Zeitenwende in Sandbostel
Von Niki Uhlmann
Leningrad hielt 872 Tage der Wehrmacht stand. »Niemand ist vergessen, und nichts ist vergessen!« lautet das Diktum der Überlebenden, seit die Blockade am 27. Januar 1944 durch eine Offensive der Roten Armee gebrochen wurde. Erinnern werden sich daran heute nur wenige, ist die BRD doch darum bemüht, das sozialistische Erbe samt der Verdienste sowjetischer Kämpfer aus der kollektiven Erinnerung zu tilgen. Dem Vergessen entgegenzuwirken, planten die Gedenkstätte Lager Sandbostel und der Verein Deutsch-Russische Friedenstage Bremen die Sonderausstellung »Blockade Leningrads 1941–1944«. Nur wurde man sich in der Bewertung gegenwärtiger Konflikte nicht einig, so dass die Ausstellung gleich nach ihrer Vernissage am 8. September umgehend beendet wurde.
Der Vereinsvorsitzende Wolfgang Müller habe in seiner Eröffnungsrede »Positionen zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine« eingenommen, »die in keiner Weise mit den Positionen der Gedenkstätte und der Stiftung Lager Sandbostel übereinstimmen«, teilte die Gedenkstätte vergangenen Mittwoch mit. Ferner seien ebenso unvertretbare »Vergleiche und Analogien gezogen« worden. Ohne den Dissens näher zu erläutern, ging man zu einem Vorwurf über, der sich dieser Tage großer Beliebtheit erfreut: »Wir dachten, eine Ausstellung zur Leningrad-Blockade zu zeigen, nicht einen Krieg zu rechtfertigen.« Da der Dissens mittels Diskussionen nicht zu lösen gewesen sei, habe man »schweren Herzens beschlossen, die Präsentation der Ausstellung in Sandbostel zu beenden«. So weit, so gecancelt, so unklar.
In einer vorläufigen Stellungnahme des Vereins, die der jungen Welt am Dienstag vorlag, ist allerdings zu lesen, dass Wolfgang Müller sich zum Ukraine-Konflikt überhaupt nicht geäußert habe. Tatsächlich ist seiner Rede keine Rechtfertigung oder gar Verherrlichung zu entnehmen. Angeschnitten werden allerdings die »NATO-Osterweiterung«, die »Staatsräson« und die Parallelen zur Hungerblockade Gazas – Standpunkte also, die die Doppelzüngigkeit der deutschen Außenpolitik thematisieren. »Conclusio: Wer die heutigen Vorgänge in der Welt verstehen will, der muss sich mit der Geschichte auseinandersetzen – und er muss über Empathie verfügen und versuchen, die Dinge auch immer mit den Augen des Gegners zu sehen.« Selbst das »Angebot zur Lösung des Konfliktes, als Veranstalter zurückzutreten, damit die Ausstellung weiter gezeigt werden kann«, sei abgelehnt worden, heißt es weiter in der Stellungnahme.
Grotesk ist schließlich, dass die Gedenkstätte auf dem Boden des Kriegsgefangenenlagers »Stalag X B Sandbostel«, das mehr als 313.000 Gefangene von innen sehen mussten, jetzt eine Veranstaltung plant, die sich nahtlos in die russophobe Propaganda des deutschen Militarismus einpasst: »Zeitnah planen wir nun eine Veranstaltung, die sich mit der Instrumentalisierung von Erinnerung in Russland befasst, unter anderem des Gedenkens an die Hungerblockade Leningrads.« So wird die ideologische Grundlage geschaffen, bei den folgenden Ausstellungen praktische Tipps und Tricks zu vermitteln, die junge Soldaten bei ihrem Sturm auf St. Petersburg kennen müssen.
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