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Aus: Ausgabe vom 15.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Film

Mehr als Hoffnung

Andreas Goldsteins Filmessay über die DDR »Mein Land will nicht verschwinden«
Von Matthias Reichelt
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»Der Verlust der Zukunft aber verwandelte die Gegenwart in eine Steppe« – Andreas Goldstein

Mein Land will nicht verschwinden« nennt der Regisseur Andreas Goldstein sein sehr persönliches Filmessay über die vor über 35 Jahren so sang- und klanglos untergegangene DDR, mithin das Scheitern des Versuchs, dauerhaft nach zwölf Jahren Naziterror ein sozialistisches und antifaschistisches Deutschland aufzubauen. Eigentlich ist das Land ja schon längst verschwunden, aber je faschisierter die gesamtdeutsche Gesellschaft wird, je stärker der Debattenraum eingegrenzt wird, um so stärker scheint notwendig zu sein, die DDR als »Diktatur« und »Verbrecherstaat« zu dämonisieren und quasi mit dem Faschismus gleichzusetzen. Sozialismus als mögliche Alternative zu dem von allen Parteien vertretenen autoritären Kapitalismus muss dauerhaft ausgeschlossen bleiben. Viele dieser Stimmen stammen aus dem Westen und urteilen über Ostbiographien ohne einen Funken eigener Erfahrungen.

Andreas Goldstein, Jahrgang 1964, formuliert analytisch richtig in seinem hervorragenden Text, der der Montage eindrücklicher Bilder unterlegt ist: »Die Kapitulation des deutschen Sozialismus war beiläufig erfolgt in Form eines Reisegesetzes.«

Andreas Goldstein ist privilegiert aufgewachsen. Sein Vater war Klaus Gysi, der diverse Minister- und Botschafterposten der DDR innehatte, seine Mutter Hochschullehrerin. Gleich nach ein paar Minuten des Filmes, der mit der Meldung über die Grenzöffnung in der »Aktuellen Kamera« beginnt, knüpft Goldstein daran mit Bildern der Novemberrevolution 1918 an. »Als mein Vater am 9. November 1918 in die Schule kam, wurde er wieder nach Hause geschickt. Der Unterricht fiel aus wegen ›Revolution‹. Seitdem hätte das Wort einen guten Klang in seinen Ohren gehabt, sagte er.«

Die SPD unter Friedrich Ebert duldete die Ermordung der revolutionären Anführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht nur, sondern »verband sich mit kaisertreuen Truppen und schlug die Revolution, die gerade beginnen wollte, blutig nieder«. Dies war der zweite große Verrat der Sozialdemokratie, dem sich bis heute zahlreiche weitere anschlossen. Während in der BRD die Zeichen auf Restauration standen und auf vielen Führungsebenen die alten Nazis regierten, hatten die Gründer und Gründerinnen der DDR unter den Nazis schwer zu leiden gehabt. Auch die Eltern von Andreas Goldstein waren darunter: »Am 10. November 1938 sah meine Mutter die Synagoge in Leipzig brennen. Sie machte Abitur und hatte einen jüdischen Freund. Ein Jahr später verließ sie Deutschland. Mein Vater fuhr am 10. November mit dem Rad durch Berlin. Seine Großmutter, sein Onkel, seine Tante starben in Auschwitz. So schrieb sich Deutschland in die Weltgeschichte ein und in die Seelen meiner Eltern.«

Goldstein erzählt, dass er Berlin nie verlassen wollte und dass er sich an die DDR deutlicher erinnert als an die Jahre danach. »Meine Gefühle hausten nicht im Privaten. Sie banden sich an das Ganze.« So kritisch er auch die DDR hinsichtlich der autoritären und dirigistischen Politik betrachtete, der Westen bot für ihn keine Alternative. In klaren Sätzen kann er die positiven Errungenschaften der DDR sehen, ohne ihre Defizite zu verschweigen. »Heute scheint mir, die DDR war vor allem das Abwesende. Kein Kapital, kein Bürgertum, kein Reichtum. Auf diesem Boden wuchsen die Erwartungen. Die Erwartung ist mehr als nur Hoffnung, sie schließt das Verlangen mit ein. Begehren und Forderung zugleich. Es war die Erwartung einer gewandelten Form des Zusammenlebens, einer Freiheit, die kein Kapitalismus bieten kann.«

Weil Goldstein das Positive sehen kann, erkennt er auch die Erosion der Verhältnisse und montiert dazu die Bilder von einem Leipziger-Messe-Rundgang der Staatsführung. Die Berichte über die vermeintlichen Erfolge der DDR und ihre internationale Anerkennung füllten von Jahr zu Jahr in längeren Berichten die »Aktuelle Kamera«. Auf diesem Rundgang begegnete Honecker bereits Detlev Rohwedder und Birgit Breuel, den späteren Chefs der Treuhand, die das Vermögen der DDR an Westfirmen verscherbelten. Für das Ende der DDR zeigt Goldstein metaphorisch Schwarzweißfilmaufnahmen von der Trabrennbahn in Karlshorst mit der riesigen menschenleeren Halle und den Wettschaltern. Ein Bild der Tristesse für einen verlorengegangenen Konkurrenzkampf.

»Erwachsen wurde ich in einer Niedergangsepoche. Auf unmerkliche Weise schien dem Land die Zukunft abhandengekommen zu sein. Wann und wie das geschehen war, blieb mir damals undeutlich. Der Verlust der Zukunft aber verwandelte die Gegenwart in eine Steppe. Die Ansprüche und Hoffnung der Vorangegangenen schienen lebendiger als unsere eigene Gegenwart.«

Auf der großen von Künstlern organisierten Demonstration für eine Erneuerung der DDR am 4. November 1989 sprach Heiner Müller, frei von den Naivitäten des Runden Tisches, warnende Worte über die absehbare Entwicklung: »Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken, die Daumenschrauben sollen angezogen werden, die Preise werden steigen, die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen. Wenn der Lebensstandard für die meisten von uns nicht erheblich sinken soll, brauchen wir eigene Interessenvertretungen. Gründet unabhängige Gewerkschaften.« Man wollte die Warnung nicht hören, manche buhten.

»Mein Land will nicht verschwinden«, Regie: Andreas Goldstein, Deutschland 2025, 92 Min., 3sat-Mediathek, abrufbar bis 4.1.2026

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