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Aus: Naher Osten, Beilage der jW vom 15.05.2024
Palästina

Exodus aus dem Irak

Eine Lebensgeschichte in drei Welten: Die Flucht einer jüdisch-arabischen Familie nach Israel
Von Avi Shlaim
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Jüdische Iraker verlassen ihr Heimatland Richtung Israel

Avi Shlaim ist ein britisch-israelischer Historiker, der 1945 in Bagdad geboren wurde und bis zu seiner Emeritierung 2006 zuletzt in Oxford lehrte. Er zählt zu den israelischen »Neuen Historikern«, die das offizielle Geschichtsbild Israels immer wieder in Frage gestellt haben. In seinem vergangenes Jahr erschienenen Memoirenband »Three Worlds« (Drei Welten) schildert Shlaim, unter welchen Umständen die jüdischen Einwohner Iraks ihre Heimat verließen. Verbreitet ist die Vorstellung, dass sie dort nach antisemitisch motivierten Bombenattentaten nicht mehr sicher gewesen seien. Aber was, wenn diese von jüdischen Organisationen ausgingen, die so viele Auswanderer wie möglich nach Israel bringen wollten? Ein Auszug. (jW)

Eines Tages während eines Besuchs in Israel im Jahr 2017 stieß ich fast zufällig auf potentiell glaubwürdige Beweise dafür, dass der Mossad la-Alija Bet (die Einheit des Jischuw, die sich um die illegale Einwanderung nach Palästina kümmerte) und der zionistische Untergrund im Irak hinter den Bombenanschlägen von Bagdad steckten. Dies ermöglichte es mir, die Geschichte meiner Familie als Teil der viel größeren Geschichte des Exodus der jüdischen Gemeinschaft aus dem Irak zu sehen. Die Entscheidung, den Irak zu verlassen, war für uns wie für viele andere jüdische Familien auch außerordentlich schwierig. Wir hatten seit Generationen im Irak gelebt, wir waren tief im Land verwurzelt, wir waren gesellschaftlich gut integriert, das Geschäft meines Vaters florierte, und wir hatten nicht den Wunsch, unsere Identität, unsere Nationalität oder unseren Lebensstil zu ändern. Nach Israel zu gehen war ein Sprung ins Ungewisse, auf den wir völlig unvorbereitet waren.

Andererseits verschlechterte sich die politische Lage im Irak sehr schnell, und es war keine Besserung in Sicht. In mancher Hinsicht waren die Aussichten 1948/49 noch deprimierender als nach dem Farhud 1941. Der Farhud war ein einmaliges Ereignis, während die Verfolgungen jetzt länger andauerten und vielseitiger waren. 1941 war es der Mob, der sich gegen die Juden wandte, jetzt war es die Regierung.

In diesem Klima der Angst gingen mehrere tausend Juden das Risiko ein, den Irak illegal zu verlassen. Einige wurden vom zionistischen Untergrund ermutigt und unterstützt. 1942 begannen zionistische Emissäre aus Palästina in den Irak zu kommen, um Kontakte zu den Juden vor Ort zu knüpfen, sie Hebräisch zu lehren und die zionistische Botschaft zu verbreiten. Ihre weiteren Aufgaben bestanden darin, die illegale Flucht von Juden aus dem Irak über den Iran nach Palästina zu organisieren und die lokale Selbstverteidigung für den Fall eines weiteren Pogroms zu planen. Kleinwaffen wurden ins Land geschmuggelt und die einheimischen Rekruten im Umgang mit ihnen geschult. Die Untergrundorganisation hieß Hatenua oder »die Bewegung«, und ihr militärischer Flügel wurde Haschura oder »die Kolonne« genannt. Die meisten der Rekruten waren junge Juden aus armen Familien. Bei geheimen Treffen reichten sie eine Pistole und die jüdische Bibel von Hand zu Hand. Auf diese Weise schworen sie der Bewegung ihre Treue.

Die Zionisten hatten nicht den Wunsch, die Lebensbedingungen der Juden im Irak zu verbessern – sie wollten nur ihre Abreise beschleunigen. Das eigentliche Ziel bestand darin, die Rekruten auf die Alija, die Auswanderung nach Palästina, vorzubereiten, und da dies von den Behörden nicht erlaubt war, musste es im geheimen geschehen. Der Iran bot einen bequemen, wenn auch riskanten und gefährlichen Fluchtweg für die Juden, die den Irak verlassen wollten, sei es unter der Schirmherrschaft der Bewegung oder auf eigene Faust. Der Iran war nach der Türkei der zweite Staat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, der Israel als souveränen Staat anerkannte. Der iranische Schah stand in schlechtem Einvernehmen mit dem Irak, unterhielt aber enge verdeckte Beziehungen zu Israel. Daher wurde der Jewish Agency gestattet, ein Büro in Teheran zu eröffnen und ein Transitlager einzurichten, von dem aus Juden mit dem Flugzeug nach Israel gebracht werden konnten.

Zwei meiner Cousins, Avraham und Fouad Hamama, reisten heimlich über die Iran-Route nach Israel. (…) Avraham wurde 1928 in Bagdad geboren; er besuchte die Schamasch-Schule, ein jüdisches Gymnasium mit gutem akademischen Ruf, das von der Anglo-Jewish Association unterstützt wurde. Noch während seiner Schulzeit wurde Avraham vom zionistischen Untergrund rekrutiert und nach einer gründlichen Indoktrination in die Haschura, den militärischen Flügel, befördert. Seine Aufgabe war es, geeignete Verstecke für Waffen zu finden, sie zu warten, zu reparieren und bei Bedarf an die anderen Aktivisten zu verteilen. Die Ausbildung im Umgang mit den Waffen wurde von zionistischen Abgesandten an abgelegenen Orten außerhalb Bagdads durchgeführt. Avrahams Aufgabe war es, die Waffen aus verschiedenen Verstecken in der Stadt zu holen und sie nach dem Training wieder zurückzubringen. Ob er jemals Waffen in unserem Haus versteckt hat, ist eine interessante Frage, auf die ich keine Antwort habe.

Ein weibliches Mitglied der Bewegung, das von ihren Idealen ebenso begeistert war, war Tsipora. Mitglied eines Geheimbundes zu sein und mit Waffen umzugehen ist für einen jungen Mann sehr befreiend. Für eine junge jüdische Frau war es angesichts der konservativen gesellschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit sogar noch befreiender. Einer der Grundsätze der Bewegung war die völlige Gleichstellung von Frauen und Männern. Tsipora war selbst eine Aktivistin: Sie und Avraham arbeiteten als Team. Die beiden Teenager verliebten sich ineinander und heirateten später in Israel.

Fouad war zu jung, um zu verstehen, was vor sich ging, aber auch er war der Bewegung eine gewisse Hilfe. Wenn Avraham und seine Kollegen Waffen von einem geheimen Ort zum anderen transportierten, nahmen sie manchmal Fouad mit, um den Eindruck eines unschuldigen Familienausflugs zu erwecken. Im Herbst 1949 überquerten Avraham und andere Mitglieder seiner Gruppe angesichts der drohenden Verhaftung durch die Polizei illegal die Grenze und machten sich auf den Weg nach Teheran. Nach einem Jahr, in dem er den zionistischen Beamten im Transitlager geholfen hatte, arrangierten sie seine Flucht nach Israel. Die iranische Regierung hatte sich bereiterklärt, jeden irakischen Juden, der in ihr Hoheitsgebiet kam, als Flüchtling zu behandeln und seine Weiterreise nach Israel zu erleichtern. Bestechungsgelder in großem Umfang an hohe iranische Beamte sollen den Weg zu dieser Vereinbarung geebnet haben.

Im Oktober 1949 trat Fouad in die Fußstapfen seines Bruders, doch sein Exodus war, wie er mir 2019 in Israel erzählte, noch ereignisreicher. Er war erst zwölf Jahre alt, als er sich mit einem Führer der Bewegung und etwa zwanzig anderen Juden auf die gefährliche Reise nach Israel machte. Er war das einzige Kind. (…) Der Schmuggler brachte sie zur Grenze, wies sie auf einen Grenzposten hin und sagte ihnen, sie sollten die Reise zu Fuß fortsetzen. (…) Die Gruppe brauchte drei Monate, um von der Grenze nach Teheran zu gelangen. Die Reise war beschwerlich, und es war schwer, an Lebensmittel zu kommen. Es war ein bitterkalter Winter mit Regen und Schneestürmen. Sie reisten langsam, manchmal zu Fuß, manchmal auf Eseln, und übernachteten in armen Dörfern, wo das übliche Frühstück aus Fladenbroten und Datteln bestand. In Teheran kamen sie in das Transitlager der Jewish Agency.

Die Einrichtungen des Lagers waren ziemlich einfach, aber hier konnten sich die neu angekommenen Insassen wenigstens ausruhen und regelmäßig essen. Ein iranischer Beamter kam ins Lager, um den Papierkram zu erledigen, bevor er die notwendigen Ausreisegenehmigungen ausstellte. (…) Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, wurden die Juden in ein Flugzeug gesetzt, das sie zum Flughafen Lydda bei Tel Aviv brachte. Der Iran des Schahs spielte eine entscheidende Rolle bei der Erleichterung der illegalen Einwanderung irakischer Juden nach Israel.

Avi Shlaim: Three Worlds. Memoirs of an Arab-Jew. Oneworld Publications, London 2023

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