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Aus: Ausgabe vom 15.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Zeitschrift

Ruf der deutschen Spalte

Das Kulturmagazin Lettre International feiert seine 150. Nummer
Von Stefan Ripplinger
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Ein Magazin mit komischen Sätzen: »Man kann auch im Westen enttäuscht werden, was doppelt schmerzt, weil man sich hier vor Ungerechtigkeiten sicher wähnte«

Das moralische kommt meist lange vor dem faktischen Ende einer Zeitung oder einer Zeitschrift. Das eine Blatt hat seine Existenz verwirkt, als es die Hungersnot im Gazastreifen bestritt, das andere, als es behauptete, in Berlin errichteten ausländische Banden eine rechtsfreie Zone. Die Springer-Blätter liefern jeden Tag einen guten Grund für ihre baldige Einstellung und bestehen doch wacker fort.

Die Zeitschrift Lettre International, die gerade ihre 150. Ausgabe präsentiert, hat vor 16 Jahren moralischen Bankrott angemeldet. Im Oktober 2009 gab sie die Bühne frei für den damaligen Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin: »Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung.«

Die vage Möglichkeit, das Magazin hätte lediglich den Ungeist der ökonomischen Kaste vor Augen führen wollen, räumte der damalige und heutige Redaktionsleiter Frank Berberich aus. Er nannte Sarrazin eine »gut informierte, rebellische und knorzige Figur, die der Stadt mit ihren unangepassten Einreden nur Gutes will« (Spiegel Kultur, 23.10.2009).

Was sich erst aneinander zu reiben schien – eine liberale, wenn auch betont antikommunistische Zeitschrift und ein rassistischer Zausel –, führte der Elitismus zusammen. Sarrazin sagt in dem Interview von 2009: »Unsere Bildungspopulation wird von Generation zu Generation immer dümmer. Der Anteil der intelligenten Leistungsträger fällt kontinuierlich ab.« Für »leistungsorientiert« hält Lettre in einer Eigenwerbung ihre Leserschaft, ja für wahre »Opinionleader« mit »Entscheidungsvermögen«. Danach zu urteilen, was diese leistungsorientierte und entscheidungsfreudige Bildungspopulation sich beispielsweise in der Jubiläumsnummer bieten lässt, wird sie tatsächlich immer dümmer.

Eine Autorin unter dem Pseudonym Purple Saxifrage beklagt die Hölle im Iran und fährt fort: »Solange Menschen lachen, sind sie noch nicht in der großen Hölle. Wie heißt es bei Bertolt Brecht: ›Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht gehört.‹« Nö, so heißt es nicht bei Brecht, sondern: »Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.«

Nach dieser Empfangsstörung nimmt sich Martin Burckhardt »das kleine Zitat von Fredric Jameson« vor, »wonach es einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«, aber so »klein« oder kurz ist das Zitat auch wieder nicht, denn es lautet vollständig, es habe mal einer gesagt, es sei einfacher, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen (New Left Review, 21/2003). Statt dessen Ende möchte sich Burckhardt lieber den Beginn des Kapitalismus vorstellen und entdeckt ihn im »Räderwerkautomaten«, sprich der Mühle, des 12. Jahrhunderts und bei den Zisterziensern. Sie ersannen eine »minimalistische Architektur«, die »man als Vorwegnahme des architektonischen Grundsatzes ›form is function‹ begreifen kann«, der jedoch bei Louis Sullivan (1856–1924) »Form follows function« lautet.

Ich blättere weiter. Iran und der ehemalige Ostblock sind die Feinde, statt politischer werden apokalyptische Schlachten geschlagen. Goethe, heißt es, plädiere »für eine Akzeptanz des Todes als jenem Schmieröl, das die planetarische Lebensmaschine am Laufen hält«. Und wir glaubten noch, des Lebens goldner Baum sei grün. »In der Morgenfrühe des Regionalzugs nach Erfurt blickte ich in traumverhangene Gesichter, deren Träger nur unwillig die Behaglichkeit der heimatlichen Schlafstatt geräumt hatten.« Aber Vorsicht, liebe Gesichtsträger: »Man kann auch im Westen enttäuscht werden, was doppelt schmerzt, weil man sich hier vor Ungerechtigkeiten sicher wähnte.« Das dürfte der komischste Satz des Heftes sein – und dieser der unheimlichste: »Den Ruf der deutschen Spalte in den Ohren, könnte man Kurs und Richtung verlieren.« Mit seinem Ruf der deutschen Spalte wollte Thilo Sarrazin der Bildungspopulation Kurs, vielleicht auch Richtung angeben, doch sie dreht sich in der planetarischen Lebensmaschine oder im Räderwerkautomaten wie geschmiert immer nur um sich selbst.

»Wunde Weimar«. Lettre International, Nr. 150, Berlin, 138 Seiten, 15 Euro

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