Moralische Pflicht
Von Hassan Al-Askari
Avi Shlaim zählt zu den sogenannten Neuen israelischen Historikern, die das offizielle Narrativ der Staatsgründung hinterfragen, insbesondere die Behauptung, dass Palästinenser freiwillig geflohen sind und nicht vertrieben wurden. Der in Bagdad geborene britisch-israelische Akademiker gehört zu den wenigen Israelis, die sich selbst als »arabische Juden« bezeichnen. In seinen 2023 erschienenen Memoiren schildert er seine Kindheit in Israel, als Arabisch als »Sprache des Feindes« galt und er als Iraker diskriminiert wurde. In seinem neuesten Buch, einer Sammlung von Essays über den Gazakrieg, kommt er zu demselben Schluss wie jüngst die UNO: Israel erfüllt vier der fünf Kriterien für einen Genozid. »Es ist ein Krieg gegen Kinder«, konstatierte er am Montag in Berlin bei der Vorstellung des nun auf deutsch vorliegenden Bandes. »20.000 Kinder wurden getötet, und 40.000 Kinder sind verwaist.« Für Shlaim sei klar gewesen, dass die israelische Regierung Genozid begeht, als sie Hunger als Waffe einsetzte.
Der Historiker hat auch keine Zweifel daran, dass es sich zudem um einen kulturellen Genozid handelt. 512 Schulen und alle zwölf Universitäten wurden zerbombt, was ihn als Akademiker besonders betroffen mache. Bomben seien auf Büchereien, Moscheen und Kulturzentren gefallen und auf alle anderen Einrichtungen, wo Menschen sich sammeln und eine kollektive Identität entfalten können. Deutliche Kritik äußerte er an dem vom US-Präsidenten vorgelegten 20-Punkte-Plan. »Trumps angeblicher Friedensplan ist klassischer Kolonialismus.« Trump selbst plane mit einem internationalen Komitee, dessen Mitglieder sein Schwiegersohn und Berater Jared Kushner und der ehemalige britische Premierminister Tony Blair sein sollen, Gaza zu verwalten. Blair hatte während seiner Amtszeit die US-Invasion des Irak unterstützt, Shlaims Heimat, aus der seine Eltern zwei Jahre nach Staatsgründung Israels ausgewandert waren.
Dem Plan aus dem Weißen Haus mangele es an Detail, so Shlaim. Trump wolle Frieden in die Region bringen, aber sein Plan fokussiere sich nur auf den Gazastreifen, was lediglich vier Prozent Palästinas ausmache. Die Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen Israels im Westjordanland werden im gesamten Plan nicht genannt. Palästinenser könnten keinen Kandidaten für die künftige Verwaltung wählen, der sie repräsentiert. Vorgesehen ist, dass »unpolitische« Palästinenser, erwählt durch die neue Behörde um Trump selbst, öffentliche Dienste leisten sollen. Shlaim befürchtet, dass sie wie die im Westjordanland regierende Fatah Fremdherrschaft unterliegen würden. »Sie sind inkompetent und korrupt. Ein Großteil ihres Budgets geht an Israel«, kritisiert er die von ihnen geführte Palästinensische Nationalbehörde.
»Ausländische Kräfte herrschen, und Palästinenser werden Sklaven, die zu gehorchen haben«, fasste er die Stoßrichtung des Plans zusammen. Sie erhielten keine Macht, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Dabei sieht der Historiker Parallelen zur Balfour-Deklaration von 1917. Auch damals ignorierten die britischen Besatzer den Willen der arabischen Mehrheit von 90 Prozent zugunsten zionistischer Bestrebungen.
Der Anfang des Plans beginne direkt mit der Deradikalisierung Gazas, aber Israel spüre keine Konsequenzen, betonte Shlaim. Im Gegenteil, Trump habe sich in der Knesset dafür ausgesprochen, Benjamin Netanjahu trotz seiner Anklagen wegen Korruption zu begnadigen. Auch den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs habe er sanktioniert, als dieser Haftbefehle wegen Kriegsverbrechen gegen Netanjahu erließ. »Der Support der USA ist bedingungslos. Israel muss keinen Preis zahlen, und so kommen sie mit Genozid, den die USA zahlen, davon«, fasste der emeritierte Professor für Internationale Beziehungen an der Oxford University die Beziehung der Verbündeten zusammen. Keiner der beiden Staaten soll Reparationen für die verheerende Zerstörung Gazas zahlen, statt dessen sollen die Golfstaaten für den Wiederaufbau aufkommen. 78 Prozent aller Gebäude wurden laut Satellitendaten von Unosat zerstört. »Als Jude ist es meine moralische Pflicht, für Palästinenser einzustehen«, beendete Shlaim seine Buchvorstellung.
Avi Shlaim: Genozid in Gaza. Israels langer Krieg gegen die Palästinenser, Melzer-Verlag, 400 Seiten, 24 Euro
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