Deutschlands steinerner Flugzeugträger
Von Philip Tassev
Boris Pistorius ist auf »militärpolitischer Reise«. So verkündete es das Verteidigungsministerium in Berlin am Montag. Am Sonntag ist der SPD-Politiker in der isländischen Hauptstadt Reykjavik mit der Außenministerin des Inselstaates, Þorgerður Katrín Gunnarsdóttir, zusammengetroffen, um eine Absichtserklärung über eine »engere Militärkooperation« zu unterzeichnen. Da aber die 400.000-Einwohner-Insel keine Streitkräfte unterhält, besteht diese Kooperation im Kern darin, dass die isländische Regierung ihr Territorium für deutsche Truppenstationierungen zur Verfügung stellt. Deutsche Kriegsschiffe und Seeaufklärungsflugzeuge vom Typ »P-8 Poseidon« sollen die Insel künftig noch stärker als vorgeschobene Operationsbasis für Patrouillen entlang der NATO-»Nordflanke« nutzen.
Dabei wird sich die Bundeswehr in »bester Gesellschaft« befinden. Das US-Militär ist seit 1941 auf dem Flughafen Keflavík im äußersten Westen der Insel präsent – mit kurzen Unterbrechungen. Die militärischen Aktivitäten auf dem während des Kalten Krieges wichtigen Stützpunkt wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Stück für Stück verringert und 2006 schließlich offiziell eingestellt. Aber schon zehn Jahre später wurde die Basis wieder vollumfänglich in Betrieb genommen, Flugzeuge zur Fernaufklärung und U‑Boot-Jagd wurden hier stationiert. Auch nuklear bestückbare B2-Tarnkappenbomber nutzten Keflavík schon für längere Zwischenaufenthalte.
Die offizielle Begründung für das wiedererwachte Interesse der NATO am hohen Norden: natürlich die angebliche russische Bedrohung. Auch Pistorius rechtfertigte die geplante deutsche Präsenz mit Moskaus »ungezügelten imperialen Ambitionen«: Russland militarisiere die Arktis durch Wiederinbetriebnahme von alten sowjetischen Basen. Zudem sei die russische »Schattenflotte« eine Gefahr für die »maritime Infrastruktur«. Welche Bedrohung genau von russischen Tankern im Atlantik ausgehen soll, erläuterte der Minister nicht. Dafür äußerte er sich bemerkenswert offen über die Bedeutung sicherer Handelswege für die deutsche Wirtschaft. In seinem in englischer Sprache vorgetragenen Statement wies er darauf hin, dass »die zivilen und militärischen Kommunikationswege über den Nordatlantik« von »lebenswichtiger Bedeutung für unsere Wirtschaft und unser Verteidigungsbündnis mit Kanada und den Vereinigten Staaten« seien. Die BRD als »exportorientierte Nation« sei »stark vom freien Handel entlang sicherer Seeverbindungen abhängig«. Vergleichbare Aussagen kosteten Horst Köhler 2010 noch das Amt des Bundespräsidenten.
Die zentrale strategische Bedeutung Islands ergibt sich aus der geographischen Lage. Russische U-Boote würden die Gewässer um die Insel herum als »Eintrittspunkt in den Atlantik« nutzen, so Pistorius. Was der Verteidigungsminister in vorwurfsvollem Ton Richtung Moskau äußerte, entpuppt sich beim Blick auf die Karte als einzige mögliche Option der russischen Seestreitkräfte, im Falle eines Krieges gegen die NATO etwas Handlungsspielraum zu gewinnen. Die Flotten in der Ostsee und im Schwarzen Meer wären gefangen, könnten höchstens eine eingeschränkte defensive Rolle spielen. Nur die in Murmansk stationierte Nordmeerflotte wäre theoretisch in der Lage, die von Pistorius angesprochenen Kommunikationswege im Atlantik zu stören, müsste dafür allerdings die sogenannte GIUK-Lücke durchqueren. So bezeichnen die Strategen der transatlantischen Kriegsallianz das Seegebiet zwischen Grönland und Großbritannien, etwa auf halber Strecke unterbrochen vom »steinernen Flugzeugträger« Island. GIUK steht dabei für Greenland, Iceland, United Kingdom.
Vor fast genau einem Jahr schloss Pistorius das sogenannte »Trinity House Agreement« mit seinem britischen Amtskollegen John Healey. Es sieht unter anderem die Stationierung von deutschen Flugzeugen in Schottland vor, auf der anderen Seite der GIUK-Lücke. Mit dem Abkommen, das er nun in Reykjavik unterzeichnet hat, zieht die NATO ihre Schlinge um den Hals der russischen Marine noch ein wenig fester.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Gely Korzhev/Tretjakow-Galerie12.09.2025
Zwischen Tradition und Moderne
- IMAGO/NurPhoto21.08.2025
»Ukraine über alles!«
- Marina Takimoto/ZUMA Wire/IMAGO05.04.2023
Sich ehrlich gemacht
Mehr aus: Inland
-
»Das bedeutet systematische Folter«
vom 21.10.2025 -
Auf die Straße gesetzt
vom 21.10.2025 -
Merz nimmt nichts zurück
vom 21.10.2025 -
Konjunktur im Leerlauf
vom 21.10.2025 -
Wohlfeile Regierungskurs-Kritik
vom 21.10.2025 -
»Gesundheit ist immer auch eine Machtfrage«
vom 21.10.2025