be anything but true?« heißt die Frage dazu aus dem Lied »Incomprehensible«. Es eröffnet das neue Album der New Yorker Band Big Thief. Sängerin, Gitarristin und Songpoetin Adrianne Lenker bevorzugt die Offenheit der Frageform; sie ist die Suchende, die sich und alles in der Frage finden will, sich verliert, neu findet.
»Double Infinity« heißt der Songzyklus. Doppelt unendlich. In den Texten schwimmen mögliche Erklärungen wie Treibgut mal unter, mal an der Oberfläche. »Subconscious«, unterbewusst, ist das zentrale Wort in einem anderen Song, »Words« heißt er.
Lassen wir uns darauf ein, dem Unterbewusstsein zu vertrauen? Etwa dem Urgefühl, das sich am Meer einstellt? Für den Surfer gibt es gute und weniger gute Wellen, eine sehr gute ist eine Welt für sich, der Surfer erinnert sich jahrelang an sie. Er wählt aus, beim Surfen und in der Erinnerung daran.
Um im Bild zu bleiben: Die bisherigen Alben von Big Thief waren gespickt mit tollen Wellen, mit meisterlichen Songs. Sie lebten von den Höhepunkten. Ich erinnere mich: »Masterpiece« hieß gleich der erste auf dem gleichnamigen Debütalbum von 2016. Eine euphorische Mitsinghymne mit intelligenter, eingängiger Melodie und kristallklarem Folkrocksound. »Shark Smile« vom Nachfolger »Capacity« aus dem Jahr 2017 – Melodie und Groove, Adrianne Lenkers Stimme eigenwillig schön. »Orange« auf U. F. O. F. (2019), die Überballade. Das epische Songmanifest »Not« auf »Two Hands« aus demselben Jahr. Und schließlich »Change« vom 2022er Doppelalbum »Dragon New Warm Mountain I Believe in You«. Wie Lenker mit warmer Stimme und sanft gleitender Melodie von Wind, Wasser und Haut zu Liebe, Trennung, Leben und Tod überleitet, muss man gehört haben. Wie das bei dieser Band großer spinnerter Könner klingt, auch.
Auf dem neuen Album suche ich erst einmal vergeblich. Wo ist der neue Hammersong, oder, Plural, wo sind sie? Doch die Suche danach ist das Problem. Bei einer mittäglichen Dösestunde lasse ich das Album abermals laufen. Bin ich kurz eingeschlummert? Vielleicht, ich weiß es nicht. Zwischenreich des Halbschlafs. Und die neun Songs des Albums ziehen vorbei, wieder und wieder, auf Dauerschleife, umspülen mich, ich verliere mich darin und finde mich neu – »Subconscious«. Und kann nicht mehr genug davon kriegen.
Big Thief sind jetzt ein Trio. Ihr langjähriger Bassist Max Oleartchik ist nicht mehr dabei, offiziell aus zwischenmenschlichen Gründen, »interpersonal reasons«. So mussten sich Adrianne Lenker, Gitarrist Buck Meek und Drummer James Krivchenia neu orientieren. Wenn schon, dann richtig öffnen, sagten sie sich, und kollaborierten mit einer (für ihre Maßstäbe) Vielzahl von Musikern. Der 82jährige Ambient-Musiker Laraaji ist einer von ihnen. Mantraartig singt er auf dem Track »Grandmother«. So klingen Big Thief immer noch nach sich selbst und doch wie neu erfunden. Die Auflösung herkömmlicher Songstrukturen war schon vor diesem Album zunehmend bei ihnen angelegt. Hier ist sie Prinzip. »Double Infinity« ist das geschlossenste Album ihrer Karriere.
Big Thief wollten einen die Stücke verbindenden Drone, einen tiefen Grundton. Das Meeresrauschen. Die Songs sind repetitiv und zyklisch – die Wellen und die Gezeiten. Ebbe und Flut, die gebräuchlichen deutschen Wörter, sind für dieses Konzept unzureichend, beschreiben Zustände, Abgrenzungen voneinander. Im Englischen ist alles »tide«. The tide is in, the tide is out. »De tiden« sagt man im Plattdeutschen: die Zeit.
Sie ist unendlich. »They say everything lives and dies / But our love will live forever / Though today we said goodbye«, heißt es im Schlusssong »How Could I have Known«. Auch wir sind unendlich. Das unendliche Potential jedes einzelnen: schön und wahr, Zukunftsversprechen und utopische Urerinnerung. »Longing to go back again / To be someone I’ve never been« (»Double Infinity«).
Adrianne Lenker ist eine Songpoetin. Doch sie weiß auch, wann genug gesagt ist: »I’m happy with you / Why do I need to explain / myself? …«
Ich bin glücklich mit dieser Band und diesem Album. Genug gesagt.
Big Thief: »Double Infinity« (4AD/Beggars Group)
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