Leserbrief zum Artikel Die Linke: Politik der Vereinfachung
vom 08.04.2019:
Weltfremde Haltungen
Gratulation, Herr Mellenthin, zu Ihrem großen Wagenknecht-AfD-Framing auf den Thema-Seiten. Wenig überraschend zwar, aber Ihre Vehemenz beeindruckt stets aufs Neue. Da haben Sie die Politik von Frau Wagenknecht gekonnt vereinfacht. Die damit verbundenen Problematiken wurden in Leserbriefen schon vielschichtig analysiert, auch dass die Linke mit medialer Schützenhilfe eine kluge integere Systemkritikerin ins Abseits drängt. Dass jene US-Amerikaner Trump gewählt hätten, die sich Sorgen um die globale Macht der USA machen würden, erschließt sich mir nicht. War Clinton nicht die einflussreichere und hegemonial »ambitioniertere« Kandidatin? Mir war, als wären Bücher darüber geschrieben worden. Und dass die »Abgehängten« vor allem für Clinton gestimmt hätten, das müssen Sie nochmal erläutern. Womöglich haben wir unterschiedliche Vorstellungen vom »Abgehängtsein«. Statistisch nicht repräsentativ, aber sozialpsychologisch wertvoll hierzu die Doku »Der Staatsstreich der Konzerne« auf Arte (ab Minute 55). Interessant finde ich Ihre wiederholte Kritik an Wagenknechts Beschreibung, die Mehrheit der Wähler würde die AfD nur »aus reiner Wut« wählen und dass sie »viele davon nicht für Rassisten« halte. Damit würde Frau Wagenknecht die Bedeutung des Rechtsradikalismus »auf Null« schrumpfen lassen. Heißt das im Umkehrschluss, dass die Mehrheit der AfD-Wähler rechtsextrem ist? Dann würde es mich wundern, dass Sie sich noch trauen, für ein linkes Blatt zu schreiben. Dass Rechtsextremismus eine wachsende Gefahr darstellt, stelle ich nicht in Frage, aber reden wir hier zunächst von Wählerzulauf. Die AfD wird finanziell offenbar von vermögenden Wählern unterhalten, aber die Wählermasse sind Frustrierte, Egoisten, Rassisten, Uninspirierte und ja, Protestwähler. Die vielen Prozente bringen Presse, Mandate, steuersubventionierten politischen Einfluss. Sicher keine ideale Demokratie, aber so läuft’s aktuell. Das ist eine Gefahrenpotenz. Warum sollte man nicht versuchen, zumindest jene Wähler zu gewinnen, bei denen noch nicht Hopfen und Malz verloren ist? Oder denken Sie, sie könnten die Wahlergebnisse ändern, indem Sie »Demagogie« schreien? Mir scheint, Sie unterschätzen den sogenannten kleinen Mann. Oder um es mit Ihren (an Wagenknecht adressierten Worten) zu sagen: »Sie nehmen die Menschen (in unserem Land, Anm. der Leser) nicht ernst, sondern wollen sie vereinnahmen und für dumm verkaufen.« Zuletzt noch ein Tritt in Richtung »Aufstehen«, fast schon enttäuscht beigefügt, dass dort keine AfD-Fahnen wehten. Geschenkt. Was nützt uns diese Diskussion, Herr Mellenthin? Da draußen verändern sich Gesellschaft und Menschen, neoliberale Politik schafft Rahmen und Fakten, die Haltungen werden »weltfremd« und die Kämpfe härter. Aber Sie haben immer noch Ihre Dialektik. (...)
Veröffentlicht in der jungen Welt am 12.04.2019.