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Aus: Ausgabe vom 12.09.2025, Seite 12 / Thema
Kunstgeschichte

Zwischen Tradition und Moderne

500 Jahre russische Kunst. Zur Eröffnung der Tretjakow-Galerie in Kaliningrad. Ein Besuch
Von Iris Berndt
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Geliy Korschew: »Jegorka, der Flieger« (200 x 280 cm, 1976–1980)

Die beiden Angriffe der britischen Royal Air Force auf Königsberg waren kurz: Zehn Minuten in der Nacht zum 28. August, eine Stunde in der Nacht zum 30. August 1944. Aber die Mischung aus Brand- und Sprengbomben, die zuerst 1943 beim Angriff auf Hamburg erprobt worden war, erwies sich als sehr effektiv. Ein Feuersturm brach los. Mehr als 5.000 Menschen starben, bis zu einer viertel Million irrten traumatisiert und obdachlos herum. »Kein Museum war der Zerstörung entgangen, die köstlichen, von dem Museumsdirektor Anderson, so liebevoll gesammelten Schätze des Stadtgeschichtlichen Museums, mit all den Kant-Andenken in den vier Kant-Zimmern, lagen unter den Trümmern des edlen Barockbaus des Kneiphöfischen Rathauses, die Städtische Galerie im Schloss war in Flammen aufgegangen. Auch Staats- und Stadtbibliothek mit ihren großartigen Erstdrucken und Raritäten waren restlos vernichtet«.¹ Die Briten waren vor allem stolz auf die lange Strecke, die ihre Bomber auch über das neutrale Schweden hinweg zurückgelegt hatten und dass sie nun an der Grenze zur Sowjetunion ihre militärischen Fähigkeiten demonstrieren konnten. 1938 hatte der Völkerbund noch die neuartigen Luftkriege gegen Zivilisten kritisiert, auch der britische Vertreter hatte der Kritik zugestimmt. Auch weil ihre Bomber noch nicht so weit reichten. Aber nun wollten sie zeigen, was sie können.

Die 700 Jahre alte, größte deutsche Stadt im Osten mit 400jähriger Universitätsgeschichte, Krönungsort preußischer Könige, großen Söhnen und Töchtern wie Simon Dach, Käthe Kollwitz, Hannah Arendt und natürlich Immanuel Kant, der sie »einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis« nannte – gerade sie wurde 1944 ausgewählt für dieses tödliche Experiment. Weil sie, umgeben vom nördlichen Ostpreußen, frühem Kernland der Reformation, gemäß den Verabredungen der Konferenz von Teheran als Faustpfand des absehbaren sowjetischen Sieges als zur Sowjetunion gehörig galt. Sie sollte den Russen nicht heil in die Hände fallen; die kriegswichtige Anlagen seit Kriegsbeginn ebenfalls bombardiert hatten.

Kurz waren dann die Kämpfe um Königsberg zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht im Frühjahr 1945. Hitler hatte die Stadt zur Festung erklären lassen. Mehr als 100.000 Menschen in ihr waren Geiseln. Der Wehrmachtsgeneral Otto Lasch aber hatte von seinem Bunker aus auf dem Paradeplatz (heute Museum) eigenmächtig bereits am 9. April 1945 kapituliert. Dafür wurde er in Abwesenheit von Hitler zum Tode verurteilt. Er kam, wie über 100.000 deutsche Soldaten und Offiziere, in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1955 nach Deutschland zurückkehrte.

»Ostpreußen mit seiner Hauptstadt Königsberg ist untergegangen.« Das meinten alte Ostpreußen, die noch in den 1990er und 2000er Jahren zahlreich als Wehmutstouristen in ihre Heimat an Pregel und Memel in diesen Zipfel zwischen Polen und Litauen fuhren. Ihr Blick war ein wehmütiger, weil er zurück auf verlorene Heimat gerichtet war und die eigene Befindlichkeit spiegelte: Diese Geschichte von Flucht und Vertreibung einer halben Million Menschen aus Ostpreußen vor allem im Winter 1944/1945 unter teilweise abenteuerlichen Umständen ist immer wieder erzählt worden.

Weniger häufig wird die andere Seite der Geschichte erzählt. Dass die Evakuierung vor der nahenden Roten Armee wegen der deutschen Propaganda zu kurz und schlecht vorbereitet war. Dass die heil- und planlose Flucht, die vielen in Eis und Schnee den Tod brachte, befeuert wurde nicht nur durch Greueltaten, sondern auch Greuelmärchen über die Rote Armee – als Resultat der antisowjetischen Kriegspropaganda.

Besucherhotspot

Aus dem Kaliningrader Gebiet wurden die letzten Deutschen 1947 ausgewiesen. Die neuen Bewohner kamen aus allen Teilen der Sowjetunion, aus der Ukraine und Belorussland, vom Ural oder von der unteren Wolga und dem Don. Sie hatten dort meist ihre Familie und ihre Heimat verloren, denn unter den Opfern des von Deutschland ab 1941 entfesselten Krieges gegen die Sowjetunion, der 27 Millionen Menschen das Leben kostete, waren allein 20 Millionen Zivilisten. Außerdem blieb mancher Soldat der Roten Armee gleich hier und begann in den verlassenen deutschen Häusern im Kaliningrader Gebiet ein neues ziviles Leben. Die heutigen Bewohner des Kaliningrader Gebiets, etwa eine Million Menschen, sind Nachfahren der damaligen Neuankömmlinge.

Die Stadt und die gleichnamige Oblast sind seit 2022 ein vielbesuchtes Ziel der aus allen Teilen Russlands kommenden einheimischen Touristen, denn diese dürfen wegen der westlichen Sanktionen nicht mehr nach Europa reisen. Im Jahr 2024 verzeichnete die Oblast einen neuen Rekord mit zwei Millionen Besuchern. Die Touristen schätzen besonders die europäische Anmutung, ob nun in Kaliningrad oder den kleineren Städten und den Kurorten an der Ostseeküste. Hier gibt es Vorgärten, Blumen auf Balkonen, alte Alleen an einsamen Landstraßen, altes Straßenpflaster und alte deutsche Häuser aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Übrigens auch Ruinen von Deutschordensburgen, Reste mittelalterlicher Kirchenbauten und moderne Bauhaus-Architektur, beispielsweise von Hanns Hopp, der als Schüler von Theodor Fischer in Stuttgart in die moderne Architektur eingeführt wurde und nach dem Krieg in der DDR eine gemäßigte Nachkriegsmoderne vertrat. Das alles verbindet sich mit russischem Komfort. Ein Mangel ist nirgendwo festzustellen, höchstens an Arbeitskräften, vor allem an Handwerkern. Wohngebiete wachsen am Stadtrand, geworben wird mit dem Slogan: »Hier entsteht das russische Europa.«

Auch an historischen Bauten orientierte Neuschöpfungen sind entstanden. Frei assoziiert (wie an der Alten Lastadie) oder nach historischen Postkarten (am Schlossteich). Eine junge Generation nimmt dieses besondere Charakteristikum als Teil ihrer Heimat, ein vielfältiges Engagement ist entstanden. Allein 5.000 Nutzer verfolgen den Telegram-Kanal der »Ruinen-Keeper«, und jedes Wochenende sind viele von ihnen unterwegs, um verfallende Mittelaltersubstanz aus deutscher Zeit zu sichern.

Zum vielfältigen Aufschwung Kaliningrads gehören neben den staatlichen auch private Museumsgründungen wie etwa eines zu ostpreußischer Kunst in einer erhaltenen Villa im ehemaligen Stadtteil Amalienau oder Spezialsammlungen in Gebäuden des gut erhaltenen Befestigungsringes mit Wällen, Bastionen und Gräben.

Neuer Standort am Pregel

Diese Vorgeschichte musste erzählt werden, um eine Nachricht einordnen zu können, die mir mit großer Freude aus Kaliningrad übermittelt wurde: Am 12. Juni 2025 eröffnete in der Stadt eine Filiale der berühmten Moskauer Tretjakow-Galerie, dem größten Museum für russische Kunst. Der Bau war schon seit dem vorigen Jahr fertiggestellt, die Eröffnung war mit Spannung erwartet worden. Das neue Museum wird als Bereicherung, nicht als Konkurrenz empfunden.

Der neue Museumsstandort im Südosten der Stadt ist mit Bedacht gewählt. Dort war schon zur Fußballweltmeisterschaft 2018 das große Stadion eröffnet worden, dort ist die kühne Architektur der zukünftigen Filiale des Moskauer Bolschoi-Theaters im Bau und soll im kommenden Jahr eröffnet werden, ebenso wie eine Schauspiel- und Ballettschule. Das Wiesengelände, das die unweit am Weidendamm geborene Käthe Kollwitz als Kind erkundete, war ein verlassenes und häufig überflutetes Areal auf einer Insel im Pregel von besonderem Reiz, momentan noch mit einer Umgebung aus Gräsern und Ruderalpflanzen, in der Ferne grüßt die sowjetische Wohnbebauung. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ähnlich wie bei der Gründung von Sankt Petersburg 1703 inmitten eines Sumpfgebietes auch hier eine besonders große Schwierigkeit mit all ihren technischen Tücken zu überwinden ist.

Der neue Komplex ist fußläufig über den Weidendamm mit seiner Flaniermeile am alten Pregel erreichbar. Vorbei an der 2005 wiedererrichteten Kaiserbrücke (heute: Jubiläumsbrücke), die damals der russische Präsident Wladimir Putin und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder aus Anlass des 750. Stadtjubiläums einweihten. Am Ufer des Pregel laden Motorboote zu Rundfahrten ein, um die Kantinsel herum, auf der heute nur noch der aus den Ruinen nach 1990 wiederauferstandene Dom mit dem Kant-Gedächtnismal erhalten sind. Im Dom befindet sich die wohl schönste Orgel Russlands, ein Werk der Potsdamer Orgelbaufirma Schuke.

Vom Südbahnhof der Stadt, er blieb beim britischen Bombardement 1944 verschont, kann auch ein deutscher Besucher nach Ankunft mit dem Bus aus Gdańsk, der mehrmals täglich verkehrt, auf altem deutschen Kopfsteinpflaster mit der Straßenbahn Nummer drei in 15 Minuten gemächlicher Zuckelfahrt in die Sichtweite des neuen Komplexes fahren.

Das architektonische Vorbild für die Neue Tretjakowka in Kaliningrad ist ganz zweifelsfrei das Moskauer Haus der Künstler, das Gebäude der Neuen Tretjakowka am Ufer der Moskwa gegenüber vom Gorki-Park. Ein breitgelagerter Kubus, der durch den kleinen, gläsernen Unterbau freischwebend wirkt und hier in Kaliningrad durch einen gläsernen Viereckturm akzentuiert wird.

Die Moskauer Tretjakowka mit einer Sammlung von über 140.000 Objekten, darunter allein mehr als 14.000 Gemälde, verfügt über einen so großen Fundus, dass schon dieser nach der Errichtung von Zweigstellen ruft. Wobei zu Sowjetzeiten die Hauptstadtmuseen in den Sowjetrepubliken in den Genuss von Moskauer Leihgaben kamen, die Sache also eine gewisse Tradition hat. Auch Guggenheim lässt grüßen. Es gibt bereits mehrere Filialen, und 2018, im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Russland, erging der Beschluss über vier weitere für Wladiwostok, Kasan in Zentralrussland (bereits eröffnet), Sewastopol und eben Kaliningrad.

Die Kaliningrader Filiale der Tretjakowka gibt der Geschichte dieses größten Museums für russische Kunst einen eigenen Ausstellungsbereich mit zahlreichen Reproduktionen von Fotos und Dokumenten, Audiostationen und inszenierten Ausstellungselementen. Dabei spart die Geschichtsausstellung auch die politischen Wechsel nicht aus, etwa die Zerstörung von Klöstern zu Sowjetzeiten und die gezielte Bewahrung einiger wichtiger Ikonen durch Mitarbeiter der Tretjakowka. Der Eintritt zur Geschichtsausstellung ist mit 200 Rubeln (2,50 Euro), der zur Kunstausstellung mit 500 Rubeln (5,80 Euro) für jedermann erschwinglich. Ein russischsprachiges Begleitbuch zu den Eröffnungsausstellungen (344 S., 30 Euro, schon 2024 fertiggestellt) erleichtert die Vor- und Nachbereitung.

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Die neue Tretjakow-Galerie in Kaliningrad

Konzentrierter Überblick

Etwa 300 Werke präsentiert die Ausstellung »Fünf Jahrhunderte russischer Kunst«. Eine vergleichbar konzentrierte Darstellung deutscher Kunst vom 15. bis zum 20. Jahrhundert fällt der Autorin nicht ein. Keine Zeit für Selbstreflexion in Krisenzeiten? Gerade in dieser Konzentration liegt ein wichtiger Reiz der Kaliningrader Schau, die zunächst bis Mitte Januar 2026 anvisiert ist.

Die Weite des Hauses, das kostenfrei betreten werden kann, und ein Café und zahlreiche Veranstaltungsangebote umfasst, steht in Kontrast zu einer gewissen Enge in den eigentlichen Ausstellungsräumen: Nur 4.500 der 17.500 Qua­dratmeter sind Ausstellungsfläche. Es geht also nicht ums Flanieren vor der Kunst. Die teilweise großen Formate in den Räumen fordern und steigern die Intensität der Auseinandersetzung. Mein subjektiver Blick ist vor allem auf den künstlerischen Austausch mit Europa gerichtet, der ganz selbstverständlich thematisiert wird. Und auf das Eigenständige und Besondere der russischen Kunst.

Eine Auswahl von Ikonen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert bildet den Anfang, das erste Stück ist das Motiv des heiligen Georgs zu Pferde als Drachentöter, das auch an der Fassade der Moskauer Tretjakowka im altrussischen Stil von 1906 zu finden ist – schon weil Georg auch der Patron der russischen Hauptstadt ist. Kursorisch wird die Malerei der Zeit Zar Peters (1672–1725) erzählt, die ebenso wie die folgenden zwei Jahrhunderte von ausländischen Einflüssen geprägt ist.

Die Porträtkunst bleibt eine Hauptaufgabe. Es ist schön, dass die Ausstellung daraus ein bis zum Ende durchgehaltenes Prinzip entwickelt, die Malerei durch plastische Porträts anzureichern und so Blick- und historische Beziehungen zu vertiefen. Gehängt ist etwa ein typisches Beispiel des britischen Porträtmalers Georges Dowe (1781–1829), der ein Jahrzehnt vielbeschäftigt in Sankt Petersburg wirkte. Ebenso ist der aus Sachsen stammende Carl Christian Vogel von Vogelstein (1788–1868) mit dem ganzfigurigen Porträt des Grafen Wladimir Orlow aus dem Jahr 1812 vertreten. Von Vogelstein konnte sich mit dem Verdienst einiger Jahre in Estland und in Sankt Petersburg den langersehnten Wunsch einer Reise nach Italien erfüllen. Diese Reisesehnsucht in den Süden bestimmte auch die Landschaftskunst. Die Feinheit der Ölstudie von Alexander Iwanow (1806–1858) aus dem Park der Villa Chigi in Rom bezauberte unter diesen besonders. Mit dem Maßstab der klassizistischen Kunst wurden die eigenen Landschaften im Kaukasus, im Süden oder im Norden entdeckt.

Nahezu unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit hatte übrigens Anfang des Jahres eine Ausstellung zum 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs (siehe jW-Thema vom 15.4.2025) auch seinen Einfluss auf die Entwicklung einer eigenständigen russischen Landschaftskunst erstmals umfangreich gezeigt und erzählt, wie die Romantik nach Russland kam. Ein Maler wie der erst 1841 geborene Archip Kuindschi (gestorben 1910) wirkt mit seiner streng symmetrischen Darjalsschlucht in einem grünlich fluoreszierenden Mondschein wie ein später Nachfahre Caspar David Friedrichs. Und ist doch stark durch den berühmten Iwan Aiwasowski (1817–1900) beeinflusst, von dem ein Sturmbild der mittleren Zeit die Besucher anzieht. Vielleicht sind aber auch die Begrifflichkeiten von Romantik und Realismus ganz unzureichend und den Blick für das Besondere versperrende Schubladen. Gerade das Beispiel Kuindschis, der doch zugleich zu den Peredwischniki (Wanderer) gehörte, zeigt das. Die Wanderer-Bewegung grenzt sich schon zeitiger als die deutschen Secessionen von der Akademie ab, hat einen scharfen Blick für das Soziale, auch durch den Einfluss der zeitgenössischen Literatur, aber auch für das Landschaftliche, die Volkskunst und die Traditionen.

Der besondere Humor, mit dem Menschen vom Lande an der Schranke erstmals eine vorbeifahrende Eisenbahn bestaunen (Wassili Perow, 1868), oder mit dem ein kleiner Beamter mit hochgekrempelten Hosen im Wasser an seiner Angel nestelt, im Hintergrund eine Industriesilhouette (Illa­rion Prjanischnikow, 1882) deuten an, was alles zu entdecken ist – neben Ilja Repin (1844–1930), Iwan Schischkin (1832–1898), Iwan Kramskoi (1837–1887), Isaak Lewitan (1860–1900), Konstantin Makowski (1839–1915) oder Walentin Serow (1865–1911), die selbstverständlich vertreten sind; Serow mit dem ausdrucksvollen Porträt des Komponisten und Publizisten Pawel Blaramberg von 1888, das zuletzt 2021 im Palais Barberini in Potsdam zu bewundern war. Gerade dieser Wanderer-Bewegung ist viel Platz in Kaliningrad eingeräumt, sie bildet einen ersten Höhepunkt.

So richtig in Fahrt kommt die Entdeckungstour jedoch im 20. Jahrhundert. Es beginnt mit einem schmalen Ausstellungsteil, der dem Einfluss der Pariser Kunst und insbesondere Paul Cézannes (1839–1906) gewidmet ist. In dieser Kunst spaltet sich ein Gegenstand selbst in mehrere Sichtweisen auf. Benachbart hängen einzelne Beispiele des abstrakten Aufbruchs in den 1920er Jahren, etwa Pawel Filonow (1883–1941) mit einer seiner analytischen Kompositionen oder eine der vier von dem geschäftstüchtigen Kasimir Maljewitsch (1879–1935) geschaffenen Varianten seines »Schwarzen Quadrats auf weißem Grund« von 1915 (1929).

Grundsätzlich gilt für die Ausstellung zum 20. Jahrhundert und die sowjetische Kunst das Nebeneinander von Traditionen bis hin zur Ikonenmalerei und Moderne mit großer Selbstverständlichkeit, ältere noch der Wanderer-Prägung neben jüngeren. Hier sind eindrucksvolle Beispiele vertreten, darunter Boris Jakovlew (1890–1972) mit seinem berühmten »Der Transport ist beladen« von 1923. Der Dunst des Tages und der Dampf der Lokomotiven vermitteln durch die Lineatur der Gleise und ihrer Weichen eine mitreißende Aufbruchstimmung. Das Gemälde war in Schulbüchern der DDR abgebildet.

Die Weite und Vielfalt des Landes und seiner Völker sollte unbedingt deutlich werden, wie die Ausstellungsmacher betonen: Partisanen aus dem Altai in Porträtbüsten von Wera Muchina (1889–1953) oder Gemälde mit Darstellungen von Siedlungen der Komi seien hier als Beispiele genannt.

Die größte Wunde

Vor allem aber gibt es zur größten Wunde der jüngeren Geschichte Russlands, den 27 Millionen Opfern, nachdrückliche Stellungnahmen. Darunter sind Bilder, die im Gedächtnis bleiben: Das Grauen kriecht in den Betrachter der ekstatischen Gesten der Frauen in schwarzer Nacht bei Michail Sawitzkis (1922–2010) »Mörder der Partisanenfamilie« von 1971. Die Sinnfrage stellt Anatoli Nikich (1918–1994) in seinem Gemälde »Kriegskorrespondenten« von 1969, von denen einer die Kamera gesenkt hat und den Blick von dem grausigen Morden abwendet. Ganz zentral in diesem Raum ein traditionell gemaltes monumentales Gemälde »Jegorka, der Flieger« von Geliy Korschew (1925–2012). Es zeigt, abgestürzt liegend, einen jungen Bauern mit Fußlappen und Bastschuhen, die aus Holz und Leinen gebastelten Flügel mit Flicken gehalten (1976–1980). Es erzählt von den Bedingungen, unter welchen in diesem Land die größten menschlichen und technischen Innovationen gewagt wurden.

Glücklicherweise gibt es auch hier den russischen Humor, und die Nachkriegsgeneration kommt ausführlich zu Wort. So Sergej Scherstjuk (1951–1998) mit seinen beiden Bildern »Vater und ich« von 1983. Links wie nach einer Fotografie der Vater in Uniform als frontales Kniestück, rechts der Maler selbst in gleicher Haltung, fragend, sensibel, übermüdet. Die Heldenschuhe sind mitunter zu groß. Nicht nur die schönen von Käthe Kollwitz beschwärmten ostpreußischen Wolken meinte wohl Erik Bulatow (geb. 1933) mit »Die Bewölkung wächst« von 2007. Das letzte Bild der Ausstellung von Iwan Tschuikov (1935–2020) ist eine Collage, aus vier Platten zusammengesetzt und wieder monumental. Der Titel »Das Meer« mag vom riesigen blauen Farbfleck in der Mitte inspiriert sein. Eine Steckdose und ein Pinsel finden sich inmitten der blauen Fläche, blau wie diese. Die Arbeit kann also weitergehen.

Es kann hier nur ein erster Eindruck für die deutschsprachige Leserin und den Leser vermittelt werden. Mögen diese kommen und sehen. Und vielleicht ebenso wie die Rezensentin Einsicht in das Unvollkommene unserer eigenen Maßstäbe zu Russland gewinnen, aber mit der Lust zur Wiederkehr – auch um die weitere Entwicklung im Kaliningrader Gebiet zu verfolgen.

Nicht einmal 60 Kilometer sind es von Kaliningrad zur polnischen Grenze, etwa 100 bis nach Litauen – beides NATO-Mitglieder. Ist die Ausstellung auch als russischer Kommentar zu lesen zu dem Poker der NATO-Militärs, die um die Folgen für Europa wissen und doch dort nur wenige Kilometer weiter den Ernstfall proben? Stolz ist der NATO-General für Europa, Chris Donahue, noch von Joe Biden 2024 ins Amt gehoben, auf die Verkürzung der Angriffsplanung von Tagen auf einige Stunden. Am 16. Juli 2025 sagte er auf der »Landeuro«-Konferenz in Wiesbaden, im deutschen NATO-Hauptquartier: »Wir können Kaliningrad vom Boden aus in einer Zeit eliminieren, die beispiellos ist.«

Anmerkung

1 Der Königsberger Arzt und Heimatforscher Herbert M. Mühlpfordt, zit. n. Gerfried Horst: Die Zerstörung Königsbergs. Eine Streitschrift. Berlin 2014, S. 189 f.

Iris Berndt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. April 2025 über David Caspar Friedrich in der Petersburger Eremitage: »Russlands Hilfe«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Lothar S. aus Berlin (14. September 2025 um 12:52 Uhr)
    Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Geliy Korschew (Гелий Михайлович Коржев) nicht kannte. Das Bild und eine kurze Suche im Netz zeigen, dass sein Werk wie sein Leben eine ausführliche Darstellung verdienten …
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Toralf Alexander H. aus Berlin-Tegel (12. September 2025 um 20:04 Uhr)
    Ich kann dem nur zustimmen und würde mich am liebsten auf den Weg machen! Danke für diesen klaren offenen Blick in die Welt (der Kunst).
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (12. September 2025 um 10:32 Uhr)
    Was für ein schöner Text, ich möchte gleich hinfahren … mich beeindruckte schon zu sowjetischer Zeit die Ernsthaftigkeit vieler Menschen und Institutionen, sich zur Vergangenheit, zum Heute und der Zukunft zu verhalten. Und das tiefe Verständnis für das geistige und materielle Erbe sowie der Drang, dies der Öffentlichkeit nutzbar zu machen, unter Ausnutzung aller künstlerischen Formen und gegen manche Widerstände. Russland setzt so ein sowjetisches Erbe erfolgreich fort. Gleichwertiges in Dtl. finden zu wollen, ist aussichtslos … geistige und künstlerische Abstinenz, abnorme Arroganz und schlicht Impotenz allerorten. Manche Museen und Ausstellungen ergehen sich hierzulande in einer Infantilität und Unterkomplexität, die sprachlos macht. Solch eine Unterforderung der Besucher wäre zu DDR-Zeiten unmöglich gewesen (sowohl von kuratorischer- als auch von der Besucherseite aus).

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