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Aus: Ausgabe vom 15.10.2025, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Volksbegehren

Von Niki Uhlmann
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Viel Arbeit, bislang wenig Ertrag: »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« übergibt Unterschriften (Berlin, 25.6.2021)

Demokraten berufen sich gern auf das Grundgesetz. Dort heißt es: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Gemeint sind damit freilich nur wahlberechtigte Staatsbürger. Fast 30 Prozent ihrer Bevölkerung haben in der BRD nichts zu melden. Der Rest wird periodisch zur Urne gebeten, weiß aber ziemlich genau, dass der Wahlkampf ein einziger Zirkus und der eigene Einfluss verschwindend gering ist. Verlassen können sich auf die Politik nur einige wenige Reiche, wie eine Studie über die »ungleiche Responsivität des Bundestags« 2016 nachwies. Was im Marxismus als Klassenherrschaft kritisiert wird, bedenkt der deutsche Volksmund mit dem nüchternen Resümee: Geld regiert die Welt.

Um den Frust über die Mängel der repräsentativen Demokratie einzuhegen, gestattet die BRD ihrem Staatsvolk, mittels Volksbegehren selbst gesetzgeberisch tätig zu werden, wobei sie ihm allerdings enge Grenzen setzt. Auf Bundesebene, wo sämtliche wegweisenden Entscheidungen getroffen werden, sieht das Grundgesetz direkte Demokratie nur in zwei Fällen vor, nämlich bei der Abstimmung über »Neugliederungen des Bundesgebietes« (Artikel 29) und bei der über eine neue Verfassung (Artikel 146). Das »Fehlen direkter Demokratie« im Bund seit 1949 begründet die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) mit einem dem deutschen Faschismus geschuldeten »Misstrauen gegenüber dem Volk« und der »Sorge um eine Instrumentalisierung durch die KPD«. Vor allem nicht zu links – die KPD wurde 1956 verboten – sollte der neue Frontstaat gegen den Warschauer Pakt sein.

Auf Länderebene, wo auch die Kommunalverfassungen geregelt werden, gewährt der Staat seinen Bürgern etwas mehr direktdemokratischen Spielraum. Dort sind laut BPB zwar sogar »Verfassungsänderungen möglich« – Volksbegehren, die »Haushalt, Steuern oder die Besoldung der Landesbediensteten betreffen«, aber ausgeschlossen. Das hoheitliche Kommando über das gesellschaftliche Mehrprodukt, sprich der Kern des deutschen Imperialismus, bleibt folglich unangetastet. Geregelt sind in föderaler Manier ferner Anforderungen an die Unterschriftensammlungen, die Volksbegehren ins Leben rufen, an die abzustimmenden Gesetze, die häufig aufwendiger Kostendeckungsvorschläge bedürfen, und an die nötigen Mehrheiten.

Unterschieden werden muss zudem zwischen Volksbegehren, die darauf abzielen, Parlament oder Regierung einen Arbeitsauftrag zu erteilen, und solchen, die ein Gesetz an diesen vorbei direkt zur Abstimmung stellen. Letztere bergen die Gefahr, mangels legislativem Know-how vor Gericht wieder kassiert zu werden; erstere können ihr Ziel schlicht meilenweit verfehlen. Mahnendes Beispiel dafür ist die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« (DWE). Ihren »Beschluss zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs durch den Senat zur Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Wohnungsunternehmen« befürworteten 2021 bei einem Volksentscheid 58 Prozent der Abstimmenden. Der Senat richtete eine Kommission ein. Diese stellte die Umsetzbarkeit fest. Seitdem: Stillstand. Darum hat DWE jüngst nachgelegt: »Die erste Fassung unseres Vergesellschaftungsgesetzes ist da – vier Jahre, nachdem die Berliner*innen für die Vergesellschaftung gestimmt haben.«

Da ein Beschluss per Volksentscheid grundsätzlich keinen höheren Rang als ein parlamentarischer hat, ist die Vergesellschaftung auch dann nicht garantiert, wenn das Gesetz den absehbaren Klagen der Kapitalverbände standhält. Der Regierung, die im Regelfall eine Parlamentsmehrheit hinter sich hat, steht frei, es nicht anzuwenden. Umgekehrt können Regierungen Volksabstimmungen für ihre Herrschaft weitaus einfacher mobilisieren als Oppositionelle selbige gegen sie. Dem wesentlichen Manko liberaler Demokratie, der künstlichen Trennung von Ökonomie und Politik, ist damit letztlich nicht beizukommen. Die »Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes durch das Volk und für das Volk«, die Karl Marx in der Pariser Kommune 1871 erkannte, kann eben nur eine »Regierung der Arbeiterklasse« bewerkstelligen.

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